In der Falle
Wie die Schule von Reformwahn und Bildungsbürokratie erdrückt wird
von Martin Beglinger
Vor einem knappen Monat, am 21. April 2010, sassen sämtliche Baselbieter Lehrkräfte in der Basler St.-Jakobs-Halle; 3000 Leute und eine Stimmung, die ungefähr so schlecht war wie an der Generalversammlung der UBS, die ein paar Tage zuvor am selben Ort getagt hatte. Der Baselbieter Bildungsdirektor Urs Wüthrich (SP) versuchte, der Lehrerschaft seinen Reform- und Sparkurs zu verkaufen, doch der Mann hatte einen sehr schweren Stand damit. So stellte der Ettinger Sekundarlehrer Daniel Vuilliomenet einen Antrag, wie man ihn im ganzen Land noch nie gehört hat: Er verlangte einen sofortigen Stopp sämtlicher Volksschulreformen. Vuilliomenet drang zwar nicht durch damit, doch 746 Lehrerinnen und Lehrer stimmten dem radikalen Vorhaben zu, und ganze 1000 enthielten sich der Stimme, was kaum anders zu deuten ist als Zeichen «tiefster Verunsicherung der Lehrerschaft einerseits durch die Reformflut und anderseits durch den undurchsichtigen Führungs- und Planungsstil der Bildungsdirektion», wie Bea Fünfschilling sagt, die Präsidentin des Baselbieter Lehrervereins.
Nicht minder reform- und bürokratiekritisch klingt es in Kantonen wie Bern, Solothurn, St. Gallen, Luzern — und Zürich. Das Stadtzürcher Primarschulhaus Allenmoos hat Mitte April seine «Aktion Schule im Sinkflug» gestartet. «Unsorgfältige Reformen und überbordende Administration fressen die Zeit für die Vorbereitung des Unterrichts und die Betreuung der Kinder — die Kinder kommen zu kurz», heisst es in einer Petition. Ein halbes Dutzend weiterer Schulen hat sich seither mit der Aktion solidarisiert, innerhalb von vierzehn Tagen haben 4000 Personen ihren Namen unter diesen Protest gesetzt.
Die Klage unter vielen der rund 100 000 Lehrerinnen und Lehrer in der Schweiz ist überall die gleiche: Es ist die Klage über einen Reformwahn, der die Schweizer Schulen in den letzten fünfzehn Jahren überzogen hat. Und mit ihm eine Bürokratisierungswelle wie nie zuvor. Von Harmos bis zur schulischen Integration sind in der Schweiz «Hunderte» von Reformprojekten auf allen Stufen am Laufen, schätzt der Bildungsforscher Urs Vögeli-Mantovani. Den genauen Überblick haben selbst die Spezialisten verloren.
Das Gleiche gilt für die Bildungsbürokratie. Ein hoffnungsloses Unterfangen, wer dieses Dickicht in Zahlen zu fassen versucht. Alle, die es versucht haben, sind kläglich gescheitert. Weil auch die Bildungsdirektionen selber dauerreformiert werden, lässt sich nichts miteinander vergleichen. Sicher ist nur, dass «das System wächst und wächst und unter dem Strich immer teurer wird», so das Fazit von Samuel Ramseyer, Präsident der Bildungskommission im Zürcher Kantonsrat, gegenüber dem «Tages-Anzeiger».
Das Grosse zeigt sich auch im Kleinen: Der langjährige Schulpsychologe einer Zürcher Vorortsgemeinde hat ermittelt, dass von 1975 bis 2008 die Schülerzahlen und Klassenlehrstellen um je 20 Prozent gestiegen sind, jene für die schulische Heilpädagogik hingegen um 155 und für Schulverwaltung gar um 355 Prozent. (Die Zahlen stammen aus Jürg Jegges Buch «Fit und Fertig».) Der Zürcher Psychologe und Hochschuldozent Jürg Frick schrieb dazu im «Tages-Anzeiger»: «Die Bürokratisierung nimmt von Jahr zu Jahr zu: Papiere, Konzepte, Programme, Formulare, Untersuchungen, Befragungen, Statistiken, Tabellen, Berichte, Leistungsvereinbarungen. (…) Statt die Kräfte der Lehrerinnen und Lehrer mit Reformen, Sitzungen und Projekten zu verzetteln, braucht es hier eine radikale Umkehr. Es braucht wenige, gut ausgewählte Reformen, die mit den Beteiligten umgesetzt werden.»
