Sonntag, 11. November 2007

Staatlich geförderte Geschichtsverfälschung

Die bedenkliche Mentalität der Bergier-Kommission zeigt sich des weitern beim Thema "Judenstempel" (J-Stempel). Obwohl sich der Vorwurf, dieser basiere auf einem "Schweizerischen Vorschlag", 1998 als Irrtum erwies, hielt die Kommission diesen Vorwurf einfach aufrecht.

Nach dem Anschluss Österreichs ans Deutsche Reich am 12.3.1938 nahmen die Grenzübertritte von Flüchtlingen in die Schweiz massiv zu. Damit wurden Massnahmen unumgänglich, weil viele Einreisende nicht mehr zurückkehren wollten oder konnten. Zur Kontrolle wollte die Schweiz die Visumspflicht für alle Deutschen (inkl. Österreicher) wieder einführen. Dagegen wehrte sich jedoch Nazi-Deutschland. Leider liess sich die Schweiz – statt auf dem generellen Visumszwang zu beharren – schliesslich dazu bewegen, den Vertrag vom 29.9.1938 zu unterzeichnen, wonach Nazi-Deutschland die jüdischen Pässe mit einem "Merkmal" versehen sollte und die Schweiz nur die Inhaber dieser gekennzeichneten Pässe der Visumspflicht unterstellte. Als "Merkmal" wählten die Deutschen einen roten J-Stempel, analog zur "Kennkarte", welche die Juden zum innerdeutschen Gebrauch bereits obligatorisch tragen mussten.

Wie eine Bombe schlug am 31.3.1954 ein Artikel des "Schweizerischen Beobachters" ein mit dem Vorwurf, die Schweiz habe eine Pass-Markierung nicht nur im genannten Vertrag akzeptiert, sondern sogar den J-Stempel veranlasst: Der "Beobachter" schrieb damals, "Dem Schweizer Rothmund (damals oberster Schweizer Fremdenpolizeichef) kommt das schreckliche Verdienst zu, den Nationalsozialisten den Weg zur amtlichen Kennzeichnung der Juden gebahnt zu haben".

Diese "Beobachter"-Meldung war mehr als vierzig Jahre lang die Grundlage für falsche Vorwürfe gegen die Schweiz. Insbesondere ab 1995 häuften sich falsche Anschuldigungen, vom amerikanischen Unter-Staatssekretär Stuart Eizenstat (die Schweiz hat "die Nazis von der Notwendigkeit des J-Stempels in jüdischen Pässen überzeugt"; im Vorwort zum "Eizenstat-Bericht" 7.5.1997), über den Schriftsteller und ETH-Professor Adolf Muschg ("Herr Heinrich Rothmund war bekanntlich der Erfinder des J-Stempels"; im Buch "O mein Heimatland", 1998) bis hin zu Bundesrätin Ruth Dreifuss, die – wie bereits zitiert – ausgeführt hatte, Juden seien in den sicheren Tod zurückgeschickt worden, "dafür erfanden und verlangten Schweizer Beamte und der Bundesrat den J-Stempel". Besonders zu betonen ist, dass sich sogar der starke Mann der Bergier-Kommission, Prof. Georg Kreis, hatte täuschen lassen, als er schrieb: "Bekannt ist der vom Eidgenössischen Justiz- und Polizeidepartement eingebrachte Vorschlag, die Pässe mit einem J-Stempel zu versehen"; ("Weltwoche" vom 21.5.1997).

Es ist das Verdienst eines "einfachen Bürgers", des ehemaligen Bundes
beamten Max Keller, dass das Bild massgeblich korrigiert werden musste: Beim gründlichen Aktenstudium erkannte er, dass bei den Judenstempel-Vorwürfen etwas nicht stimmen konnte. Schliesslich musste der heute noch lebende, damalige "Beobachter"-Chefredaktor Peter Rippmann 1998 nach längerer Korrespondenz mit Max Keller zugeben, es sei "tatsächlich eine Beobachter-Panne einzugestehen: Die Rollen des deutschen Gesandten Köcher und (des Schweizers) Rothmund sind fatalerweise vertauscht worden" [1]. Im Klartext: Chefredaktor Rippmann selbst hatte 1954 die zwei Personen (in der Tat "fatalerweise") verwechselt und Köchers Worte ganz einfach irrtümlicherweise Rothmund in den Mund gelegt. Damit war der Mythos des angeblichen schweizerischen "Vorschlags" geboren.

