Donnerstag, 18. Februar 2010

Die Lehren aus Climategate

Was sind die Erkenntnisse nach der E-Mail-Affäre? Erstens: Die ehrwürdige Klimaforschung hat ihre Unschuld verloren. Zweitens: In der Blogosphäre entsteht eine neue wissenschaftliche Öffentlichkeit. Drittens: Es ist erfreulich, dass die Fehler der Klima-Missionare aufgedeckt wurden.

Von Jerome Ravetz

Climategate ist deshalb besonders wichtig, weil der Skandal nicht den üblichen bösartigen Einflüssen von ausserhalb der Wissenschaft angelastet werden kann, seien dies geldgierige Konzerne oder ein skrupelloser Staat. Der Skandal und die daraus resultierende Krise wurden durch Leute in der Wissenschaft erzeugt, von denen man annehmen kann, dass sie mit besten Absichten handelten. Sollten die Behauptungen der Klimaforscher über die Erderwärmung ernsthaft diskreditiert werden, würde sich die öffentliche Empörung direkt gegen die wissenschaftliche Gemeinschaft selber richten und (von innerhalb dieser Gemeinschaft) gegen deren Führer, die entweder unwissend oder als Komplizen mitschuldig waren, bis schliesslich der Skandal aufflog. Wenn wir Climategate verstehen und zu einer Wiederherstellung des Vertrauens kommen wollen, sollten wir die strukturellen Elemente anschauen, die derart schädliche Praktiken begünstigten und nährten. Ich glaube, dass die Gedanken über «postnormale Wissenschaft» (wie sie von Silvio Funtowicz und mir entwickelt worden sind) zum Verständnis beitragen können.

Im Umgang mit der Frage der Unsicherheit in der Wissenschaft gibt es tiefliegende Probleme, die nicht durch raffiniertere Quantifikation gelöst werden können. Zwischen Wissenschaft und Politik besteht eine Kluft; die beiden sind in ihrer jeweiligen Sprache, ihren Gepflogenheiten und deren Begleiterscheinungen miteinander nicht vergleichbar. Ein Wissenschaftler, der sich sozialer Verantwortung verpflichtet fühlt, benötigt Entschlossenheit und Geschick, um nicht zum «heimlichen Anwalt» zu werden. Wenn die Politik nicht gewillt oder fähig ist, offenkundige und dringliche Wahrheiten zu einem bestimmten Problem zu erkennen, dann werden für den Wissenschaftler die Widersprüche zwischen wissenschaftlicher Redlichkeit und aktivistischem Eifer akut. Dies ist ein stetes Problem für jede politisch relevante Wissenschaft, und im Fall der Klimawissenschaft scheint es ein besonders bedeutendes Ausmass erreicht zu haben. Der Umgang mit Unsicherheit und Qualität in derartigen immer häufiger auftretenden Situationen ist zu einer dringlichen Aufgabe für die Wissenschaftsführung geworden.

Wir können anfangen zu verstehen, was bei Climategate schieflief, wenn wir untersuchen, was die führenden Vertreter dieser «missionierenden Wissenschaft» (evangelical science) für die offenkundige und dringliche Wahrheit hielten. Für diese Wissenschaftler ging es nicht bloss darum, dass es Anzeichen einer auf menschlichen Einfluss zurückzuführenden aussergewöhnlichen Störung der Ökosphäre gab, und es ging auch nicht einmal darum, dass das Klima sich rascher verändern könnte, als es dies während langer Zeit tat. Sie erklärten klipp und klar, dass die anthropogene, auf Kohlenstoff basierende Erderwärmung eine bewiesene Tatsache sei. In dieser apodiktischen These gibt es wenig Spielraum für Unsicherheit. Um zu zeigen, dass alles die Schuld der Industrialisierung ist, braucht die These für alle Indikatoren der globalen Temperatur die «Hockeyschläger»-Kurve (die lange flach bleibt, bevor sie wie ein Hockeyschläger steil nach oben zeigt). Ihr ikonisches Bild ist die ständig steigende Grafikkurve der CO2-Konzentration während der letzten fünfzig Jahre am Mauna-Loa-Vulkan auf Hawaii (wobei stillschweigend angenommen wird, dass die CO2-Konzentration zuvor am oder unter dem Ausgangspunkt lag). Weil CO2 seit langem als Treibhausgas bekannt ist und weil wissenschaftliche Theorien dessen Auswirkungen quantifizieren, schien das wissenschaftliche Argument für diesen gefährlichen Trend überwältigend einfach, direkt und schlüssig zu sein.