Abhängigkeiten
Frick zählt zu den wenigen, die solche Kritik überhaupt öffentlich zu äussern wagen. Viele Bildungsfachleute gehen hingegen sofort in Deckung, wenn man sie auf Stichworte wie «Bildungsbürokratie» oder «Reformwahn» ansprechen will. Einer sagt: «Das sind sehr spannende Themen, aber zu heikel für mich. Ich kann es mir nicht leisten, mich mit meinen Auftraggebern anzulegen.» Anton Strittmatter, der kampferprobte langjährige Chefpädagoge des Schweizer Lehrerverbandes LCH, sagt dazu: «Sehr viele Erziehungswissenschaftler sind ein Stück weit in die Prostitution geraten, weil sie am Tropf der Bildungsdirektionen hängen.»
Einer, den solche Rücksichtnahme herzlich wenig kümmert, ist Roland Reichenbach, 48, Pädagogikprofessor an der Universität Basel. Reichenbach sitzt in seinem grosszügigen Büro, das in der prächtigen Orangerie eines barocken Landsitzes aus dem 18. Jahrhundert zu finden ist. Der Mann, ein Hüne mit wallendem, dunkelbraunem Haar, gebürtig aus Gstaad, ist der schnellstredende Berner, den man je angetroffen hat, ein ebenso schneller Denker sowie «ein grosser Freund des arabischen Sprichwortes, dass ein schnelles Kamel haben muss, wer die Wahrheit sagt».
Roland Reichenbach passt in keine Schublade. Er ist kein Linker, kein Rechter und gewiss auch kein Anwalt der politischen Korrektheit, wohl aber der eloquenteste Reformkritiker im Land. Was nicht heisst, dass er gegen jede Reform wäre. Er weiss, dass er gelegentlich «Applaus von der falschen, der konservativen Seite» kriegt, was ihn gar nicht freut, weil er sich beileibe nicht als Romantiker fühlt, der früher alles besser fand. Reichenbach nimmt einzig seine Freiheit als Wissenschaftler in Anspruch, mehr als andere jene Frage zu stellen, die der Psychoanalytiker Aron Bodenheimer einmal «obszön» nannte: Die Frage nach dem Warum. Obszön deshalb, weil bei dieser typischen Kinderfrage die Gegenseite sofort unter Legitimationszwang gerät. Wer etwas verlangt, muss einsehbare Gründe vorbringen können, sonst wird die Sache schwierig.
Die Concorde-Falle
Sechs Jahre lang war Reichenbach Professor an der norddeutschen Universität Münster, bevor er auf den Lehrstuhl nach Basel berufen wurde. Noch bevor er dort im Februar 2008 begann, hielt er im Herbst 2007 ein fulminantes Referat vor der Aargauer Lehrerschaft über die «Concorde-Falle» und das «erfolgreiche Scheitern» von Bildungsreformen. Die Reaktion? Wie gehabt. Begeisterung an der Basis, ganz im Gegensatz zum damaligen Bildungsdirektor Rainer Huber (CVP), dessen Kanton (via Fachhochschule Nordwestschweiz) den Lehrstuhl von Reichenbach mitfinanziert. Huber war derart verärgert über diesen Auftritt, dass Reichenbach sich ernsthaft fragte, ob er tatsächlich in die Schweiz zurückkehren solle, an einen Ort, an welchem die Politik einzelnen Wissenschaftlern offenbar vorschreiben möchte, was sie sagen sollen und was nicht. Er trat seine Stelle dann trotzdem an — und bekam aus Halbdistanz, aber ohne die geringste Schadenfreude mit, wie Rainer Huber, der Ambitionierteste unter den Schweizer Bildungspolitikern, ein Jahr später mit Getöse scheiterte. Zunächst wurde sein grosses Reformprojekt «Bildungskleeblatt» an der Urne versenkt und kurz darauf der Bildungsdirektor selbst.
