Dienstag, 6. November 2012

Forensiker im neuen Strafrecht

Vom Schuldstrafrecht zum vorsorglichen Wegschliessen „Gemeingefährlicher“

Peter Zihlmann
November 2012
In den letzten zwanzig Jahren hat sich unser Strafjustizsystem rapid verändert, immer mehr hat es sich losgekoppelt vom System, das Freiheitsstrafe dem Täter gemäss dessen Schuld an begangener Tat zumisst. Der Massstab war seit Jahrhunderten das Verschulden des Täters, das in der Tat und aus den Motiven, weswegen es zur Tat kam, zum Ausdruck kommt. Das Gesetz gab lediglich einen weiten Strafrahmen vor. Seit dem 19. Jahrhundert ist Strafzumessung im Einzelfall verbunden mit einer Innenschau, einer Analyse der Psyche des Täters. Strafe setzte Schuld und daher auch die Schuldfähigkeit des Täters voraus. Noch immer gehört es zur richterlichen Norm, einen Psychiater im Zweifelsfall die Schuldfähigkeit eines Delinquenten vorgängig abklären zu lassen. Die Frage des Richters an den psychiatrischen Gutachter war gemäss gesetzlicher Vorgabe: Konnte der Täter das Unrecht seiner Tat einsehen und hatte er auch die Fähigkeit, gemäss dieser Einsicht zu handeln? Fehlte ihm die eine oder andere dieser Fähigkeiten, galt er als schuldunfähig und durfte nicht bestraft werden. Er wurde als Geisteskranker oder Geistesschwacher in einer Klinik behandelt, meist in einer geschlossenen Abteilung, also unter Zwang. Es gibt nach wie vor Abstufungen der Zurechnungsfähigkeit, diese kann auch bloss vermindert sein. Das hat Milderung der Strafe zur Folge.
Das oberste Prinzip des Strafrechts war die ausgleichende Gerechtigkeit, weil begangenes Unrecht ausgeglichen und die Strafe massvoll nach dem Grad des Verschuldens und der Zurechnungsfähigkeit zugeteilt werden sollte. Der Täter sollte durch die Strafe erklärtermassen nicht nur bestraft, sondern gleichzeitig auch gebessert das heisst resozialisiert werden; war er geisteskrank sollte er aufgrund angeordneter Massnahmen psychiatrisch behandelt werden.
Gegen das Ende des letzten Jahrhunderts kam durch die Entwicklung der Gesellschaft und ihrer Techniken eine neue Sicht und Idee auf. Schwere Gewalt- und Sexualstraftaten sollten nicht nur bestraft, sondern zum vorneherein durch Wegschliessung der möglichen Täter verhindert werden. Gewalt- und Sexualtaten erregten schon immer das öffentliche Interesse. Durch die Massenmedien wurde es möglich, die Angst der Bevölkerung und den Volkszorn durch die Darstellung solcher Verbrechen zu entfachen. Der Ruf nach mehr Strafverfolgung, härterem Zugriff, Ausbau des Zugriffsinstrumentariums entsprechend der technischen Entwicklung – Stichwort Lauschangriff und verdeckte Ermittlungen durch V-Personen – war die logische Folge. Zudem konnte daraus politisches Kapital geschlagen werden: der Begriff der inneren Sicherheit als Polizeiaufgabe trat in den Vordergrund. Kriminalität sollte verhindert werden. Die vorgenommene Erhöhung des Etats an Polizeieinsatzkräften allein konnte keinen durchschlagenden Erfolg bringen.
Die Idee, Verbrechen zu verhindern wurde so umgesetzt, dass der Einmal-Straffällig-Gewordene auf seine Gefährlichkeit für die Gesellschaft untersucht und bei positivem fachärztlichem Befund unabhängig von seinem Verschulden weggeschlossen werden konnte. Der Begriff der Gemeingefährlichkeit wurde in der Schweiz im Anschluss an den Mord eines im Hafturlaub Rückfälligen (sogenannter Zollikerberg-Mordfall) allgemein bekannt gemacht. Solche Täter sollten auf sehr lange Zeit verwahrt werden, möglichst für immer. Auf Bestrafung wird dennoch nicht verzichtet. Also müssen solche Täter ihre Strafe zuerst absitzen, um anschliessend zwangstherapiert oder – falls sich das als undurchführbar erweisen sollte – verwahrt zu werden. Da es nicht mehr um Schuld- und Strafzumessung geht, sondern um Wahrung der inneren Sicherheit, ist der Bezug zur Gerechtigkeit überhaupt in Frage gestellt: Der gefährliche Täter muss der Gesellschaft das Opfer seiner Freiheit bringen, damit diese sicher bleibt.