Der Erfolg vereinfachter Thesen
Rückblickend können wir uns fragen, wieso diese spezielle, in Wirklichkeit recht extreme Sicht der Zukunftsaussicht zur offiziellen Lehre wurde. Es scheint, dass verschiedene Ursachen mitwirkten. Erstens war die anfängliche Opposition gegen Behauptungen, wonach sich das Klima erwärme, nur teilweise wissenschaftlich. Die Taktiken der Leute und Interessenvertreter, welche die Klimaerwärmung abstritten, verleiteten die Anhänger der These der menschengemachten globalen Erwärmung dazu, eine einfache, kraftvoll vertretene Haltung einzunehmen. Nachdem sie diese Haltung einmal eingenommen hatten, wurden sie persönlich und institutionell von dieser Haltung in Beschlag genommen. Und ich vermute, dass es für diese Wissenschaftler bequemer war, eine vereinfachte, sogar vereinfachende These zu vertreten als eine These, die einräumte, dass die Angelegenheit komplex und unsicher sei. Es war nicht bloss so, dass Politiker und Öffentlichkeit eine einfache, unzweideutige Botschaft benötigten. Das Problem lag tiefer: «Normale Wissenschaft», wie der Methodologe Thomas Kuhn sie beschrieben hat (die, wie er sagt, von beinahe allen Wissenschaftlern ständig betrieben wird), besteht im Lösen von Problemen in einem Rahmen, der nicht in Frage gestellt wird, einem «Paradigma». In einer «normalen» wissenschaftlichen Ausbildung spielen Themen wie Unsicherheit und Qualität keine besonders grosse Rolle, weshalb Wissenschaftler Mühe haben, sie zu erkennen und mit ihnen umzugehen.

Diese «normale» Wissenschaft war (wie Kuhn erkannte) enorm erfolgreich. Sie machte es uns möglich, die Welt um uns herum auf noch nie da gewesene Weise zu verstehen und zu kontrollieren. Aber Kuhns Analyse bezog sich auf die Wissenschaften des Labors und – in weiterem Sinn – auf Technologien, die stabile und kontrollierbare äussere Bedingungen reproduzieren konnten. Wenn allerdings die zu erforschenden Systeme kompliziert und schwerverständlich sind, wird diese «Lehrbuch»-Methode der Forschung weniger erfolgreich, manchmal sehr viel weniger erfolgreich. Der Beinahe-Crash des Weltfinanzsystems kann zum Teil einer naiv reduktionistischen Nationalökonomie und falsch angewandten, vereinfachenden Statistiken zugeschrieben werden.

Für «normale» Wissenschaftler besteht die Versuchung, so zu arbeiten, als sei ihr Material so einfach wie im Labor. Es ist dies der einfachste Weg zu einem ständigen Strom wissenschaftlicher Publikationen, wovon ja heute eine wissenschaftliche Karriere entscheidend abhängt. Die naheliegendste Auswirkung derartigen Vorgehens ist das Wuchern von Computersimulationen, die den Anschein hinterlassen, ein Problem sei gelöst, obschon weder die Daten noch die Theorie dafür bürgen, dass die zahlenmässigen Ergebnisse stimmen. Unter solchen Umständen wird ein verfeinertes Verständnis für die Unsicherheit der Ergebnisse blockiert und kann auch das Bewusstsein für Qualitätsarbeit verkümmern.