Die Concorde-Falle: ein Begriff, den Reichenbach im Buch «Die Logik der Unvernunft» des ungarischen Spieltheoretikers László Mérö entdeckt hat. Gemeint ist dies: Je länger man einen schlechten Film schaut, umso eher schaut man ihn bis zum Schluss. Je länger man auf einen Bus wartet, desto unwahrscheinlicher ruft man ein Taxi, weil der Bus zwischenzeitlich ja doch eintreffen könnte. Irgendwann wird es zu spät, um aufzuhören. Nicht anders bei der Concorde: Schon früh im Laufe der Entwicklung dieses Überschallflugzeugs war allen Beteiligten klar, dass das Projekt ein finanzielles Desaster sein würde. Jenseits jeder Rentabilität. Aber es steckte viel zu viel politisches Prestige drin, als dass die Verantwortlichen vernünftigerweise Übungsabbruch beschlossen hätten. So wurde die Concorde zum Prototypen für ein «erfolgreich gescheitertes» Projekt: offiziell beklatscht, inoffiziell ein Fehlschlag.
Exakt diesen Mechanismus sieht Reichenbach auch bei vielen Schulreformen am Werk, ob bei Harmos oder der schulischen Integration. Nicht dass er alles unnötig oder schlecht daran fände, denn früher war durchaus nicht alles besser. Für ihn beginnen die Probleme schon vor dem Start, nämlich bei der Begründung von Reformen: «Die behaupteten Defizite, mit denen Reformen behoben werden sollen, sind oft nicht wissenschaftlich abgeklärt worden.» Stattdessen werde pausenlos reformiert und innoviert, aber niemand wisse mehr warum.
Immer schön aktiv
Der Zeitgeist der letzten zwanzig, dreissig Jahre hielt Veränderung a priori für gut und den Status quo für langweilig. Wer etwas beim Alten belassen wollte, galt rasch als behäbig, verschlafen, von gestern. Oder zynisch. «Wenn die Politik oder die Bildungsverwaltung irgendwo ein Problem entdeckt hat, kann sie schlecht nichts tun, auch wenn niemand glaubt, dass es wirklich hilft. Untätigkeit könnte als Zynismus ausgelegt werden.» Oder wie Reichenbach in seinem Aargauer Vortrag mit sarkastischem Unterton gesagt hatte: «Hauptsache immer schön aktiv bleiben und Dinge umkrempeln, den maroden Laden ausmisten, denn irgendwo sind alle Läden marode, alle Institutionen ineffektiv, alle Schulen unwirksam, alle Lehrerinnen und Lehrer unprofessionell… Ein weites Feld also, in dem es immer etwas zu verändern gibt.»
Die Politik will handeln, aktiv sein, am liebsten gar an der Spitze, um als «Pionierin» gelobt zu werden. Es geht ja immerhin um Bildung, die mehr denn je als goldenes Tor zu einem guten Leben gilt. Weil die Politik selber unter steigendem Legitimationsdruck von Eltern, Medien und Wirtschaft steht, braucht sie ein überzeugendes Alibi: die Wissenschaft. Pädagogen, Erziehungswissenschaftlerinnen und Bildungsforscher sollen den Reformbedarf begründen. «Evidence based policy», evidenzbasierte Politik heisst der Modebegriff, der quasi ein objektives Gütesiegel suggeriert. Doch genau daran zweifelt Reichenbach: «Es wird zwar immer behauptet, Reformen förderten die Qualität des Unterrichts, aber den Beweis für diese Allerweltsthese bleiben die Reformer meistens schuldig.» Erst recht schwierig wird es, wenn ein Forscher gegen den Strom schwimmt: «Für Skepsis gibt es in diesem Bereich kaum Forschungsgelder», weiss Reichenbach aus Erfahrung. Umso grösser wird die Gefahr, dass die Forschung gefällige Gutachten für Politik und Bildungsverwaltung abliefert und mit neuen Aufträgen belohnt wird.
Die Zauberwörter
Wer reformieren wolle, sagt Reichenbach, müsse das Bestehende schlecht- und das Künftige schönreden, sonst gäbe es ja keinen Grund zum Verändern. Was es aber zweifellos gibt, ist eine Reformrhetorik, und die besteht nach Reichenbachs Erfahrung aus einem ganzen Schwall von Zauberwörtern, lauter «wohlklingenden und emotional aufgeladenen Begriffen, bei denen alle nicken und gegen die keiner etwas haben kann»: zum Beispiel Fortschritt. Innovation. Modernisierung. Koordination. Qualität. Transparenz. Oder: aktiv, autonom, selbstständig, sozial. Das Problem dieser Begriffe ist bloss, dass sie «ausgehöhlt sind» (Reichenbach). Wer will schon rückschrittliche Lehrer? Oder passive, abhängige und inkompetente Schüler?