Aus solcher Praxis heraus und ohne gesetzliche Grundlagewurde eine Institution zur Bestimmung der Gemeingefährlichkeit der Delinquenten geschaffen, die sogenannte Fachkommission zur Überprüfung der Gemeingefährlichkeit von Straftätern. Darin nehmen Beamte Einsitz, die in irgendeiner Funktion mit dem bisherigen Strafvollzug zu tun haben: Gefängnisdirektoren, Staatsanwälte, Strafrechtler bis hin zu Beamten aus dem Strafvollzug. Die wichtigste Funktion in diesen Dunkelkammern übernehmen wie selbstverständlich die Psychiater. Die Fachkommissionen erteilten „unverbindliche Empfehlungen“ zuhanden der Strafrichter. Die Mitglieder dürfen den Täter weder behandelt haben noch ihn nur kennen. Es wird regelmässig aufgrund der Akten entschieden; auf Antrag kann der Betroffene ausnahmsweise von der Kommission angehört werden. Die Einbahnstrasse für Verwahrungen ist signalisiert. Der Damm der Rechtsstaatlichkeit ist gebrochen.
Die Psychiater scheinen sich nicht daran zu stossen, dass sie in den Dienst eines sich technokratisch organisierenden Polizei- und Wegsperrapparates gestellt werden. Geblendet durch die ihnen zugeteilte Macht entwickeln die besten Forensiker sogar Systeme, die künftiges, deliktisches Verhalten eines Menschen, denen sie eine Störung attestieren, angeblich voraussagen können, mit höherer Wahrscheinlichkeit als Meteorologen das Wetter. So verlieren Menschen ihre Freiheit auf Jahrzehnte. Die Forensiker scheint es nicht zu kümmern, dass sie ihrer ärztlichen Aufgabe entrückt und als Vollzugsgehilfen des Sicherungssystems eingesetzt werden; einige unter ihnen sonnen sich öffentlich in der Aura ihrer Macht und verraten so ihre eigene schwere narzisstische Persönlichkeitsstörung. Sie taxieren die ihnen vorgeführten Menschen und entscheiden über deren Freiheit aufgrund ihrer Prognose. Sie sind zu modernen Schamanen geworden. Formell geben sie nur eine Empfehlung ab, anderseits fühlt sich der Richter durch die Empfehlung gebunden und entlastet. Ein von aussen unangreifbares System. Wer keinen Charakter hat, hat wenigstens ein System.
Unabhängig und selbständig arbeitende Psychiater, die dieses System kritisieren und im Auftrag der Verurteilten abweichende Stellungnahmen im Einzelfall abgeben, werden als Nicht-Forensiker, als halbe Laien verlacht und deren Gutachten unbeachtet gelassen. Nur der Forensiker ist ein Forensiker ist ein Forensiker, andern wird kein Fachverstand zugebilligt. Ein perfektes, weil selbstreferentielles System mit Monopolcharakter. Die Forensiker sprechen nicht mehr von Geisteskranken oder Psychopathen, das ist gegen die Political Correctness. Das neue Zauberwort ist die „Persönlichkeitsstörung“, ein Begriff kühn zwischen Krankheit und Kriminalität hineingezwängt zur Sicherung der inneren Sicherheit. Das Mittel derartige Störenfriede wegzusperren ist das Gefährlichkeitsgutachten eines Forensikers. Der als mangelhaft erkannte Einzelne, der Gemeingefährliche, hat die Konsequenzen zu tragen. Ihn trifft keine Schuld, aber er hat die Tat zu verantworten und die Massnahme trifft ihn schlimmer und härter als jede Strafe. Sie ist ohne zeitliches Ende, unangemessen, unverhältnismässig zu seinem Tun, schlicht endlos und lässt ihm keine Hoffnung. Einzig die verräterische Tür zur Therapie scheint als letzter Ausweg noch offen, solange der Gutachter ihm nicht Untherapierbarkeit attestiert hat. Dem Gutachter ist „der Klient“ auf Gedeih und Verderb ausgeliefert. Das Machtgefälle zwischen den beiden ist kaum kleiner als jenes zwischen Herr und Knecht.
