Freitag, 29. Februar 2008

Die Schweiz anerkennt einen "Polykriminellen Multifunktionsraum"

Kosovo
«Polykrimineller Multifunktionsraum»

Von Andreas Kunz

In einem vertraulichen Bericht analysieren Geheimdienste, Diplomaten und Militärs düster die Lage im Kosovo. Das Gebiet wird regiert von der Mafia. Alle Aufbauversuche sind gescheitert. Eine verfrühte Unabhängigkeit ist kontraproduktiv und gefährlich.

Gestützt auf mehr als 70 Experteninterviews, Fachliteratur und interne Berichte zieht das Berliner Institut für Europäische Politik im Auftrag der deutschen Bundeswehr Bilanz über die Aufbauarbeit im Kosovo. Die detaillierte Situationsanalyse, erschienen 2007, ist «nur für den Dienstgebrauch» bestimmt und vermittelt ein schonungsloses Bild der Lage.

Als «clear and present danger» bezeichnen die Autoren die organisierte Kriminalität und die «grassierende» Korruption. Trotz sieben Jahren Aufbauarbeit seien Drogen-, Menschen- und Waffenhandel, Diebstahl, Raub und Autoschieberei die einzigen wachsenden und profitablen Wirtschaftssektoren des Landes. Der Umfang der Mafia-Aktivitäten am kosovarischen Wirtschaftskreislauf gelte als «astronomisch»: Nach konservativen Schätzungen beläuft sich der Tagesumsatz der Mafia auf rund 1,5 Millionen Euro oder 550 Millionen Euro im Jahr. Dies entspricht einem Viertel des gegenwärtigen Bruttosozialprodukts, das durch enorme internationale Gebertransfers künstlich hochgehalten wird. Das Kosovo diene ausserdem als Rückzugsort für kriminelle Akteure und habe sich zu einem «polykriminellen Multifunktionsraum» entwickelt, in dem im grossen Stil internationales Schwarzgeld gewaschen werde. Als Beispiel erwähnt wird das kosovarische Tankstellensystem. Obwohl für das Verkehrsaufkommen weniger als 150 Tankstellen genügten, existieren gegenwärtig mehr als 400 davon.

40000 offene Strafverfahren

Verschärft hat sich in den vergangenen zwei bis drei Jahren auch die Korruption. Sie reicht von den «üblichen» Schmiergeldzahlungen bis hin zu systematischen Bestechungs- und Einschüchterungsversuchen gegenüber Richtern und Staatsanwälten. Die meist jungen, schlecht ausgebildeten und unerfahrenen Richter verdienen schlecht, wissen um die Folgenlosigkeit des eigenen korrupten Verhaltens und sind angesichts der vielen Gewalttaten komplett überfordert. Mittlerweile stapeln sich mehr als 40'000 offene Strafverfahren – Korruptionsfälle kommen jährlich nur zwischen 10 und 15 vor Gericht. Selbst die mögliche Einbeziehung internationaler Richter und Staatsanwälte hat bisher nicht zur juristischen Aufarbeitung «allseits bekannter Verbrechen» von prominenten Mafiagrössen geführt, da Aussagewillige «automatisch ein hochattraktives Attentatsziel bilden».

Die Etablierung rechtsstaatlicher und demokratischer Strukturen wird durch den «Kanun», ein mündlich überliefertes Gewohnheitsrecht aus dem 15. Jahrhundert, im «Keim erstickt». Im Mittelpunkt dieses «pseudojuristischen Ordnungssystems», das auf dem Prinzip der Grossfamilie und Altersautorität aufbaut, stehen die Begriffe «Besa» (Ehre) und «Gjakmarria» (Blutrache). Dieses «gewaltlegitimierende Ehrkonzept» ist in der Bevölkerung tief verankert und werde als «Gesetz über den Gesetzen» zur Anwendung gebracht.