Paradebeispiel für eine von vielen Zauberwörtern begleitete Reform ist die Einführung von Frühenglisch als zweite Fremdsprache. Das schillerndste heisst in diesem Fall Hirnforschung. Wenn «die Hirnforschung» (angeblich) sagt, je früher man eine Fremdsprache lerne, umso besser, dann können ja wohl nur Ignoranten und Hinterwäldler etwas dagegen haben. Man dürfe die Kinder nicht mit «Lernverboten» belegen, hiess eines der Argumente, mit denen man die letzten Kritiker mundtot machte. Wie genau und mit welchen Mitteln das alles funktionieren solle, das fragten nur noch die Praktiker. Hauptsache es wurde möglichst rasch eingeführt, um zu signalisieren, dass auch die Volksschule eine «moderne» Schule ist. Dass viele Lehrkräfte sehr skeptisch waren, buchte die Bildungspolitik und -verwaltung als übliches Gejammer eines notorisch veränderungsunwilligen Berufsstandes ab. Unterdessen ist die frühe Einführung zweier Fremdsprachen durchgedrückt worden, sie kostet Millionen. Die Resultate sind zwiespältig bis ernüchternd, weil man gemerkt hat, dass der Lernerfolg sehr auf die Umstände ankommt, und die passen häufig nicht zusammen. Doch längst steckt zu viel Geld und Prestige in dem Grossprojekt, als dass die Verantwortlichen selbstkritisch über die Bücher gingen. Kurz: «Die Concorde-Falle schnappt zu», wie auch Anton Strittmatter vom LCH feststellt.
Die Iso-9000-Schule
Mitte der Neunzigerjahre war bereits eine andere Englisch-Welle über die Schweiz und ihre Schulen geschwappt. Es war die «New Public Management»-, «Ranking»-,«Benchmarking»-, «Input»-, «Output»- und «Performance»-Welle. Spätestens mit der ersten Pisa-Runde im Jahr 2000, im Grunde aber schon vorher, kam sie hierzulande in Gestalt von Ernst Buschor an, jenem Professor für Finanzwirtschaft und Finanzrecht, der sich als Bildungsdirektor die Radikalreform der Zürcher Volksschule zum Ziel gesetzt hatte. Dahinter stand der Glaube eines Ökonomen an die totale Steuer-, Mess- und Kontrollierbarkeit von Bildungssystemen; Schule als ISO-9000-Projekt. Doch an Bildung als durchstandardisiertem Industriezweig glaubt Reichenbach so wenig wie zum Beispiel der Berner Pädagogikprofessor Walter Herzog.
In den USA, wo sie ihren Ursprung hatte, ist diese Welle bereits wieder verebbt, auch weil man gemerkt hat, dass die Schulen im Gefolge des Ranglistenwahns immer mehr «teaching to the test» betreiben, also nicht breite Bildung, sondern kurzfristiges Eintrichtern, um möglichst gute Testresultate zu erreichen. In der Schweiz hingegen flutet diese Reformwelle weiter.
Ein weiterer Begriff aus der grossen Kiste der Reformzauberwörter ist «Qualitätsmanagement». «Hat jemand etwas gegen Qualität? Natürlich nicht», sagt Reichenbach. Trotzdem verdreht er die Augen bei diesem Begriff, genauso wie Tausende von Lehrkräften oder LCH-Vertreter Anton Strittmatter. Denn sie machen alle die gleiche Erfahrung: Anstatt die (wie auch immer definierte) Qualität zu verbessern, wird in erster Linie eine bürokratische Papierflut provoziert: «Da schreibt man sich in Hunderten von Schulhäusern während Tausenden von Stunden die Finger mit irgendwelchen Papieren wund, man füllt Ordner um Ordner mit Titeln wie ‹total quality management›, doch letztlich macht man bloss die Lehrkräfte verrückt», wie Strittmatter sagt. Auch hinter den «externen Schulevaluationen» vermag der LCH-Vertreter selten mehr als «sündhaft teure, letztlich aber sinnlose Fassadenmalerei» zu erkennen, die in erster Linie als politische Legitimation für die vielen, vielen dafür geschaffenen Jobs in der Bildungsverwaltung diene.