Das Massnahmenrecht wurde 1994/2007 neu konzipiert. Der Begriff der Geistesschwachen oder Geisteskranken verschwand ebenso wie jener der Psychopathen oder Gewohnheitsverbrecher alter Schule. Es gibt jetzt vor allem neu und zusätzlich Täter mit Persönlichkeitsstörungen, eingeteilt in ein Klassifikationssystem der Psychiater, das alles umfasst vom Schwachsinn bis zum Wahnsinn nach Eugen Bleuler und Ernst Kretschmer, den „Altmeistern“ der Psychiatrie. Im Einzelfall gehen die „schweren Persönlichkeitsstörungen über jeden Krankheitsbegriff weit hinaus. Die Forensiker sprechen nun nicht mehr von Patienten, sondern von Klienten. Ob krank oder nicht spielt keine Rolle mehr, Hauptsache, der als schwer gestört Taxierte kann weggesperrt werden. Diesen zynischen Zugang nennen die Forensiker „pragmatische Problemlösung“.
Das vom Strafrichter ausgesprochene Strafmass ist für die zusätzlich zu verhängende Massnahme unerheblich. Der Grundsatz der sonst so hoch gehaltenen Rechtskraft eines Urteils wird gebrochen. Der Psychiater kann aufgrund seiner Beurteilung Verwahrung empfehlen und der Richter wird sie jederzeit als „nachträgliche Verwahrung“ nach deutschem Vorbild verfügen. Jedes Strafurteil wird durch diese Öffnung zur Psychiatrie in seinem Strafmass unsicher und nach oben hin ins Unabsehbare erweitert. Es ist nur noch ein Fetzen Papier in der Hand der Psychiater und des Strafvollzugs. Die Frage an den Menschen ist nicht mehr mit nach rückwärts gewendetem Blick in die Vergangenheit an ihn selbst gestellt. Sein mögliches, wahrscheinliches Verhalten in der Zukunft wird aufgrund seiner Persönlichkeitsstruktur von einer Fachperson eingeschätzt. All das kann geschehen, solange der Anlasstäter im Straf- oder Massnahmenvollzug ist und – wie die Gerichtspraxis zeigt – sogar noch danach!
Das Institut der nachträglichen Verwahrung wurde aus praktischen Gründen scheinbar beiläufig eingeführt. Solange ein Täter im Straf- oder Massnahmevollzug festsitzt, kann der Richter in Abänderung seiner rechtskräftigen Urteile ohne neue Tat nachträglich Verwahrung anordnen. Die Täter sehen sich nach Ende der Strafe plötzlich und ohne jede Schuld mit einer von ihnen keineswegs verschuldeten Fortsetzung des Freiheitsentzuges – diesmal ohne Zeithorizont – konfrontiert.
Der Weg zum lebenslänglichen Weggesperrtwerden erfolgt oft zuerst unauffällig durch die richterliche Anordnung einer harmlos anmutenden ambulanten Psychotherapie.
Von Gesetzes wegen ist diese jederzeit umwandelbar in eine stationäre Therapie, wenn Probleme entstehen. Dieser Drohfinger kann vom Therapeuten gegenüber Betroffenen jederzeit erhoben werden. Die Umwandlung in eine stationäre Massnahme, jeweils um drei gegenüber Süchtigen bzw. fünf Jahre gegenüber Personen mit schwerer Persönlichkeitsstörung, wird verständlicherweise in der Praxis als „kleine Verwahrung“ bezeichnet. Eine hilfreich erscheinende, wenig einschneidende Massnahme wird nachträglich ohne neues Delikt zu einem Freiheitsentzug ohne Ende. Eine maximale Dauer, ein Ende, ist nicht festgelegt. Es gibt sie nicht.