Statt bei Richtern und Behörden liegt die Machtausübung bei den albanischen Grossfamilien («Fis»), die zwischen 60 und 100 Personen umfassen und zusammen mit anderen «Fis» jeweils einen Clan bilden. Momentan sollen zwischen 15 und 20 solcher Clans um Einfluss im Land ringen. Sie besetzen «nahezu alle wesentlichen gesellschaftlichen Schlüsselpositionen» und zählen auf «engste Verbindungen zu führenden politischen Entscheidungsträgern». Namentlich belastet wird im Bericht der aktuelle Ministerpräsident Hashim Thaci. «Keyplayer» wie Thaci seien verantwortlich für «engste Verflechtungen zwischen Politik, Wirtschaft und international operierenden Mafia-Strukturen». Mit der politischen Anerkennung von Thaci und anderen Vertretern der Befreiungsarmee UCK hätten ehemalige Terroristen eine bislang unübertroffene Machtfülle erlangt. Die einstigen Verbrecher hätten als Politiker im Ausland an Reputation gewonnen, nach innen geniessen sie parlamentarische Immunität und nach aussen den Schutz des Völkerrechts. Sie könnten dadurch weitgehend unbehelligt im Kosovo operieren und mit Hilfe der – offiziell verbotenen – Parteigeheimdienste Druck auf politische Gegner ausüben.

Die unter Armut leidende Bevölkerung schwankt zwischen Verehrung der alten Kriegshelden wie Thaci und «tiefer Angst» vor der politisch-mafiösen Führungskaste, die inzwischen ein umfassendes Omertà-Regime etabliert hat. Im Mittelpunkt steht neben Thaci der ehemalige Ministerpräsident Ramush Haradinaj, ohne den im Kosovo nichts laufe (und dem mittlerweile in Den Haag der Prozess gemacht wird). Im ganzen Land finde man kaum jemanden, der öffentlich ein Wort gegen Haradinaj sage. Eine der wenigen Ausnahmen ist sein Hauptrivale Thaci, der über noch weiter reichende kriminelle Netzwerke verfüge und in Sicherheitskreisen als «noch wesentlich gefährlicher als Haradinaj» gilt.

Das Klima der Angst und die Korruption reichen bis in die höchsten Ämter der internationalen Gemeinschaft und verursachen eine tiefgreifende Ohnmacht. Die internationale Eingreiftruppe Kfor und die Uno-Verwaltung Unmik agierten mittlerweile «völlig konzeptlos», sagen Offiziere. Innerhalb der Uno-Administration sei es zu «beträchtlichen» Korruptionsfällen gekommen und Mafiabanden seien über Kontrollpunkte im Voraus informiert, da wesentliche Teile des Kfor-Stabes «als infiltriert zu betrachten sind». 2006 musste Unmik-Polizeichef Kai Vittrup das Land nach Morddrohungen verlassen. Deutsche Rückkehrer aus dem Kosovo resümieren: «Einige Aktivitäten internationaler Organisationen zur Bekämpfung der organisierten Kriminalität mussten zurückgenommen werden, um das Leben der Mitarbeiter nicht zu gefährden.»

Kritisiert wird im deutschen Bericht insbesondere die Rolle der USA, die europäische Ermittlungsbemühungen behindert hätten und durch geheime CIA-Gefangenenlager auf dem Gelände des Camp Bondsteel im Kosovo politisch erpressbar geworden seien. Zweifel an den amerikanischen Methoden wachsen auch durch die «ernst gemeinte» Beschreibung eines hochrangigen deutschen Uno-Polizisten, dass es die Hauptaufgabe des stellvertretenden amerikanischen Unmik-Chefs Steve Schook sei, «sich einmal die Woche mit Ramush Haradinaj zu betrinken».

Die Unmik ist zudem mitverantwortlich, dass sich das Kosovo in den letzten Jahren zu einem «Zentrum des internationalen Frauenhandels» für junge, teilweise minderjährige Prostituierte entwickelt hat. In den geschätzten 104 Bordellen, die meistens am Stadtrand bei einer Tankstelle liegen, sollen die «Internationalen» zu den besten Kunden gehören. Die hohe Nachfrage habe einen «signifikanten Beitrag zum Aufwachsen der lokalen Schleuserstrukturen geleistet». In der Vergangenheit seien bereits mehrere geheime Internierungslager mit Frauen ausgehoben worden.

