Donnerstag, 17. April 2008

Eveline Widmer-Schlumpf und die Medien

Medien
Szenen einer harmonischen Beziehung

Von Philipp Gut und Andreas Kunz

Wie kritisch und objektiv berichten die Medien über Bundesrätin Eveline Widmer-Schlumpf? Die Widersprüche ihrer Wahl werden beschwiegen, unangenehme Fragen vermieden. Selten war die politische Einseitigkeit der Branche offenkundiger.

Die Pressekonferenz von Eveline Widmer-Schlumpf am vergangenen Freitag war ein Ereignis. Bemerkenswert war nicht, was die fraktionslose SVP-Bundesrätin sagte, sondern was sie nicht sagte – und worüber sie nicht gefragt wurde. Die Szene hatte etwas Irreales: Obwohl der grosse Andrang und die Gespräche unter den Journalisten keinen Zweifel offenliessen, was das brennende Thema sei, hielten sich die Pressevertreter an die Vorgabe des bundesrätlichen Mediensprechers, nur über «Sachthemen» zu reden. Aussen vor blieb die Frage, die die Schweiz derzeit umtreibt: diejenige nach den dubiosen Umständen der Wahl und dem Verhältnis der Bundesrätin zu ihrer Partei – hinter deren Rücken sie sich von den politischen Gegnern ins Amt hieven liess.

Diese neue Form der Hofberichterstattung führte dazu, dass praktisch keine kritischen Fragen gestellt wurden. «Ihr habt den Gottesdienst gestört», sagte nach der Pressekonferenz ein Reporter ironisch. Zu den merkwürdigen Vorkommnissen dieses «Gottesdienstes» gehörte die offenkundige Sympathie für Widmer-Schlumpf – selbst wenn sie Positionen vertrat, für die ihr ausgebooteter Vorgänger Christoph Blocher mit Pech und Schwefel übergossen worden war. Als die Bundesrätin die «Sippenhaft» für die Angehörigen schwerkrimineller jugendlicher Straftäter verteidigte, nickte die fragende Journalistin bei jedem Satz, auf dem Gesicht ein verzücktes Lächeln.

Die seltsamen Rituale dieser Pressekonferenz sind symptomatisch für den Zustand des Schweizer Journalismus. Die nach wie vor bestehenden Ungereimtheiten rund um die Wahl von Widmer-Schlumpf werden verschwiegen. Aus politischen Motiven – der verbreiteten Abneigung gegen die SVP – verzichtet die Branche auf spannende und relevante Geschichten.

Einzig die Sonntagszeitung zeigte mit einem spannenden Blick in das Medienarchiv, wie parteiisch die aktuelle Berichterstattung über die SVP ist. Dieselben Journalisten und Zeitungen, die heute die SVP für ihre Sanktion der abtrünnigen Bundesrätin geisseln, forderten 1993 von der SP ein unbarmherziges Vorgehen in einem ganz ähnlichen Fall. Damals, am 3. März 1993, wählte die Bundesversammlung nicht die offizielle SP-Kandidatin Christiane Brunner, sondern Francis Matthey (der Neuenburger lehnte die Wahl schliesslich auf massiven Druck seiner Partei ab, in den Bundesrat zog Ruth Dreifuss ein). Mattheys Situation entsprach exakt derjenigen von Widmer-Schlumpf: Beide sind von den politischen Gegnern und gegen den Willen der eigenen Partei gewählt worden.

In einem Kommentar in der Sonntagszeitung monierte Roger de Weck kürzlich, die SVP habe «nichts Wichtigeres zu tun, als eine tadellos arbeitende Bundesrätin zur Demission aufzufordern und im Stil und Ton kommunistischer Parteien mit nicht ganz linientreuen Mitgliedern abzurechnen». Der Anspruch der SVP, ihr genehme Bundesräte zu stellen, ziele auf «Parteienherrschaft».