Jobs, Prestige, Macht
Verkauft wird das alles mit Vorliebe unter dem Zauberwort «Professionalisierung». Klingt immer gut. Wer mag es schon «unprofessionell»? Doch wer ein Metier «professionalisieren» (und folglich reformieren) will, der ruft nach Ausbildung, Zertifikaten, Investitionen, sagt Reichenbach. Das möge in vielen Fällen berechtigt sein, und doch stelle sich die Frage, ob denn die «Profis» in jedem pädagogischen Bereich immer bessere Arbeit leisteten als die «Amateure». Reichenbach selber war mit 16 Jahren ans Berner Lehrerseminar gegangen und mit 21 ausgebildeter Primarlehrer. In Basel musste ein Lehrer eine Matura haben, in Bern hingegen nicht. «Waren die Lehrer in Basel deshalb nachweislich besser als in Bern? Darüber weiss man nichts!», sagt Reichenbach.
Trotzdem ist auch die Lehrerausbildung totalrefomiert worden mit dem Umbau der früheren praxisorientierten Seminare und Pädagogischen Hochschulen, die jetzt auch forschen müssen und theorielastiger werden und damit selber wieder zu Treibern neuer Reformen. Das müsse keineswegs falsch sein, sagt Reichenbach, der dezidiert für die Akademisierung der Primarlehrerinnen- und Primarlehrerausbildung ist. Doch bei vielen Reformen im Bildungsbereich bleibe offen, ob sie richtig und überhaupt nötig sind. «Das ist eben ein Grundproblem aller Reformen: dass die Reformer so tun müssen, als wüssten sie alles schon vorher besser.»
Sicher hingegen ist: Wer Professionalisierung verlangt, der spricht immer auch von Jobs, Prestige, Macht. Tatsächlich haben die Reformschübe zu einem Boom von Beratern und Experten geführt, die alles Neue mit Kursen, Gutachten und Weiterbildungen begleiten. Respektive kontrollieren. Genaue Zahlen gibt es nicht, es dürften etliche Tausend sein. Manche von ihnen standen früher selber vor Schulklassen und wechselten dann ins Berater- , Verwaltungs- und Expertenmetier, wohl auch deshalb, weil es mit weniger Mühsal und Verantwortung verbunden ist, als täglich vor einer Klasse mit 25 Pubertierenden zu bestehen.
Das klingt natürlich wenig schmeichelhaft. Reichenbach will den Beratern und Experten «durchaus nicht unedle Motive unterstellen». Jede und jeder will das Beste machen, helfen, Probleme lösen — aus seiner individuellen Logik heraus. Man glaubt durchaus an den Sinn des eigenen Tuns — wie jeder stolze Concorde-Pilot. Die Frage ist bloss, ob daraus auch das Beste für das grosse Ganze resultiert. Und da setzt der Pädagoge Reichenbach viele Fragezeichen.
Das Reformbusiness
Unbestritten ist allerdings, dass das Reformmetier seine Eigendynamik entwickelt. Es funktioniere wie das Gesundheitswesen, sagt Reichenbach: je mehr Ärzte, desto mehr Kranke. Der Berner Erziehungswissenschaftler Fritz Osterwalder erklärt: «Jede Verwaltungsstelle im Bildungswesen erfindet neue Reformen, um ihre eigene Existenz zu legitimieren.» Und der Ökonomieprofessor Mathias Binswanger, der an einem Buch über Reformzwänge und sinnlose Wettbewerbe arbeitet, schrieb kürzlich im Magazin «GDI»: «Jeder neue Präsident, Rektor, Direktor oder Chefbeamte einer öffentlichen Organisation muss seine Fähigkeiten zuerst einmal mit einer Reform unter Beweis stellen.» Hierauf zitiert Binswanger einen früheren HSG-Rektor mit dem Satz: «Wir müssen nicht rechtfertigen, weshalb wir Reformen durchführen, sondern weshalb wir keine Reformen durchführen.» Für den Ökonomen Binswanger ist es nur eine Frage der Konsequenz, dringend von einem nationalen Bildungsdepartement abzuraten, das man derzeit in Bern einrichten will. «Ein Bildungsdepartement würde vermutlich alles noch schlimmer machen, Reformen würden noch mehr zum Selbstzweck.»