Im Laufe der Entwicklung der Klimawandel-Wissenschaft blieben alle Arten von offenen Fragen unbeantwortet oder unbehandelt. Sogar der grundsätzlichste aller quantitativen Parameter, der «Forcing-Faktor», der den Anstieg der Durchschnittstemperatur mit einer Verdoppelung des CO2 verknüpft, liegt irgendwo zwischen 1 und 3 Grad Celsius und ist somit unsicher bis zu einem Faktor 3. Die Genauigkeit (bei ungefähr 2 Prozent) der Bestimmung der «sicheren Grenzen» der CO2-Konzentration, die auf Berechnungen mit diesem Faktor beruhen, lässt sich nicht leicht rechtfertigen. Auch hat sich gezeigt, dass die Verlässlichkeit der globalen Temperaturmodelle mehr von der story line abhängt als von sonst irgendetwas, wobei der vorausgesagte Temperaturanstieg bis zum Ende des Jahrhunderts sich auf einer Bandbreite zwischen bescheidenem 1 Grad Celsius und katastrophalen 6 Grad bewegt. Und das «Hockeyschläger»-Bild der Vergangenheit, das für die präzise Version der Klimawandelgeschichte so entscheidend ist, stösst auf zunehmend schwere Probleme. Beispielsweise stützte sich die «Hockeyschläger»-Grafik auf eine kleine Reihe von zutiefst unsicheren Baumjahresring-Daten, um die historischen Indizien für eine mittelalterliche Warmzeit zu widerlegen. Für die letzten Jahrzehnte allerdings musste das «Hockeyschläger»-Bild die Baumringdaten weglassen, weil sie nach 1960 eine plötzliche Abkühlung zeigten! In der Publikation wurden jüngste Daten aus anderen Quellen geschickt beigemischt, so dass die Abänderung nicht sofort erkennbar war. Dies war der notorische «Nature trick», von dem in den E-Mails der CRU (Climatic Research Unit) der Universität East Anglia die Rede ist.

Schlimmer noch: Damit die These der Erwärmung politisch wirksam werden konnte, reichte ein blosser durchschnittlicher Temperaturanstieg nicht aus. Damit die Leute die Gefahren würdigen konnten, brauchte es Voraussagen für das zukünftige Klima – oder sogar für das Wetter – in den verschiedenen Welt- gegenden. Angesichts der groben Unsicherheiten selbst in den aggregierten Modellen sprengen regionale Voraussagen die Grenzen der Wissenschaft. Trotzdem wurden sie geliefert, mit unterschiedlichen Stufen der Genauigkeit. Die regionalen Voraussagen, die vom IPCC angekündigt wurden, haben sich als die brisantesten erwiesen.

Kumpanei und Vertuschung
Als all diese Abnormalitäten und ungelösten Fragen ans Tageslicht kamen, wurde das zuvor so saubere und überzeugende Bild trüb und sogar konfus. In Kuhns Analyse wäre dies der Anfang einer «prärevolutionären» Phase in der normalen Wissenschaft. Nun war aber die Causa von mächtigen politischen Verfechtern wie Al Gore aufgegriffen worden. Wir befanden uns in einem weiteren kreuzzugartigen «Krieg», wie jene gegen (nichtalkoholische) Drogen und den «Terror». Dieser neue Krieg, der Krieg gegen den Kohlenstoff, war ebenso simplifizierend und ebenso anfällig für Korruption und Versagen. Die Klimaerwärmungswissenschaft wurde zum Kernelement einer grossangelegten, weltweiten Kampagne zur Rettung des Planeten. Jede Schwächung der wissenschaftlichen Argumente war gleichbedeutend mit dem Verrat an einer guten Sache und der Störung der wachsenden Forschungsanstrengungen. Kritiker der Erwärmungsthese, selbst solche, die Vollmitglieder der wissenschaftlichen Expertengemeinschaft waren, wurden verlacht und als irrelevant abgetan. Wie aus den CRU-E-Mails ersichtlich ist, hielt man die Kritiker für unwürdig, an den normalen Höflichkeiten des gemeinsamen Austauschs und der Debatte teilzuhaben. Gesuche um Informationen wurden verzögert, und, wie ein geistreicher Blogger meinte, «peer review» – die Begutachtung durch ausgewiesene Sachverständige – wurde durch «pal review» – die Begutachtung durch Kumpane – ersetzt.

Der Katalog unwissenschaftlicher Praktiken, die von den etablierten Medien enthüllt wurden, ist mager im Vergleich zu dem, was in der Blogosphäre abrufbar ist. Beispiele von schlampiger Wissenschaft und schmutzigen Tricks sind im Überfluss vorhanden. Schliesslich gestanden sich die Mitglieder des inneren verschworenen Kerns gegenseitig ein, dass die globalen Temperaturen sanken, aber es war zu spät, um den Kurs zu ändern. Die letzte Phase der Korruption, die Vertuschung, hatte eingesetzt. Die Wissenschaftler des engen Kerns und die Führer der diversen wissenschaftlichen Gemeinschaften, wie auch beinahe alle Medien, erklärten die Debatte für gelaufen: Wer den Klimawandel abstritt, den traf das gleiche Stigma wie einen Holocaust-Leugner. Und dann kamen die E-Mails.