Abenteuerliche Beweisführungen

1993 schrieb der flexible Meinungsmacher de Weck, damals Chefredaktor beim Tages-Anzeiger, mit ähnlicher Wucht das Gegenteil: Der von den SP-Gegnern gewählte Matthey dürfe «die Wahl nicht annehmen»: «Eine Partei, die sich dermassen malträtieren liesse, gehört nicht mehr in den Bundesrat.» Die SVP fand das im letzten Herbst auch, aber offensichtlich gelten für sie andere Massstäbe. Dass sie sich nicht «malträtieren» lässt, macht sie für de Weck zur «schlechten Verliererin».

In der Tribune de Genève konnte man vor 15 Jahren lesen, die «classe politique» verliere jede Glaubwürdigkeit, wenn sie nicht die offizielle SP-Kandidatin wähle. Es sei traurig, schrieb der Nouveau Quotidien, wie sich Sprengkandidat Matthey für das «Manöver» hergegeben habe. Wenn er die Würde seiner Partei bewahren wolle, müsse er sich zurückziehen. SP-Parteipräsident Hubacher liess im Sonntagsblick verlauten, die Partei werde «dieses Diktat nicht annehmen». Falls Matthey sich widersetze, sei er «nicht mehr offizieller SP-Bundesrat». Ebenso zahlreich waren die Stimmen, die der SP den Gang in die «Opposition» empfahlen, falls die offizielle Kandidatin scheitere.

Ganz anders sah es schon damals die Weltwoche. Bundeshausredaktor Urs Paul Engeler schrieb ein flammendes Plädoyer für die offizielle SP-Kandidatin Brunner. Der Entscheid der bürgerlichen Mehrheit sei eine «schallende Ohrfeige für das Volk» und kompromittiere «die Zukunft unseres Regierungssystems».

Die Einschätzung hat Bestand, und sie ist heute so aktuell wie damals. Wer nicht mit zwei Ellen misst, muss bei den Bundesratswahlen 2007 zu denselben Resultaten kommen wie 1993.

Doch dies ist nicht der Fall. Wie schief die Lage der Schlumpf-Akklamatoren ist, zeigte das Medienereignis des Wochenendes: die -Demonstration am vergangenen Freitag auf dem Bundesplatz. Die Rede war von «Zerstörung der politischen Kultur» oder «fehlendem Respekt vor den politischen Institutionen» vonseiten der SVP. Die Medien, die von «Hetzjagd», «Trommelfeuer» oder «Geiselhaft für Widmer-Schlumpf» sprachen, schaufelten über das Wochenende seitenweise Platz frei für die abstrusesten Nazi-Vergleiche.

Kein einziger Journalist interessierte sich in den zahlreichen Interviews mit Widmer-Schlumpf für die offenen Fragen und Widersprüche. Dafür durfte die neue Volksheldin ausführlich die «absurde Verschwörungsthese» des Dok-Films des Schweizer Fernsehens beklagen. Den Autor des Films rückte die NZZ am Sonntag mit einer abenteuerlichen Beweisführung in die Nähe «rechtsbürgerlichen» Gedankenguts (die Höchststrafe im medialen Mainstream), machte ihn verantwortlich für die «Hetze gegen Widmer-Schlumpf» und mokierte sich, dass er «jetzt den Unschuldigen mimt».

Doch bis heute bestehen massive Widersprüche in drei entscheidenden Punkten. Erstens: Warum waren die politischen Gegner der SVP sicher, dass Widmer-Schlumpf die Wahl annehmen würde, wenn doch die Bundesrätin beteuert, nie eine Zusage gemacht zu haben?

CVP-Präsident Christoph Darbellay sprach im Dok-Film von «soliden Garantien» für die Annahme der Wahl, und im gleichen Anflug von Eitelkeit machte SP-Fraktionschefin Ursula Wyss klar, dass sie über die Absichten von Widmer-Schlumpf besser informiert gewesen war als SVP-Parteipräsident Ueli Maurer. Als dieser am Abend vor der Wahl Eveline Widmer-Schlumpf anrief, sagte sie ihm, er müsse «überhaupt keine Angst haben, dass sie so eine Wahl annehmen würde».