Dies alles ist mehr als nur eine Fehlleistung des Gesetzessystems. Es ist ein epochaler Irrtum. Mir sind Fälle bekannt, wo noch nach 20 Jahren Therapien fortgeführt werden sollen (z.B. die Fälle Hugo Portmann und Hans-Peter Eggenberger). Gigantische Therapiekosten werden zulasten der Krankenkassen und Steuerzahler angehäuft.
Der Mensch wechselt so vom Strafrichter in die Gewalt der Psychiater, die sich in den Dienst des Strafvollzugs gestellt haben. Verhinderung künftiger Verbrechen ist das Ziel. Die Unschuldsvermutung ist ausser Kraft gesetzt, nicht nominell, aber im Ergebnis. Es braucht keine Schuld, sondern nur vom Gutachter attestierte „Gefährlichkeit“ des Täters. Die Rechtskraft des einmal über den Täter und seine Anlasstat ausgesprochenen Urteils lähmt den Psychiater, dieses „Vorurteil“ bei der Beurteilung der Person grundsätzlich in Frage zu stellen. Wer seine ihn angelastete Tat weiterhin leugnet, ist ein Hartgesottener, ein Widerspenstiger, ein Renegat, er ist uneinsichtig, ohne Reue und ohne Krankheitseinsicht und gilt als untherapierbar: Unschuld als Systemfehler und Restrisiko! Ihm droht Zwangsmedikation und vor allem ganz konkret Verwahrung – ihm, dem vielleicht wirklich Unschuldigen! Soweit wollen Forensiker gar nicht denken; sie dürfen es aus der Sicht des juridischen Systems auch gar nicht.
Gerade deswegen ist und bleibt das grösste Problem dieses Systems der Nicht-Geständige (vergleiche dazu „Der Fall Hassan Mansour“). Wer sich der Therapie widersetzt, namentlich weil er bestreitet, die Tat begangen zu haben, gilt bei hartnäckiger Weigerung als nicht therapierbar. Der Widerspenstige hat seine letzte Chance in den Augen des Forensikers verspielt und wird verwahrt. Das System ist logisch geschlossen und wird denn auch von sportlich-aggressiv veranlagten Forensikern durchgeboxt ohne Rücksicht auf Verhältnismässigkeit, Verlust des Augenmasses und der Mitmenschlichkeit. Das alles geht leicht von der Hand der Machthaber: Der Therapeut empfiehlt eine Massnahme, der überlastete Richter segnet sie ab und einer von ihnen unterzeichnet als erster das Urteil. Das ist noch kein fertiger Entscheid und zudem liegt eine als verbindlich empfundene Empfehlung der Fachkommission vor. Schliesslich unterzeichnen die andern Richter mit. Ein klarer Fall. Hauptsache bleibt zudem, der Störenfried wird unschädlich gemacht und es kann nichts passieren, was die Öffentlichkeit gegen das System und die Amtsträger aufbringen könnte. Es besteht immer eine geheime Verbindung zwischen Führung und Geführten, zwischen Führer und Volk.