Wir können Climategate als einen Fall von Wissenschaftlern verstehen, die in einer postnormalen Situation normale Wissenschaft betreiben müssen. Aber Klimawandel war nie eine «normale» Wissenschaft, weil die politischen Auswirkungen immer vorhanden und stark, sogar überwältigend waren. Wenn wir die Definition von «postnormaler Wissenschaft» anschauen, dann sehen wir, wie gut sie passt: unsichere Fakten, umstrittene Werte, hoher Einsatz und dringliche Entscheide. Weil sie den Planeten Erde wie eine Lehrbuchübung behandeln mussten, sahen sich die Klimawissenschaftler gezwungen, die Regeln wissenschaftlicher Etikette und Ethik zu brechen und auf eine Weise wissenschaftliche Machtpolitik zu treiben, die unweigerlich zu Korruption führen musste. Die Verknüpfung von nichtkritischer «normaler Wissenschaft» mit antikritischer «missionierender Wissenschaft» war tödlich. Wie in anderen sogenannten Gate-Skandalen diente ein einzelnes Ereignis dazu, einen Faden aus dem Gewebe schützender Wahrscheinlichkeiten herauszuziehen, was schliesslich zu einer vollständigen Auflösung dieses Gewebes führte. Die E-Mails können so interpretiert werden, dass bedrängte Wissenschaftler sich bösartiger Einmischung zu entledigen suchten. Aber das Material, das in der Blogosphäre bereitlag und wartete, führte dazu, dass ein kleiner Skandal sich in eine Katastrophe verwandelte.

Verlorene Ehre der Klimaforschung
Die Klimawissenschaftler waren angesehen, sie publizierten in führenden peer-reviewed wissenschaftlichen Zeitschriften. Die von ihnen vertretene Sache war plausibel und löblich. Individuelle Kritik an ihrer Arbeit war, was die Öffentlichkeit und vielleicht sogar die weitere wissenschaftliche Gemeinschaft anbelangte, isoliert. Deshalb drang sie nicht durch, blieb ohne systematische Bedeutung. Und wer hätte sich vorstellen können, dass ein so grosser Teil der Wissenschaft in seinem Kern morsch war? Die Glaubwürdigkeit der ganzen Übung beruhte auf einem sich selbst erzeugenden Kreislauf. Ich selber wurde erst auf die Schwäche der Argumentation aufmerksam, nachdem ich die Vorbehalte in Sir David Kings Buch «The Hot Topic» zur Kenntnis genommen hatte. Und ich hatte von der «Hockeyschläger»-Affäre gehört.

Ein Teil der historischen Bedeutung von Climategate liegt darin, dass der Skandal so wirkungsvoll und rasch aufgedeckt wurde. Bloss zwei Monate nachdem die ersten Berichte in den Mainstreammedien erschienen waren, waren die Schlüsselwissenschaftler der Universität East Anglia und der Weltklimarat IPCC diskreditiert. Auch wenn bloss ein Bruchteil ihrer Behauptungen widerlegt worden war, ihre Glaubwürdigkeit war dahin. Um zu erklären, warum alles so schnell und bestimmt geschah, müssen wir den Zusammenfluss von zwei Entwicklungen, die eine gesellschaftlich, die andere technisch, in Betracht ziehen. Was die Erstere betrifft, lässt sich aus der «postnormalen» Wissenschaft die Lehre der «erweiterten Expertengemeinschaft» (extended peer community) ziehen. In der traditionellen, «normalen» Wissenschaft, ist es die Expertengemeinschaft (peer community), welche für Qualitätssicherung sorgt. Sie übt auch die Führungsrolle aus – auf die Forscher beschränkt, die sich in das Paradigma teilen.