So weit will Reichenbach nicht gehen, auch wenn er den Schlagworten ebenfalls misstraut, die dahinter stehen. Und erst recht der Vorstellung eines präzise steuer- und kontrollierbaren Bildungssystems. Im Grunde hält er das für eine sorgsam gepflegte Illusion. Dass eine Wirkung erzielt wird mit Reformen, das steht für ihn ausser Frage. Er bezweifelt nur, «ob die gewollte Wirkung wirklich kontrollierbar ist. Ich bin da bescheiden bis skeptisch.»
Hinzu kommt etwas Grundsätzliches: «Wer reformieren will, muss wissen, wohin er will. Doch wo liegt das Ziel? Man weiss nicht mehr, wo die Reise hingeht.» Ausser in der Technik glaubten die Menschen kaum mehr an Fortschritt, sagt Reichenbach. «Nehmen Sie das sozialdemokratische Milieu, das am nächsten bei den Schulreformen steht. Die liberalen, aufgeschlossenen Eltern sagen ihren Kindern: ‹Werde nicht schwanger! Mache deinen Schulabschluss! Nimm keine Drogen! Aber sonst kannst du machen, was du willst, es ist dein Leben.› Das klingt zwar liberal, aber es verdeckt nur die eigene Ratlosigkeit.» Lieber wolle man begleiten als führen, sagt der vierfache Vater Reichenbach, doch das bedeute in manchen Situationen nur, sich aus der Verantwortung zu stehlen.
Dasselbe in der Pädagogik. Reichenbach beobachtet neuerdings «eine starke Ablehnung der Normen- und Wertediskussion» in seiner Zunft. Und ebenso von klassischen pädagogischen Konzepten wie etwa dem Begriff der Autorität, obwohl in «Pädagogik» das griechische Wort «führen» steckt. So weiche man den (umstrittenen) Fragen nach Inhalten mit endlosen Diskussionen über (Re-)Formen und Strukturen aus. Die Folge davon: «Viele Erziehungswissenschaftler lassen die Praktiker allein. Denn die Praktiker wollen von einem Professor beispielsweise auch mal wissen, ob Bestrafung nun sinnvoll ist oder nicht?»
Ratlose Pädagogik
Stattdessen sieht Roland Reichenbach überall «Bindestrich-Pädagogiken» wuchern: Freizeitpädagogik, Medienpädagogik, Familienpädagogik, Umwelt-, Sport- und Sexualpädagogik. Oder die «professionelle Eltern-Pädagogik», deren Einführung der Zuger SP-Nationalrat Andy Tschümperlin kürzlich verlangt hat. Von Pädagogik, lästert Reichenbach, sei hier «nicht mehr viel zu finden». Dafür umso mehr «pädagogischer Kitsch» (Reichenbachs «Lieblingsthema») und «Political Correctness». «Lehrer sind nicht mehr Lehrer, sondern ‹Begleiter von Lernprozessen› oder ‹Gestalter von Lernumwelten›. Ich finde das schrecklich. Es ist auch nicht politisch korrekt, wenn die Lehrerin einem Kind sagt, es solle sich mehr anstrengen. Man verlangt nicht etwas vom Kind, sondern man fragt: Wie kann ich das Kind motivieren? Letzteres ist moderner, weil diese Frage nicht moralisiert, sondern das Kind entlastet. Es ist quasi das Opfer der Verhältnisse. Man kann also therapieren — und ist damit wieder beim Experten- und Beratergürtel angelangt.»
So spricht Reichenbach auch in seinen Seminaren. Und wenn ihn die Studierenden fragen, warum er die Psychologisierung der Pädagogik so hart kritisiere, zumal er doch letztlich selber davon profitiere, dann antwortet Reichenbach: «Stimmt! Doch meine Hauptaufgabe ist es, all diesen Begriffen auf den Grund zu gehen, um zu verstehen, was Sache ist.»
