Freitag, 27. August 2010

Die Zerstörung der Volksschule

Stets zu Ihren Diensten, Herr Schulleiter!

Realsatire (I)

rt. Ich bin seit vier Jahren in unserem Schul-Team als Lehrerin tätig. Ich bin ein richtig gut geöltes Rädchen im Getriebe geworden. An unserer Schule läuft immer etwas. Und seit unsere Schule einen Schulleiter hat, läuft alles richtig rund. Entscheide werden schnell getroffen und gradlinig durchgezogen – keine langen endlosen Diskussionen mehr im Lehrerkonvent. Unser Schulleiter sagt, was gut ist, und er sagt, wie wir die Visionen umzusetzen haben – wenn wir eine aufgestellte Schule sein wollen –, und das wollen wir ja alle! Nach drei Jahren ist es wirklich auch so, dass keiner mehr durch störende Fragen oder eine abweichende Meinung negativ auffällt.
Wir springen unserem Schulleiter konstruktiv und freudig bei, wenn neue Aufgaben anstehen. Wir gestehen unserem Schulleiter auch gerne Fehler zu, denn schliesslich kann er nach vielen Jahren in der Privatwirtschaft auch nicht mehr genau wissen, wie es in der Schule läuft. Aber seine Erfahrungen aus der Privatwirtschaft bringen neuen Schwung in unsere Schule – ausserdem nimmt er den Bertelsmann-Schulleitungskompass zu Hilfe. Wir arbeiten jetzt angeblich viel effektiver. Jeden Monat setzen wir mindestens einen Vorschlag aus der kantonalen Erziehungs­direktion oder der Erziehungsdirektorenkonferenz um! Es ist eine neue Zeit angebrochen!