Mit Steinen beworfen, tätlich angegriffen

Für die Autoren zeigt sich das «offene Versagen der Unmik» am deutlichsten bei der Energieversorgung. Trotz massiver Präsenz ist es auch nach sieben Jahren nicht gelungen, wenigstens die Grundversorgung mit Strom sicherzustellen. Noch heute kommt es täglich zu flächendeckenden Stromausfällen von mehr als zehn Stunden, die in jedem Winter Erfrierungstote zur Folge haben.

«Jenseits aller politischen Rhetorik» gelte es zu konstatieren, dass der «Versuch des Aufbaus einer multiethnischen Gesellschaft im Kosovo gescheitert ist». Die Serben hätten sich in Enklaven verschanzt und verfügten entgegen anderslautenden Aussagen von Politikern über keine Bewegungsfreiheit. Kfor-Soldaten begleiten sie beim Einkauf oder erledigen die Einkäufe gleich selbst. Regelmässig würden Serben mit Steinen beworfen, tätlich angegriffen, belästigt oder eingeschüchtert. Ihre Friedhöfe werden geschändet und ihre Hauswände mit Hassparolen verschmiert. Der «multiethnische Irrglaube» werde allein von jenen Funktionsträgern am Leben erhalten, «deren Arbeitserfolg unmittelbar an der Erfüllung dieses auf politischem Wunschdenken fussenden Missionsziels gemessen wird oder die über ein direktes finanzielles Interesse an der Fortführung entsprechender Förderprogramme verfügen».

Praxis des «Okay-Reporting»

Man fragt sich beim Lesen der Studie, warum die internationale Gemeinschaft ein solches Chaos als Staat anerkennen will. Auch hierfür haben die Autoren eine Antwort. Sie heisst «Okay-Reporting», eine systematische Unterdrückung kritischer Informationen, «um fehlgeleitete politische Zielvorgaben zu erfüllen». Die Praxis des «Okay-Reporting» grenzt für die Autoren mittlerweile an «Verantwortungslosigkeit». Sie führe zwar zu «guter Presse» und «individueller Profilierung», aber auch zu einer wachsenden Kluft zwischen deklarierten Zielen und tatsächlichen Entwicklungen. Diese «politische Korrektheit» verursache eine Gefährdung der Missionsziele im Kosovo, einen Glaubwürdigkeitsverlust in der Bevölkerung und eine «teils drastische Reduzierung weiterer Handlungsoptionen».

Der einzige Ausweg aus der Krise ist für die Experten «ein klarer Bruch mit der bisherigen Appeasement-Politik, ein Ende des politischen Wunschdenkens und eine Konzentration auf das tatsächlich Machbare». Keine Lösung sei die einseitig ausgerufene Unabhängigkeit des Kosovo. Im Gegenteil: Kriminelle Akteure wie Thaci oder Haradinaj kämen dadurch «näher denn je zu ihrem Ziel der totalen Kontrolle des Kosovo». Wirtschaftlich sei zwar mit einem «Strohfeuer» zu rechnen, die strukturellen Defizite würden aber fortbestehen. Wenn die Unmik schliesslich wie geplant aus dem Kosovo abziehe, überlasse sie der EU einen «Feuerwerksladen voller Pyromanen».

Wichtiger für die gesellschaftliche Entwicklung des Gebietes wäre für die Autoren ein Ende der weitverbreiteten Verklärung der Kriegszeit 1998/99 mit einer religionsähnlichen Helden- und Veteranenverehrung. Bis heute würden nicht nur Fehler und begangene Verbrechen geleugnet, sondern die Ursachen für das eigene Elend in einem verschwörungstheoretisch anmutenden Kontext betrachtet. Beispielhaft sei die «generationenübergreifende Lebenslüge», dass das Kosovo nur deshalb arm sei, weil es bisher immer von anderen jugoslawischen Völkern ausgebeutet worden sei. Mit der Unabhängigkeit treibe dieser «Irrglaube» die Hoffnung auf einen kosovarischen Wohlstandsschub in unrealistische Höhen, «was den unvermeidlichen Kontakt mit der Wirklichkeit (schätzungsweise nach ein oder zwei Jahren der Selbständigkeit) zu einem kritischen Moment in der kosovarischen Geschichte werden lässt und zu schweren Unruhen, wenn nicht gar revolutionsähnlichen Erhebungen führen könnte».

Quelle: www.weltwoche.ch

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