Die mit Abstand grösste Reformbaustelle ist derzeit die schulische Integration der behinderten und verhaltensauffälligen Kinder in die Regelklassen. Kaum ein Kanton, in dem die Lehrkräfte nicht massive Probleme damit hätten: zu grosse Klassen, riesige Leistungsunterschiede, zu viele Lehrkräfte, die sich allein gelassen und verschaukelt fühlen. Die Integration betreffe das Kerngeschäft der Schule, und sorge man nicht für die notwendigen Gelingensbedingungen, «dann droht das gesamte System zu kippen», warnt LCH-Präsident Beat W. Zemp, der oberste Lehrer der Schweiz. «Ohne genügende Ressourcen für diese Integration laufen uns die Lehrkräfte in Scharen davon.» 175 Jahre lang, so Zemp, habe die Schweizer Volksschule in bester Absicht das Gegenteil gemacht, nämlich separiert und gesondert beschult. Dann, im Jahr 1994, wurde an einer UNO-Konferenz die «Deklaration von Salamanca» unterzeichnet. Im Namen von Antidiskriminierung und Chancengleichheit wurde hier quasi auf höchster Ebene die schulische Integration verlangt. Auch die Schweiz unterschrieb die Erklärung, und fortan liess sich immer sagen: Jetzt müssen wir es auch umsetzen. (Die zweite Begründung ist der Neue Finanzausgleich, durch den die IV-Subventionen für sonderpädagogische Massnahmen wegfallen, weshalb Kantone und Gemeinden die Kinder mit «besonderen pädagogischen Bedürfnissen» nun in die Regelklassen schicken.)
Es war eine Concorde, die hier abgehoben hatte. Und einmal mehr, sagt Reichenbach: «Man musste ein Unmensch sein, um sich gegen Integration respektive für Separation auszusprechen.» Noch heute versichern die meisten Lehrkräfte, dass sie Integration zwar für den richtigen Grundsatz halten. Aber nicht die Art der Umsetzung. Denn die erfolgte wie immer von oben nach unten, im Powerplay von Bildungsverwaltung und Beratergürtel, und wer an der Basis Bedenken anmeldete, wer die obszöne Frage «Warum?» und «Warum so?» stellte, der galt rasch als Stänkerer. Oder noch schlimmer: als SVPler.
Unterdessen ist auch diese Concorde schon weit geflogen, und das nächste erfolgreiche Scheitern zeichnet sich ab, nämlich Klassen, die zwar «integriert» sind, in denen aber nichts für niemanden mehr stimmt: weder für die neu integrierten Kinder noch für die bisherige Klasse und ebenso wenig für die Lehrperson. Die Konsequenz: Noch mehr bisherige Lehrkräfte brennen aus und noch weniger angehende übernehmen eine Stelle als Klassenlehrer, weil sie sich dort überfordert fühlen. Umso grösser die Absetzbewegung in den vergleichsweise weit weniger anstrengenden Berater- und Expertengürtel, der sich dann seinerseits an die Reform der Reform macht.
Von unten nach oben
Zurück bleiben die Klassenlehrerinnen und -lehrer mit noch mehr Sitzungen, Kommissionen, Frustrationen. Ein Drittel der Lehrkräfte, hat 2009 eine Umfrage der OECD ermittelt, fühlt sich durch die permanente Reformwalze und Bürokratie bei ihrer Arbeit überfordert. Wen wundert es, dass die Schule selbst in wirtschaftlich schwierigen Zeiten immer weniger guten Nachwuchs findet. Die Reformen — die eigentlich alles besser machen müssten — wirken offensichtlich abschreckend.
Doch was tun, damit Reformen tatsächlich gelingen und nicht erfolgreich scheitern? Das Wichtigste, sagt Reichenbach: Es braucht auch Reformen von unten nach oben. Nur wenn sie an der Basis akzeptiert sind, werden die Neuerungen auch umgesetzt und nicht über passiven Widerstand sabotiert. Umso betrüblicher, dass konsequent das Gegenteil passiert. Es wird allein von oben nach unten reformiert, über die Köpfe der Betroffenen hinweg. Einer der Reformslogans heisst zwar «Autonomie», mehr Selbstverantwortung für die Schulen, was theoretisch auch allseits begrüsst wird. Tatsächlich sind in den letzten Jahren überall Schulleitungen eingeführt worden — aber mit ihnen eben auch eine gewaltige Kontrollbürokratie, weil man oben dieser Autonomie misstraut. «Controllingwahn» nennt es Anton Strittmatter vom LCH. Lehrkräfte und Schulleitungen ertrinken seither in einer Formular- und Regulierungsflut, weil sie bald jede Massnahme im Schulzimmer dokumentieren und legitimieren müssen, auch aus Angst vor Rekursen verärgerter Eltern. Der wohlklingende Begriff Autonomie sei pervertiert worden, sagt Roland Reichenbach: «Autonom entscheiden bedeutet heute: Ihr könnt selber entscheiden, welchen Arm ihr euch abschneiden wollt.»
