Sonntag, 17. Januar 2010

Der FFE - wie man in der Schweiz unbequeme Menschen wegsperrt

Der entsorgte Mensch

Jeden Tag werden in der Schweiz über 30 Menschen gegen ihren Willen in eine psychiatrische Klinik verfrachtet. Seit dem Zuger Amoklauf genügt schon eine Drohung für die Einweisung. Nun regt sich Widerstand.

Von Thomas Schenk

Eine unbedarfte Äusserung reichte aus, um Michael Lüthi, 39, in eine psychiatrische Klinik zu bringen.Seit Jahren hatte er im Streit mit Nachbarn gelegen, Vermieter und Behörden bestürmt, gegen den Lärm im Mehrfamilienhaus in Lützelflüh BE vorzugehen. Bis er im Gespräch mit einer Kantonsangestellten sagte, es verwundere ihn nicht, dass solche Sachen wie in Zug passierten. Das war Anfang Oktober
2001, ein paar Tage nach Friedrich Leibachers Amoklauf im Kantonsparlament. Kurz darauf wurde Lüthi ins Psychiatriezentrum Münsingen eingeliefert.
Die Einweisung hatte der zuständige Regierungsstatthalter Markus Grossenbacher angeordnet, mittels Fürsorgerischem Freiheitsentzug (FFE). Mit diesem Instrument können in der Schweiz Menschen gegen ihren Willen in eine psychiatrische Klinik geschafft werden. «Solange nichts passiert, haben wir nur den FFE als Handhabe», sagt Grossenbacher. Strafrechtlich können Richter und Polizei erst bei einem
konkreten Tatbestand einschreiten, eine Drohung reicht nicht aus. «Wenn wir nichts unternehmen und es passiert dann tatsächlich etwas, heisst es, wir hätten nur zugeschaut.»

In diesem Dilemma greifen Behörden vermehrt zum Instrument des Fürsorgerischen Freiheitsentzugs,lassen auffällige Personen vorübergehend von der Bildfläche verschwinden und tragen damit zur Überlastung der Kliniken bei. In der Klinik Oberwil im Kanton Zug ist die Zahl der FFE zwischen 2000 und 2002 um 40 Prozent auf 270 gestiegen, der Kanton Bern meldet eine Verdopplung innert vier Jahren auf
über 1600. Über 12 500 FFE-Einweisungen hat es letztes Jahr in der ganzen Schweiz gegeben. Das ist ein Viertel der gesamthaft 50 000 Eintritte in psychiatrische Kliniken, die gegen den Willen der Betroffenen erfolgt, womit die Schweiz im europäischen Vergleich einen Spitzenplatz einnimmt; einzig Schweden weist mit einem Anteil von 30 Prozent einen höheren Wert auf, wie eine aktuelle Studie der
EU zeigt. In Schweizer Akutkliniken liegt der Anteil der FEE allerdings noch höher, in der Hard im zürcherischen Embrach etwa wird jeder Zweite unter Zwang eingeliefert.
Hinter jeder dieser Zahlen steht ein menschliches Schicksal. In einigen Fällen ist die Einweisung begründet, etwa um einen Suizid abzuwenden oder die Gefährdung Dritter zu verhindern. Für viele stellt ein FFE aber ein einschneidendes Ereignis dar. Michael Lüthi aus Lützelflüh erlebte eine eigentliche Odyssee. Nach der ordentlichen Entlassung aus der Klinik Münsingen wurde er wenig später ein zweites
Mal eingewiesen, flüchtete, erschien zu einem Gerichtsverfahren, wurde direkt aus dem
Verhandlungssaal wiederum interniert, diesmal für sieben Monate, bis er im Dezember 2002 in Freiheit kam. Allerdings nur unter der Bedingung, nicht mehr in seine Wohnung zurückzukehren. Weil er mit seinem beschränkten Budget noch keine gemeinsame Unterkunft gefunden hat, lebt er seither faktisch von seiner Frau und seinen drei Kindern getrennt, die finanziellen Schwierigkeiten häufen sich, Lüthis
Schulden wachsen. «Wir werden ruiniert», klagt Lüthi, «niemand hilft uns.»

Von Fürsorge hatte auch Barbara Rocco, 43, bei ihrem Freiheitsentzug nichts gespürt. Sanitäter in blauweissen Kitteln stürzten sich auf sie, mit Hilfe von zwei bewaffneten Polizisten wurde sie aus ihrer Wohnung in einen Krankenwagen verfrachtet, fest angegurtet und in die Klinik Burghölzli in Zürich
gefahren. Roccos Nerven waren in den Tagen zuvor strapaziert worden, ein Übergriff auf ihren Sohn, der geplante Wohnungswechsel und Schlafmangel hatten ihr zugesetzt, bis ihr Ehemann den Notfallpsychiater alarmierte. Weil sie vor 20 Jahren bereits einmal gegen ihren Willen psychiatrisch behandelt worden war, reagierte sie bei dessen Eintreffen aggressiv. Darauf bot der Psychiater die Polizei und die Sanität als Verstärkung auf, welche Rocco überwältigten. «Nun verstehe ich Amokläufer,
die nichts mehr zu verlieren haben», sagt sie heute. Nach drei Wochen wurde Barbara Rocco entlassen. «Unter der neuroleptischen Medikation wurde die Patientin ruhiger und weniger aufbrausend», heisst es im Krankenbericht, den ihr die Klinik gegen die Gebühr von 50 Franken aushändigte. Dass sie die Arznei jeweils wieder ausspuckte, war den Ärzten entgangen. «Ich wollte nicht abhängig werden», begründet Rocco ihre Verweigerung. Doch zu Hause fiel sie in eine Depression, war antriebslos, verzog sich wochenlang in der Wohnung. Inzwischen hat sie sich erholt und arbeitet wieder als Primarlehrerin. Aber die Demütigung ist geblieben. Sie gerät jedes Mal in Panik, wenn sie ein Ambulanzfahrzeug hört.