Wir sind der Auffassung, dass in der «postnormalen» Wissenschaft die erweiterte Expertengemeinschaft, einschliesslich aller von der umgesetzten Politik Betroffenen, vollständig miteinbezogen werden muss. Ihr besonderer Beitrag wird von der Art des wissenschaftlichen Kernproblems abhängen, aber auch von der Phase, in der sich die Forschungsarbeit befindet. Detaillierte technische Arbeit ist eine Aufgabe für eigentliche Fachexperten, aber die Qualitätskontrolle kann von Leuten geleistet werden, die ein viel breiteres Sachwissen besitzen. Wenn es um die Definition des Problems an sich, die Auswahl des Personals und, ganz entscheidend, um die Hoheit über die Forschungsergebnisse geht, hat die erweiterte Expertengemeinschaft volles Anrecht auf Teilnahme. Dieses Prinzip ist in vielen Kompetenzbereichen und für viele politikbezogene Probleme bereits anerkannt.

Die Aufgabe der Schaffung und des Einbezugs der erweiterten Expertengemeinschaft (allgemein bekannt als «Mitbestimmung») hat sich als schwierig erwiesen und hat ihre eigenen Widersprüche und Fallgruben. Sie ist zufällig gewachsen, mit isolierten Erfolgen und Misserfolgen. Bisher sind die Kritiker in wissenschaftlichen Angelegenheiten in eine Art Samisdat-Welt verbannt worden; sie haben private Briefe ausgetauscht oder Bücher geschrieben, die (als nicht peer-reviewed) vom herrschenden Establishment leicht ignoriert werden konnten. Dies war bisher das Los selbst der hervorragendsten und verantwortungsvollsten Kritiker der Theorie des Klimawandels. Jeroen van der Sluijs, ein bekannter Sachverständiger im Umgang mit Ungewissheit, hat die «übertriebene Anpreisung (overselling) der Gewissheit» verurteilt und den bevorstehenden Vertrauensverlust vorausgesagt. Ein prominenter Klimawissenschaftler, Mike Hulme, liefert eine tiefsinnige Analyse in Bezug auf Komplexität und Ungewissheit in «Why We Disagree About Climate Change». Weil jedoch legitime Meinungsverschiedenheiten als nicht existent galten, beachtete man auch ihn nicht.

Die Blogs waren entscheidend
Die Bedeutung der neuen Kommunikationsmittel in der Massenpolitik, wie beispielsweise in den diversen «Regenbogenrevolutionen», ist gut erforscht und nachgewiesen. Um zu verstehen, wie sich die Machtverhältnisse im Falle von Climategate verändert haben, können wir auf das Buch «Here Comes Everybody» von Clay Shirky zurückgreifen. In der römisch-katholischen Diözese von Boston in den USA gab es zwei Fälle, wo pädophile Priester von Kirchgemeinde zu Kirchgemeinde herumgeschoben wurden. Das erste Mal führte dies zu einer Strafverfolgung und einer vollständigen Aufdeckung in der Presse, worauf dann allerdings nichts mehr geschah. Im zweiten Fall griffen die empörten Eltern zu ihren Mobiltelefonen und organisierten sich; schliesslich musste Kardinal-Erzbischof Bernard Francis Law (der seine Karriere als couragierter Priester in den sechziger Jahren begann) mit Schimpf und Schande nach Rom abziehen. Die Climategate-Affäre zeigt die Bedeutung der neuen Informationstechnologie für die Wissenschaft, indem sie zur Stärkung der erweiterten Expertengemeinschaft führt.

Das wohlbekannte Prinzip «Wissen ist Macht» hat sein Gegenstück in «Unwissen ist Ohnmacht». Unwissenheit wird aufrechterhalten oder schliesslich überwunden durch eine Vielfalt gesellschaftlich-technischer Mittel. Mit der Erfindung des billigen Drucks auf Papier konnte die Bibel weitherum gelesen werden. Ketzer wurden zu Reformern. Die gesellschaftliche Rolle der Wissenschaft erweiterte sich und wuchs durch das Zeitalter des Drucks. Wissen war allerdings nie ganz frei. Während Jahrhunderten blieb die Machtpolitik wissenschaftlicher Legitimität ziemlich stabil. Die Ausübung der Wissenschaft blieb der gesellschaftlichen Elite und Einzelnen, die von ihr beigezogen wurden, vorbehalten, weil sie eine vorausgegangene akademische Ausbildung sowie genügend verfügbare Zeit und genügend materielle Mittel erforderte. Mit der neuen Informationstechnologie änderte sich all dies sehr schnell. Wie wir aus der «Open-Source-Bewegung» ersehen können, spielen viele Leute bei der technologischen Entwicklung eine aktive Rolle, in ihrer Freizeit oder soweit dies ihr Arbeitsplatz erlaubt oder sie gar ermutigt. In dieser neuen Wissensindustrie sind die Arbeiter manchmal so kompetent wie die Techniker und die Chefs. Die neuen Informationstechnologien machen die Verbreitung wissenschaftlicher Kompetenz und den gemeinsamen Austausch inoffizieller Informationen möglich und verleihen damit Einfluss und Macht an Expertengemeinschaften, die weit über die Doktoren der Philosophie in den jeweiligen Fachgebieten hinausgehen. Die pointiertesten und wirkungsvollsten Kritiker der «Hockeyschläger»-Statistik waren ein an einer Universität tätiger Nationalökonom und ein Computerexperte.