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Am Anfang war es noch nicht so leicht für unseren Schulleiter. Deshalb war ich sehr froh, dass er in seiner berufsbegleitenden Schulleiterausbildung das Modul «Umgang mit Widerstand» belegt hat, wie er mir mal nebenbei erzählte. Seitdem kommt er so richtig in Fahrt. Es kommt jetzt nicht mehr zu so unschönen Situationen mit den älteren Kollegen. Ich habe bemerkt, wie unser Schulleiter die älteren Kollegen jetzt total nett entgegennimmt und sich für ihre Vorschläge ausgesprochen herzlich bedankt. Mein Schulleiter sagte mir augenzwinkernd, das sei jetzt «angewandte OE». Als ich etwas verständnislos schaute, ergänzte er: «Organisationsentwicklung». Naja, ich habe ja keine Ahnung, was Organisationsverwicklung ist, aber mein Schulleiter grinst jetzt so viel. Nur die älteren Kollegen sagen jeweils: «Wieder einen Vorschlag gemacht, der ohne Gespräch verschwindet.»
Wir haben jetzt nur noch selten gemeinsame Konvente, an denen wir etwas entscheiden. Mein Schulleiter sagt, das ist Ressourcen-schonender! Wir haben ja auch soviel zu tun. Jeder von uns ist in mindestens drei oder vier verschiedenen Projektgruppen: Schulabschluss, PISA, Lager, Weihnachtsbazar, IL (Individualisiertes Lernen), Pausenplatzgestaltung usw. Wir bekommen einen Auftrag oder müssen uns in einem vorbestimmten Rahmen selbst einen Auftrag suchen. Dann arbeiten wir Vorschläge aus, die die anderen dann übernehmen müssen oder, wenn die Schulleitung es nicht will, dann kommt unser Vorschlag ins «Standby», so sagen es die älteren Kollegen.
Wenn wir uns dann doch alle einmal gemeinsam treffen, dann sind diese Treffen inhaltlich und zeitlich genau vorstrukturiert und werden von unserem Schulleiter oder von einer externen Moderatorin, Marlis Weber (Weber Schulcoaching AG), gecoacht.
Wir dürfen dann zu einem gewählten Thema unsere Meinung auf Karten schreiben, wie damals als Erstklässler. Die Karten befestigen wir an einer Pinnwand. Danach klebt jeder ein farbiges Pünktchen auf die Karte, die seinen Vorstellungen am ehesten entspricht und ein Pünktchen mit einer anderen Farbe auf die Karte, die seinen Vorstellungen überhaupt nicht entspricht.
Beim letzten Mal setzten wir uns mit unserem neuen Schulleitbild auseinander: «lernen – leben – gestalten». Zum Bereich «gestalten» gab es eine heftige Interaktion zwischen unserem Schulleiter und dem Hauswart. Eine junge Lehrerin hatte auf ihre Karte geschrieben: «Mit allen Schüler/innen Papierflieger basteln und über den Pausenplatz segeln lassen». In der Fragerunde, die vor dem Pünktchenkleben kommt, fragte dann unser Hauswart, was denn das mit dem Thema «gestalten» zu tun hätte. Die junge Kollegin, die immer die neusten Ideen aus der Lehrerausbildung mit in unsere Schule bringt, sagte: «Ist doch klar, jeder gestaltet seinen Flieger aus sich selbst heraus». «Das ist doch ein biss­chen wenig», meinte unser Hauswart etwas zögernd. Da intervenierte mein Schulleiter: «Stopp! Keine Bewertung der Vorschläge, das macht den ganzen Prozess kaputt. Ich muss dich bitten, jetzt nur nachzufragen, wenn du ihren Vorschlag nicht verstanden hast.» Der Hauswart murmelte, das sei ihm jetzt zu dumm, den ganzen Tag damit zu verbringen, über Pünktchen zu diskutieren, während die Arbeit liegenbleibt und die Schüler daheimsitzen. Und dann sagte er, alles nur wegen so einem Leitbild, das eh keiner liest! Jetzt nickte unser Schulleiter dem Hauswart verständnisvoll zu und sagte, er könne ihn gut verstehen, aber das sei jetzt ein ganz wichtiger Prozess für uns alle, den wir nicht unterbrechen dürften.
Oh je – jetzt haben wir so schön zusammengearbeitet, und dann stört er den Prozess. Naja, das kommt in seiner MAB zur Sprache – pardon, Mitarbeiterbeurteilung.
Er sagte danach nichts mehr. Aber eine andere Kollegin brachte sich ein. Sie sagte, dass sie es auch nicht in Ordnung findet, wenn wir uns mit Papierfliegern aufhalten, während in der vergangenen Woche vier Schlägereien auf dem Schulplatz vorgefallen seien. Nachdem unser Schulleiter ihr länger direkt in die Augen geschaut hatte, wurde er deutlich: «Mit dem neuen Leitbild fördern wir unsere ‹Corporate identity›, das stärkt uns und unsere Schüler. Du wirst sehen, dann gibt es auch weniger Reibereien. Im übrigen steht der Auftrag für ein Leitbild ganz klar im kantonalen Evaluationsbericht zu unserer Schule. Das müssen wir machen. Aber du kannst wegen der Schlägereien ganz beruhigt sein, da haben wir die kantonale ‹Präventions-Task-Force› eingeladen, und im übrigen werden wir ein Präventionsprogramm mit dem Beraterteam von ‹Go soft› durchführen.»
Aber die Kollegin blieb dabei und sprach ruhig weiter, als ob nichts geschehen sei. «Seit drei Jahren haben wir ständig Unterrichtsausfall wegen der ewigen Evaluations- und Qualitätssicherungsmass­nahmen und den SCHILF-Tagen (Schulinterne Lehrer­fortbildung), an denen wir dann Pünktchen kleben, während die Leistungen unserer Schüler immer schlechter werden und die Störungen im Schulablauf zunehmen. Unsere jungen Kollegen kommen ja kaum noch dazu, ihren Unterricht seriös vorzubereiten.
Jeder von ihnen muss noch in mehreren Projektgruppen mitarbeiten. Wir sind doch für unsere Schüler da und nicht für die Schule.» Jetzt wurde mein Schulleiter endlich direktiv: «Das ist hier nicht das Gefäss für dieses Thema. Ich möchte das nicht in diesem Rahmen!» Dann sprach er etwas freundlicher weiter: «Bring doch deine Bedenken das nächste Mal in deiner Jahrgangsgruppe ein!» Danach machte keiner mehr so richtig freudig weiter. Trotz dieser Situation blieb unser Schulleiter gelassen und ermunterte uns immer wieder und lobte unsere Vorschläge.
Ich hörte noch, wie ein Kollege der Kollegin zuflüsterte: «Noch drei weitere solche Jahre mit Schulentwicklung, dann werden unsere jungen Kollegen zu funktionierenden Befehlsempfängern, unsere Schule verwandelt sich in ein Laboratorium für Organisationsentwicklung, unsere Schüler lernen immer weniger, und die demokratischen Gepflogenheiten sterben ab. Aber ich glaube, dass die Bürger in unserer Gemeinde dieser Geldverschwendung nicht mehr lange zuschauen werden und solche Typen wie unser Schulleiter mit ihren ‹Mediationstechniken› bald gehen müssen.» Ich glaube, er findet meinen Schulleiter überflüssig …