Offensichtlich getäuscht

Am selben Abend wusste SP-Fraktionschefin Wyss von diesem Telefonat. Das lässt nur den Schluss zu, dass Widmer-Schlumpf die SP-Strategen, die mit Blochers Abwahl der SVP Schaden zufügen wollten, umgehend benachrichtigte. Offensichtlich täuschte Widmer-Schlumpf ihren eigenen Parteipräsidenten, während sie mit dem politischen Gegner kooperierte. Dies belegt eine Aussage von Drahtzieher Andrea Hämmerle in einem Interview mit dem österreichischen Magazin Der Standard. Auf die Frage, ob es schwer gewesen sei, Widmer-Schlumpf zur Wahl zu überreden, sagte der SP-Nationalrat: «Ich habe sie nicht überreden müssen, sondern ihr lediglich vorgeschlagen, zu kandidieren. Sie hat sich selbst entschlossen, es zu versuchen.» Diesen Entschluss stellte Widmer-Schlumpf gegenüber ihrem Parteipräsidenten Ueli Maurer in Abrede. Auch Toni Brunner und Christoph Mörgeli sagte sie gemäss «Rundschau» des Schweizer Fernsehens, «sie werde das nicht annehmen, es komme für sie nicht in Frage, Bundesrätin zu sein».

Der zweite Widerspruch: Wie konnte Widmer-Schlumpf davon ausgehen, dass sie die einzige fraktionslose SVP-Vertreterin im Bundesrat sein würde, wo doch Samuel Schmid dieselbe Sanktion drohte? Widmer-Schlumpf erzählte, sie sei am Wahltag in Schmids Büro gegangen und habe überraschend erfahren, dass Schmid aus der Fraktion ausgeschlossen worden sei. In der Südostschweiz sagte sie am 16. Dezember 2007: «Ich dachte, nur ich wäre fraktionslos. So ergab sich eine neue Ausgangssituation. Es wäre unmöglich gewesen, wenn von zwei SVP-Bundesräten nur einer zur Fraktion gehört hätte. Insofern hat Samuel Schmid meinen Entscheid beeinflusst.»

Tatsache ist, dass seit Monaten der Entscheid der SVP für den nun eingetretenen Fall einer Abwahl Blochers vorlag, auch Schmid aus der Fraktion auszuschliessen. Zudem wurde Widmer-Schlumpf einige Tage vor der Wahl noch einmal schriftlich über die Beschlüsse der Partei informiert.

Der dritte Widerspruch: Widmer-Schlumpf und Hämmerle sprechen von einer unterschiedlichen Anzahl von Kontakten, die sich überdies stetig vergrössert hat.

Zuerst berichtete die Bundesrätin von je einem persönlichen Treffen, einem kurzen Telefongespräch und einem SMS von Hämmerle. Dieser hingegen erwähnte in einem Interview mit der NZZ am Sonntag fünf Kontakte.

Widmer-Schlumpf hätte die Möglichkeit gehabt, auf dem «heissen Stuhl» der «Rundschau» beim Autor des Dok-Films Klarheit zu schaffen. Stattdessen wich sie der Auseinandersetzung aus und ging zum Tessiner Fernsehen, wo sie ohne kritische Gegenfrage über ihre angebliche Unschuld und ihren Durchhaltewillen referieren durfte. Doch auch hierbei verstrickte sie sich weiter. Sie erwähnte ein zusätzliches, bisher unbekanntes Telefonat mit Hämmerle am Dienstagabend vor der Wahl. Überdies unterstellte sie Parteipräsident Maurer, er habe zwei Gespräche mit ihr verschwiegen. Auch dies stimmt nachweislich nicht: Im SF-Dokumentarfilm redet Maurer von beiden.

Das Fazit bleibt unbefriedigend. Aus dem Labyrinth von Falschaussagen, mit denen sie Parteikollegen und Öffentlichkeit täuschte, hat die Bundesrätin bis heute keinen Ausgang gefunden. Angesichts der fortgesetzten Unwahrheiten und des Umstands, dass sei ihre eigene Partei getäuscht hat, ist es eine der grossen Ironien der Saison, wenn Widmer-Schlumpf derzeit als Schutzheilige des «Anstandes» und der «politischen Kultur» angerufen wird. Die medialen Sympathien sind klar und unverrückbar verteilt. Heilige Einfalt.

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