Eine zweite Voraussetzung für gelingende Reformen ist laut Reichenbach das Tempo. Man könne nicht dauernd und immer schneller reformieren, «erst recht nicht in der Schweiz, in deren politischer Kultur wenig Expertokratie steckt». Der Berner Erziehungswissenschaftler Fritz Osterwalder sagt dazu: «Ein wichtiger und historisch gewachsener Teil der Volksschule war die Aufsicht und Steuerung über Laiengremien. Das war einerseits effizient, anderseits erhöhte es die Akzeptanz der Schule in der Bevölkerung. Doch diese Laiengremien sind in den letzten Jahren systematisch durch die Bildungsverwaltung unterlaufen und zurückgedrängt worden. Offiziell dient das der Professionalisierung, doch normative Fragen an der Schule können nicht von Profis stellvertretend für die Gesellschaft beantwortet werden.»
Die Rolle der SVP
Wenn es in den letzten Jahren eine Reformbremse gab, dann war es die direkte Demokratie. Zum Beispiel die Abstrafung von Rainer Huber und dessen Projekten im Aargau, welche die Reformlust in der Bildungspolitik massiv gedämpft hat. Fast niemand mehr will im Moment je etwas von Reformen gesagt haben. Die Politik ist mehr oder weniger abgetaucht — doch die Reformen gehen weiter. Umso heftiger legt sich die SVP seit Harmos quer und bekämpft seither alles, was an der Schule neu werden soll. Ein überraschender Nebeneffekt dabei ist, wie viele Sympathien die SVP sich mit ihrer scharfen Reformkritik in der Schweizer Lehrerschaft geholt hat, welche ansonsten eher als linksliberal oder unpolitisch gilt. Man freut sich klammheimlich über die ungewohnte Unterstützung von rechts, wenn auch oft nur so lange, bis die SVP das nächste Bildungsbudget zusammenstreichen will.
Wenn er entscheiden müsste zwischen einer Schule der totalen Kontrolle und des organisierten Chaos, dann würde sich Roland Reichenbach garantiert für Letzteres entscheiden. An die grossen Würfe im Bildungswesen glaubt er schon lange nicht mehr. Dafür umso mehr an die einzelne Lehrerin und den Lehrer, die oder der vor einer Klasse steht. «Ich bin auf der Seite der personalen Beziehungen», sagt er, auch wenn man dies für «alte ‹Reformpädagogik›» halten könnte. «Am Schluss hängt Sinn und Gelingen im pädagogischen Bereich von konkreten Menschen ab, ihrem Einsatz, ihrer Haltung und ihren Beziehungen. Das mag naiv klingen, doch es ist leider eine Angst mancher Erziehungswissenschaftler, die ganz besonders wissenschaftlich sein wollen, nur ja nicht sentimental zu erscheinen. Aber die Lehrperson hat nun einmal an die Entwicklung der guten Kräfte im einzelnen Kind, der einzelnen Schülerin zu glauben und sich dafür nach Möglichkeit einzusetzen. Das ist eine reformunabhängige Konstante.»
In den nächsten Monaten steht eine ganze Reihe von wissenschaftlichen Tagungen an, welche die Reformfallen im Bildungswesen ausleuchten wollen. Das Thema gewinnt an Boden, eine schöne Überraschung für den «fröhlichen Pessimisten» Reichenbach. Er hält zwar vieles von dem, was er hier sagt, «im Grunde für banal. Aber dass es mal jemand offen anspricht, das hat offensichtlich eine befreiende Wirkung».
Martin Beglinger ist stv. Chefredaktor des «Magazins».
Samstag, 15. Mai 2010
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