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Ich war am Abend nach unserem SCHILF so richtig fix und foxi. Wir hatten wirklich gut geschafft – trotz des Zwischenfalls. Am Abend hatten wir mehrere echt kreative Vorschläge zur Umsetzung unseres Schulleitbildes, die wir in unsere Fünfjahresplanung aufnahmen.
Eigentlich wollte ich am Abend die Lektionen für den nächsten Tag vorbereiten, aber ich musste noch das Protokoll unserer Fachgruppe «Turnen» schreiben, das Tandem-Evaluationsformular ausfüllen und meinen E-Mail-Account verwalten. Das braucht leider immer etwas Zeit. Es macht mich traurig, dass mir dann so wenig Zeit für die Vorbereitung bleibt. Mein Freund sagt, um 24 Uhr sei Schluss mit Vorbereiten, sonst hätten die SchülerInnen eine unausgeschlafene Lehrerin. Da hat er recht.
Ich muss aufpassen, dass ich kein «Burn-out» bekomme. Mein Schulleiter hat gesagt, jeder ist für sich selbst verantwortlich, wir sollten gut mit uns umgehen. Schön, hat der uns so gut im Auge. Unser nächster SCHILF-Tag steht unter dem Motto: «Stärke dich selbst – stärke das Team!». Ich freue mich schon darauf.
Um 1 Uhr 20 lösche ich das Licht über meinem Schreibtisch, nachdem ich den ersten Teil des Fragebogens zur Tandem-Evaluation ausgefüllt habe …

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Die Schüler werden heute immer mehr zu Opfern von Organisationsentwicklungsprozessen. Diese Entwicklung wird euphemistisch mit «Schulentwicklung» umschrieben. Der Prozess verläuft europaweit. Grosse Konzerne wie der Bertelsmann-Verlag profitieren und steuern ihn. Ziel ihrer Schule ist nicht der mündige und aufgeklärte Staatsbürger. Hier ist «Glasnost» gefordert! Über die Volksschule hat der Souverän zu entscheiden!•

Permanente Schulreform
rl. Seit Beginn der permanenten Schulreformen (in den 90er Jahren) werden die demokratischen Strukturen systematisch geschwächt. Eine Schlüsselrolle spielt dabei die Einführung machtvoller Schulleitungen in den Volksschulen, die selbst eng geführt werden. Dies ist ungewöhnlich, da die Lehrerschaft ihre Angelegenheiten grösstenteils demokratisch untereinander regelte. Nun werden ungebremst und penetrant Schulreformen von aussen via Schulleitung in die Schulen geleitet. Es kommt zu einem dauerhaften Organisationsentwicklungsprozess.
Unzählige Lehrer klagen darüber, dass sie kaum noch die notwendige Zeit finden, ihren Unterricht solide vorzubereiten, da sie ständig mit zusätzlichen Aufgaben (z.B. Evaluation) oder Zwangsweiterbildungen (Supervision, Leitbild usw.) überfrachtet werden.

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Wie Schulen zerstört werden
«Also: Ein Grossteil der Schulen kann mit Bordmitteln Organisationsentwicklung betreiben oder sich zum Zwecke der internen Fortbildung Unterstützung von externen Organisationsentwicklungsberatern holen. Aber es gibt nicht wenige Fälle, bei denen es schwerwiegende Konflikte gibt, bei denen es ohne externe Beratung nicht geht. […] Dann bedarf es permanenter Anstösse von aussen.»

Dalin, Per; Rolff, Hans-Günter; Buchen Herbert.
Institutioneller Schulentwicklungs-Prozess.
Ein Handbuch. Bönen 1996. S. 337

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