Dem "Beobachter" ist hoch anzurechnen, dass er nach dem Eingeständnis seines ehemaligen Chefredaktors Peter Rippmann sofort reagierte: In Ausgabe 18/1998 entschuldigte er sich und korrigierte den alten Vorwurf nach 44 Jahren endlich und unmissverständlich: "Damit ist klar; beim Judenstempel handelt es sich um einen deutschen Vorstoss".

Wer jedoch gedacht hätte, die Bergier-Kommission würde sich dieser neuen Erkenntnis anschliessen, sah sich getäuscht. Im Gegenteil: Ausdrücklich wurde im "Flüchtlingsbericht" aufgeführt, "die 1998 in der Presse veröffentlichten Artikel haben keine neuen Erkenntnisse in Bezug über den Wissensstand gebracht" (Kapitel 3, Fussnote 10). Bergier-Kommissionsmitglied Georg Kreis wandte sich sogar mit einer persönlichen Stellungnahme an den "Beobachter", in der er sich über Max Keller als "neunmalklugen Revisionisten [2] und pseudopräzisen Differenzierer" mokierte. Nicht genug damit. In seinem Buch "Die Rückkehr des J-Stempels" wurde er auf S. 112 gegen Max Keller ausfällig und fügte scheinbar zufällig bei: "Max Keller, Dr. iur., zur Zeit der Frontistenbewegung jung gewesen". Damit brachte er Max Keller auf perfide Art in den Dunstkreis der "Frontisten" (Nazianhänger).

Dieses Vorgehen allein wirft ein bedenkliches Licht auf die Art und Weise, wie Prof. Georg Kreis mit Kritikern umzugehen pflegt. Noch bedenklicher ist jedoch, dass er als Berichtsleiter des "Flüchtlingsberichts" durchzwängen konnte, dass darin festgehalten wurde, es gäbe bezüglich J-Stempel "keine neuen Erkenntnisse". Das ist inakzeptabel. Die Millionen von Franken für den Bergier-Bericht wurden nicht bewilligt, damit ein beleidigter Professor das eigene Land mit einer falsch dargestellten Judenstempel-Geschichte anschwärzen kann, um zu vertuschen, dass er sich bisher getäuscht hatte.

Am Rande sei erwähnt, dass die Kommission – wenn sie sich überhaupt mit dem J-Stempel beschäftigte – auch die für unser Land entlastenden Argumente hätte beleuchten müssen, nicht nur die belastenden. Zwar war es ein Fehler, dass die Schweiz den Vertrag vom 29.9.1938 akzeptierte, aufgrund dessen Nazideutschland den J-Stempel in die Reisepässe stempelte. Aber damals hatte noch nicht einmal die "Reichskristallnacht" stattgefunden, niemand konnte die fürchterliche Vernichtungspolitik gegenüber den Juden voraussehen. Da weniger als ein Jahr später der Zweite Weltkrieg begann, führte die Schweiz trotz dieses Vertrags die allgemeine Visumspflicht ein. Die praktische Relevanz des J-Stempels blieb auch deshalb klein, weil Nazideutschland am 17.8.1938 (also noch vor Abschluss des erwähnten Vertrags!) im Zuge seiner Rassengesetze verfügte, dass alle jüdischen Personen als zweiten Vornamen Sara oder Israel annehmen mussten. Somit konnte schon bald jedermann anhand der im Pass eingetragenen Namen unabhängig vom J-Stempel feststellen, dass der Passinhaber nach nationalsozialistischer Gesetzgebung als Jude galt. Schliesslich hätte erwähnt werden können, dass seit dem Zweiten Weltkrieg auch in Schweden wiederholt Stimmen laut wurden, die den J-Stempel den Schweden in die Schuhe zu schieben versuchten.

Luzi Stamm

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