Wie jede andere Technologie ist die Informationstechnologie vielfältig. Sie kann leicht falsch angewendet oder missbraucht werden. Ein grosser Teil der Blogosphäre ist banal oder schlimmer. Es ist bekannt, dass viele Klimaskeptiker, ihre Blogger und ihre Hintermänner politisch eine rechtslastige Agenda vertreten. Wer jedoch ihre Herkunft oder ihre Motivation als Ausrede benutzt, um ihre Argumente zu ignorieren, verrät die Wissenschaft. Die Blogosphäre steht in einer Wechselwirkung mit anderen Kommunikationsmedien im öffentlichen und im wissenschaftlichen Bereich. Einige ihrer Teile liegen im Mainstream, andere nicht. Die Climategate-Blogosphäre ist so vielfältig in ihrer Qualität wie jede andere. Einige führende Forscher wie Roger Pielke Jr. betreiben schon seit langer Zeit einen Blog. Einige Blogs werden sorgfältig beobachtet, haben eine grosse Leserschaft und werden von den etablierten Medien angeschaut (wie beispielsweise Wattsupwiththat.com, auf dem dieser Beitrag in seiner Originalfassung erschien). Andere nehmen es weniger genau, aber dieselbe Mannigfaltigkeit findet sich auch in der nominell peer-reviewed wissenschaftlichen Literatur. Wenn man sich in der Blogosphäre auf dem Laufenden halten will, erfordert dies andere Fähigkeiten, als wenn man in der traditionellen Literatur à jour bleiben will. Am nützlichsten ist es, wenn man einen Blog findet, der zusammenfasst und auf die eigenen speziellen Interessen passt.

Blogs verbessern die Wissenschaft
Einige Mainstreampublikationen sagen jetzt nette Dinge über die Blogosphäre. Wären solche Ansichten schon früher ausgedrückt worden, dann hätten die kritischen Stimmen vielleicht öffentliches Gehör gefunden. Der Climategate-Skandal wäre aufgeflogen, bevor er derart unheilvoll Wurzeln schlug. Die kritische Blogosphäre braucht nicht bevormundet zu werden. Wie jede Ausdehnung der Macht – gehe es um das Recht auf Glauben, auf Erziehung, auf Protest, das Stimmrecht oder das Recht, Gewerkschaften zu bilden – kann sie zu Instabilitäten und Missbräuchen führen. Die erweiterte Expertengemeinschaft hat jedenfalls jetzt eine technologische Basis, und die Machtverhältnisse in der Wissenschaft werden künftig anders sein. Ich kann nicht voraussagen, wie die künftige Machtpolitik funktionieren wird, aber wir können zuversichtlich sein, dass auf selbsterzeugende Kreisläufe gebaute Verfälschungen in Zukunft weniger wahrscheinlich sein werden.

Climategate hat auch eine wichtige philosophische Dimension: die Frage des Verhältnisses zwischen persönlicher wissenschaftlicher Ethik und objektiven wissenschaftlichen Fakten. Das Problem entsteht durch das traditionelle Bild der Wissenschaft als «wertfrei», wie es in der wissenschaftlichen Ausbildung vermittelt wird. Die persönliche Verpflichtung zur Integrität, die zur Aufrechterhaltung wissenschaftlicher Qualität nötig ist, hat in der dominanten Wissenschaftsphilosophie keinen Platz. Für Idealisten (wie Karl Popper) war Kuhns desillusioniertes Bild der Wissenschaft derart störend, weil in seiner «normalen» Wissenschaft Kritik kaum eine Rolle spielte. Kuhn lehnte selbst Mertons Prinzipien über das ethische Verhalten in der Wissenschaft als irrelevant ab. War diese Situation wirklich «normal», das heisst entweder durchschnittlich oder (schlimmer noch) angemessen? Die Beispiele schlampiger Wissenschaft, die von Climategate aufgedeckt wurden, hinterlassen einen beunruhigenden Eindruck. Was sich ereignet hat, weist darauf hin, dass Kritik und ein Sinn für Redlichkeit durch eine erweiterte Expertengemeinschaft, die hauptsächlich von der externen Blogosphäre kommen wird, in das System eingespritzt werden müssen.