Die Richter passten sich dem neu entstandenen Sicherheitsapparat erstaunlich widerstandlos an und dienten ihm zu und folgten ausnahmslos den Empfehlungen der Fachkommissionen und Forensiker. Allzu willfährig verhafteten sie Täter, die ihre Strafe oder Massnahme bereits abgesessen hatten oder liessen sie selbst nach Ablauf der Strafverbüssung nicht mehr in Freiheit. So scheint es nicht einmal mehr nötig zu sein, für rechtzeitige richterliche Verlängerung der Massnahmen zu sorgen. Die einmal Verurteilten werden vorsorglich in Haft behalten. Als Deckmantel diente der neu geschaffene Begriff des sogenannten „Nachverfahrens“ oder der Sicherungsmassnahme zur Durchführung einer in Zukunft zu erwartenden Massnahme. Der Erfindungsgeist der Richter war plötzlich beachtlich angeregt. Die gesetzliche Grundlage hauchdünn und der Eingriff in den Kernbereich der Persönlichkeitsrechte des Betroffenen in eklatantem Widerspruch zum Grundrecht. Das Rechtsgut der Freiheit war für Einmal-Straffällig-Gewordene abgeschafft. Das Bundesgericht segnete den menschenrechtswidrigen Freiheitsentzug mutlos ab. So kam es im Jahr 2010 zur Verurteilung der Schweiz im Fall Borer durch die EMRK-Richter in Strassburg. Daraufhin stellt das Bundesgericht die Rechtswidrigkeit der Haft in solchen Fällen zwar fest. Aber es fällt niemandem auch nur im Traum ein, den Unrechtmässig-in-Haft-Behaltenen in die Freiheit zu entlassen. Einzig entscheidende Tatsache bleibt für das Gericht, dass der Verhaftete eine Gefahr für die Öffentlichkeit darstellt. Durch eine solche Haltung bricht jeder Rechtsschutz des Einzelnen in sich zusammen. Der Rechtsstaat Schweiz ist schwer beschädigt. Mit wenigen Ausnahmen (z.B. Günter Stratenwerth und Peter Albrecht, beide in Basel) liessen sich auch die Rechtswissenschaftler populistisch in den Dienst der Ideologien der Polizei- und Sicherheitsdepartemente stellen.
Die Medien realisierten rasch, dass die Auflagenzahl und Aufmerksamkeit des Lesers und der Öffentlichkeit besser zu steigern waren, wenn der Volkszorn, der sich gerne an schrecklichen Verbrechen entzündet, durch Darstellung der Täter als Unholde, Sexmonster und Teufel als wenn sie auf den Abbau der fundamentalen Freiheitsrechte im Rechtsstaat hingewiesen hätten. Erst wenn der Einzelne direkt oder ein naher Verwandter oder Freund von ihm von der Strafsucht oder dem Sicherheitsfanatismus der Gesellschaft erfasst wird, realisiert er, welche Schäden diese Raserei angerichtet hat. Die Medien haben ihr Wächteramt als vierte Staatsgewalt auf weiten Strecken vernachlässigt und peitschen rücksichtslos auf die Richter ein und nehmen sie in Geiselhaft, sobald ein Rückfall in die Kriminalität ruchbar wird. Die Richter, welche nicht drakonisch hart bestrafen oder auf Lebenszeit verwahren werden als lasch, mutlos oder gar als Mitschuldige angeprangert. Ihre massvollen und mit Augenmass zugemessenen Strafen werden von Journalisten gerne als „Kuscheljustiz“ verächtlich gemacht. Bei Rückfalltaten wird sogar versucht, jene, die einem Hafturlaub oder einer (meist bedingten) Entlassung zugestimmt haben, zur Verantwortung zu ziehen wegen fahrlässiger Tötung, falls es dazu gekommen ist.
Diese Schlaglichter auf die heutige Situation des Straf- und Massnahmerechts zeigen auf, dass zurzeit ein Übergang vom seit Jahrhunderten gefestigten Schuldstrafrecht zum präventiven Wegsperren als Polizeimassnahme zur Aufrechterhaltung der inneren Sicherheit stattfindet. Die Öffentlichkeit scheint nicht bemerkt zu haben, dass es sich um einen eigentlichen Paradigmenwechsel handelt. Das Recht fragt nicht mehr danach: Was hat du getan? Wie schwer wiegt deine Schuld? Aus welchen Motiven hast du deine Tat begangen? Die neue Frage lautet: Wie gefährlich ist dieser Mensch? Die Antwort muss die Fachperson, die Kennerin der menschlichen Seele geben, der Psychiater. Vor ihm verblasst die einmal real verübte Tat des Verbrechers zur blossen Anlasstat, an die sich sein alles entscheidende Gutachten eher beiläufig anschliesst. Das hat schwerwiegende Folgen.