Angesichts überfüllter Kliniken wehren sich Fachärzte gegen den Ansturm unfreiwilliger Patienten, regt sich auch unter Psychiatern Widerstand. «Wir sind nicht der rechte Arme der Polizei», sagt Georges Klein, leitender Arzt der Klinik Malévoz in Monthey VS. Mit Sorge beobachtet er, wie die Psychiatrie zu
einem Mittel der öffentlichen Sicherheit missbraucht wird: «Das ist nicht unser Job.» Auch Jean-Pierre Pauchard, Direktor des Psychiatriezentrums Münsingen, kritisiert die grosszügige Einweisungspraxis von Ärzten und Behörden. «Heute reicht bereits jede Form von sozialer Auffälligkeit aus, um jemanden in eine
Klinik zu bringen.» Schon eine Drohung im Affekt genüge, unabhängig davon, ob der Betroffene eine psychische Krankheit aufweise oder bloss ein soziales Problem habe. Mangelndes Verantwortungsbewusstsein sein oder schlicht Bequemlichkeit führe zu dieser Entwicklung. «Sobald jemand eine Drohung ausstösst, sich oder anderen etwas anzutun, oder das soziale System zu sehr belastet, will niemand mehr etwas mit dem Fall zu tun haben», stellt Klinikdirektor Pauchard fest. Der Betroffene wird in die Psychiatrie abgeschoben; abweisen können ihn die Kliniken nicht, es besteht
Aufnahmezwang. Dass sich die Anstalten für eine Behandlung nicht eignen, dass die Patienten nicht therapiert, sondern nur verwahrt werden können, halte die Ärzte nicht von ihrer Einweisungspraxis ab, wundert sich Pauchard.

Die gesetzliche Regelung wäre klar. Damit jemand gegen seinen Willen in eine Klinik eingewiesen werden kann, muss ein so genannter Schwächezustand vorliegen, «Geisteskrankheit, Geistesschwäche,Trunksucht, andere Suchterkrankungen oder schwere Verwahrlosung», wie das Zivilgesetzbuch aufzählt.
1981 war der Paragraf ins ZGB aufgenommen worden zum Schutz der Patienten vor unrechtmässigen Einweisungen. «Doch heute wird er vielfach gegen die Patienten verwendet, indem die Voraussetzungen für eine Fürsorgerische Freiheitsentziehung strapaziert werden», beobachtet Klinikdirektor Pauchard.

Nicht alle laufen Gefahr, gegen ihren Willen in eine Klinik eingewiesen zu werden. «Es trifft meist Menschen, die in einer persönlichen Krise stecken oder soziale Probleme haben», sagt Rechtsanwalt Martin Schnyder. Er ist, nebenamtlich, Generalsekretär des Vereins Psychex, der unentgeltlich Rechtsbeistand bei FFE und Zwangsmedikation leistet. «Es ist offensichtlich, dass hier der Staat und die
Gesellschaft ihre Macht gegen Missliebige ausspielen.» Jedes Jahr melden sich zehn Prozent mehr Betroffene bei Psychex, die sich gegen ihre Einlieferung zur Wehr setzen wollen. «Offenbar ist es für Behörden bequemer, gesellschaftlich unproduktive Menschen in einer Klinik mit Medikamenten ruhig zu stellen», kritisiert Schnyder. Seiner Ansicht nach könnten die meisten der Betroffenen ambulant behandelt werden, anstatt unter Freiheitsentzug massivstem Zwang ausgesetzt zu werden.

Es ist nicht das erste Mal, dass der Fürsorgerische Freiheitsentzug von Ärzten und Behörden missbraucht wird, um sich gesellschaftliche Probleme vom Hals zu schaffen. Ende der Achtzigerjahre sollte die Drogenszene mittels FFE in Schach gehalten werden. Heute dominieren die Angst vor Amokläufen und der Wunsch nach totaler Sicherheit die Praxis.