Die totale Gewissheit der etablierten Wissenschaftler, wonach sie selber im Recht sind und ihre Kritiker intellektuelle und moralische Mängel haben, kann im Rückblick als Arroganz angesehen werden. Wenn ihre Sprecher weiterhin den der wissenschaftlichen Sache zugefügten Schaden herunterspielen und die ethische Dimension von Climategate ignorieren, riskieren sie, dass sich die Öffentlichkeit über ihre unverbesserliche Arroganz empört. Hält der Strom von immer detaillierteren Enthüllungen an und gelangt aus der Blogosphäre zu einem breiteren Publikum, dann wird die Glaubwürdigkeit der etablierten wissenschaftlichen Autoritäten weiter ausgehöhlt. Stehen wir vor der Aussicht, dass die IPCC-Berichte als fragwürdige Dossiers von der Hand gewiesen werden und dass bisher vertrauenswürdige Wissenschaftler wegen Nachlässigkeit oder Schlimmerem angeklagt werden?

Und wie verhält es sich mit dem Thema überhaupt? Erleben wir tatsächlich eine menschenverursachte, kohlenstoffbasiererte globale Erwärmung? Wenn die Öffentlichkeit den Glauben an diese Behauptung verliert, dann wird die Lage der Wissenschaft in unserer Gesellschaft sich verschlechtern. Es ist sehr unwahrscheinlich, dass irgendein entscheidendes Ereignis die Behauptung entweder bestätigt oder widerlegt. Die postnormale Situation ist zu komplex. Der künftige Konsens wird wohl davon abhängen, wie viel Vertrauen wir noch in die Wissenschaft setzen können. Das ganze riesige Gebäude politischer Verpflichtungen zur CO2-Reduktion – mit seinen zahlreichen Vorschriften und seinen ziemlich totalitären moralischen Ermahnungen – läuft Gefahr, von der Öffentlichkeit abgelehnt zu werden. Welche Art Chaos würde daraus resultieren? Die Folgen für die Wissenschaft in unserer Zivilisation wären ausserordentlich.

Insofern ein verbesserter Umgang mit Unsicherheit und Unwissenheit die Lage verbessern kann, besitzen wir einige nützliche Instrumente. In den Niederlanden haben Gelehrte und Wissenschaftler Methoden der «Wissensqualitätsprüfung» entwickelt, mit denen Unsicherheit auf Wegen beschrieben werden kann, die den Reichtum des Phänomens wiedergeben und gleichzeitig als robuste Werkzeuge der Analyse und der Kommunikation funktionieren. Anderswo erkunden Gelehrte Methoden zum Umgang mit Meinungsverschiedenheiten unter Wissenschaftlern, die vermeiden können, dass derart postnormale Themen wie Klimawandel katastrophal polarisieren. Die angesehene Gelehrte Sheila Jasanoff plädiert für eine Kultur der Bescheidenheit unter den Wissenschaftlern, was an sich bereits ein Schritt zur Vision einer gewaltlosen Wissenschaft wäre.

Wissenschaftler, die gezwungen waren, in der Blogosphäre zu arbeiten, wissen, was es heisst, ausgeschlossen zu sein und unterdrückt zu werden. Diese wertvolle Erfahrung könnte ihnen die Einsicht erleichtern, dass etwas ernsthaft schiefgelaufen ist, und sie ermuntern, das herausfordernde moralische Abenteuer einzugehen, das darin besteht, dass man sich mit Unsicherheit und Unwissenheit befasst. Die neuen Kommunikationstechnologien haben Wissen und Machtverhältnisse auf vielen Gebieten revolutioniert. Die erweiterte Wissenschafts-Expertengemeinschaft in der Blogosphäre wird in dem Prozess ihre Rolle spielen. Lasst den Dialog beginnen!

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