Wir verlieren aus den Augen, dass sich ein solches Wegschliesssystem von jenem einer Diktatur oder einem totalitären Staat nicht mehr grundlegend unterscheidet. Menschen verlieren ihre Freiheit, nicht weil sie etwas getan haben, sondern weil sie als gefährlich eingestuft werden, also weil sie in Zukunft etwas tun könnten. Das ist letztlich Gesinnungsstrafe. Und wir als Volk schlucken das alles, weil es so gut institutionalisiert im Gewand der Wissenschaftlichkeit daherkommt. Nur weil die Menschen, die in den Gefängnissen und geschlossenen Anstalten auf Vorrat in Haft gehalten und zwangstherapiert werden, keine Stimme haben, funktioniert das System nach aussen hin. Immerhin dringt durch die Gefängnisdirektion und aus deren Umfeld genügend nach draussen, damit jeder verantwortliche Mensch das Unrecht, das heute an diesen Menschen geschieht, wahrnehmen kann. Aber wen interessiert das heute? Kaum je hat sich eine Gesellschaft für das Unrecht ihrer eigenen Zeit gekümmert, während sie immer wieder sich entschuldigt für das Unrecht vergangener Generationen – ein schwacher Trost für die unter dem System Leidenden.
Damit ist eine neue Stufe der Expertokratie erreicht worden. Gleichzeitig ist es ein Rückfall in überwunden geglaubte Abgründe und Schreckenszeiten. Der Mensch wird wieder vermessen wie seinerzeit gestützt auf die Erkenntnisse durch Johann Caspar Lavater nach seiner Lehre der Physionomik von Cesare Lombroso im vorletzten und zu Beginn des letzten Jahrhunderts, der nach der Schädelform und der Ausformung von Nase und Stirn den geborenen Verbrecher zu erkennen glaubte. Die Technik erlaubt es jetzt, tiefer in den Menschen zu dringen, mit Hightech unter seine Schädeldecke zu kriechen. Gleichzeitig wird dem Volk vorgegaukelt, die Psychiatrie könne eine zuverlässige Gefährlichkeitsprognose über einen konkreten Menschen abgeben. Sie wird zur exakten Wissenschaft hochstilisiert, um zu rechtfertigen, dass Menschen aufgrund solcher Gutachten ihre Freiheit auf lange Jahre, meist für immer verlieren können. Mit Computersystemen werden Checklisten erstellt und einem pseudowissenschaftlichen Brimborium wird exaktes Wissen über zukünftiges Verhalten dieser Probanden vorgetäuscht wie z.B. mit dem Forensisch-operationalisierten-Therapierisiko-Evaluationssystem FOTRES des Frank Urbaniok in Zürich. Dabei können Prognose des menschlichen Verhaltens und die darauf fussenden Zwangsmassnahmen immer nur eines sein: Blick in die Glaskugel der Wahrsagerin oder menschliche Hybris und kaltes technokratisches Ausschalten des als minderwertig oder mangelhaft erkannten Menschenmaterials mittels der Triage. Wir haben diese Systeme in der ersten Hälfte des vergangenen Jahrhunderts aufs Schaurigste erlebt. Wieder scheinen sich Viele nach dieser Scheinsicherheit einer - diesmal nicht reinrassigen – aber wenigstens von gefährlichen, gestörten Persönlichkeiten gesäuberten Gesellschaft, zurückzusehnen. Das Problem eines solchen Systems ist es nicht, dass es immer wieder in Einzelfällen zu belegbaren Justizirrtümern kommen wird. Selten wird sich das eindeutig beweisen lassen. Das Problem ist umfassender. Wir beurteilen nicht mehr die Taten, sondern wir unterziehen die Straftäter einer eigentlichen Selektion mit Blick auf ihr zukünftiges, von Forensikern eingeschätztes Verhalten. Das ist ein Rückfall in überwunden geglaubte Abgründe. Die Forensiker, die sich anheischig machen, die Wahrscheinlichkeit des Rückfalls ihrer Klienten in Delinquenz vorauszusehen, sehen nicht einmal ihren eigenen Rückfall in schlimmes, ideologisches Denken und Handeln.
Wie konnte es nur zu diesem Rückfall in die alte Barbarei kommen, zu versuchen die Bösen aus dem gesunden und guten gesellschaftlichen Körper zu entfernen?