Wie hilflos die Behörden agieren, zeigt der Fall von L. An einem Freitag Anfang Februar 2003 hatte der 46-Jährige die Polizei gerufen, nachdem ihm seine Freundin den Zugang zur gemeinsamen Wohnung verweigert hatte. Die Polizisten rückten aus, nahmen ihn mit auf den Posten. Nach einem nur fünfminütigen Gespräch ordnete ein Arzt die Einweisung per FFE an. Die «Konsultation» wurde L. verrechnet. «Die Polizei wollte meinen Fall rasch vor dem Wochenende erledigen», sagt er rückblickend.
In Handschellen wurde er in die Klinik Hard gefahren. In der Klinik selbst erwartete ihn ein subtiles Spiel mit Drohungen. «Entweder man nimmt ein Beruhigungsmittel, oder man kommt ins Isolationszimmer», sagt L., eine drei auf drei Meter grosse Zelle mit einer Matratze als einziges Möbelstück. So schluckte L. schliesslich ein Valium, um auf die allgemeine Abteilung zu kommen. Ein vertieftes Gespräch mit einem
Arzt fand in den sechs Tagen bis zu seiner Entlassung nicht statt, auch keinerlei Therapie. L. kam rasch frei, weil er gleich bei seiner Einweisung Rekurs eingelegt hatte; das Gericht hatte in der Folge keinerlei Gründe für einen weiteren Klinikaufenthalt gesehen.

Angesichts der Willkür der Verfahren steigt auch beim Gesetzgeber das Unbehagen. Deshalb soll nun mit der Revision des Vormundschaftsgesetzes Abhilfe geschaffen werden. So wird die Kompetenz für FFE-Einweisungen neu auf Bundesebene geregelt. Heute haben die meisten Kantone dieses Recht noch umfassend an die praktizierenden Ärzte delegiert, womit der intensive Gebrauch gefördert wird.
«Hausärzte verfügen im Gegensatz zu Psychiatern nicht über die nötige Erfahrung, weshalb sie die momentane Reaktion einer Person oft falsch einstufen», kritisiert der Psychiater Thomas Maier. Generell wird bei den Verfahren geschlampt, hat Maier bei der Auswertung der ärztlichen FFE-Zeugnisse in der Klinik Hohenegg in Meilen gezeigt. 80 von 100 Papieren, die zwischen 1997 und 2000 ausgestellt
wurden, waren formal oder inhaltlich mangelhaft.

Handlungsbedarf besteht auch bei der Regelung der Zwangsmassnahmen. Noch immer ist Gewalt im psychiatrischen Alltag allgegenwärtig. Auf 84 Prozent der Akutstationen werden in heiklen Situationen Zwangsinjektionen verabreicht, hat eine Umfrage in 32 psychiatrischen Kliniken der Schweiz vor zwei Jahren gezeigt. In 82 Prozent der Institutionen ist die Isolation schwieriger Patienten vorgesehen, in 77
Prozent der Stationen werden mechanische Zwangsfixierungen vorgenommen.
Dabei sind die Unterschiede zwischen den Kantonen erheblich. So kennen Basel und das Tessin eng gefasste Regeln, während Sankt Gallen die Kliniken pauschal zu Zwangsbehandlungen ermächtigt. «Der grassierende Föderalismus auf diesem Gebiet, in dem es um Menschenrechte mit universaler Geltung geht, ist sehr problematisch», sagt Jürg Gassmann, Zentralsekretär der Stiftung Pro Mente Sana. Auch Thomas Geiser, Rechtsprofessor an der Universität Sankt Gallen, plädiert für eine restriktive Regelung. «Es gibt auch im psychischen Bereich ein Recht auf Krankheit. Niemand darf deshalb über längere Zeit gegen seinen Willen mit Medikamenten behandelt werden.»
Die meisten FFE-Patienten werden nach ein paar Wochen aus der Klinik entlassen. Hans Ulrich Irminger, 49, dagegen ist bereits seit mehr als vier Jahren hospitalisiert. Nach einem Strafverfahren hatte er fast zwanzig Jahre lang in einer Klinik zugebracht, vor fünf Jahren kam er in Freiheit, doch nach einem
handgreiflichen Streit mit seiner Schwester wurde ein FFE gegen ihn ausgesprochen. Seither wird er in der Klinik Schlössli in Oetwil am See zur Einnahme eines starken Neuroleptikums gezwungen. «Das Medikament verunmöglicht es mir zu denken, meine Sexualität leidet, ich kann kaum schlafen, und ich habe dreissig Kilo zugenommen», sagt Irminger. Wenn er die Wahl hätte, würde er lieber in ein
Gefängnis gehen, «dort kann mich niemand zu den Medikamenten zwingen». Solange er die Arznei nicht freiwillig nimmt und sie bei einem Austritt aus der Klinik absetzt, kommt er nicht frei. Eine ausweglose Situation, die einer Verwahrung auf unbestimmte Frist entspricht.

Noch diesen Sommer soll der Entwurf zum Vormundschaftsgesetz in die Vernehmlassung geschickt werden. Bis das neue Gesetz in Kraft ist, wird es allerdings noch ein paar Jahre dauern. Ein paar Jahre, in welchen auffällige Menschen je nach Wohnkanton weiter damit rechnen müssen, gegen ihren Willen in eine Klinik eingesperrt und zur Einnahme von Medikamenten gezwungen zu werden.

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