Fürsorgerischer Freiheitsentzug
Und plötzlich war sie eine «Schizo»
Text:Otto Hostettler
Ausgabe:12/10Weil die Tochter nicht so lebt, wie es der schwerreiche Vater will, lässt er sie in der Psychiatrie «versorgen». Die Behörden helfen mit. Jetzt kämpft sie um ihre Rehabilitierung.
Sie musste fast ein halbes Jahr in einer psychiatrischen Klinik ausharren: Katharina Schwarz*
Der Vater hat Geld, viel Geld. In Deutschland besitzt er eine Reihe Kliniken und Krankenhäuser, in Hamburg tritt er als Kunstmäzen auf. Was immer der heute 90-Jährige in seinem Leben wollte, bekam er auch. So will er auch nicht zusehen, wie seine damals 40-jährige Tochter Katharina Schwarz* vor einigen Jahren in eine Lebenskrise stürzt, ihren Job verliert, ihre Beziehung auseinanderbricht.
Katharina Schwarz will keine x-beliebige Arbeit annehmen, also dreht ihr der Vater den Geldhahn zu, reduziert die monatlichen Zuschüsse. Als das nichts fruchtet, organisiert er zusammen mit der anderen Tochter, dem Sohn und der getrennt lebenden Mutter die psychiatrische Einweisung. Die Tochter selber wird erst Jahre später, nachdem sie sich mühsam eine Vielzahl von Akten erstritten hat, davon erfahren.
Zahlreiche Aktennotizen, Arztberichte und andere Dokumente, die dem Beobachter vorliegen, belegen den Fall. Anfänglich drängt die Familie Katharina Schwarz zu einer ambulanten Therapie. Wie selbstverständlich steht der Vater aus Deutschland in stetigem Kontakt mit dem zuständigen Psychiater in Basel. Er bringt diesen sogar dazu, ihm ein «Ärztliches Attest» über seine Tochter zu faxen. Ohne deren Wissen.
Der Vater zieht im Hintergrund die Fäden
Zweiter Schauplatz ist Grindelwald. Dort verbringt die Familie seit Jahrzehnten die Ferien, und der Vater tritt immer mal wieder als wohltätiger Geldgeber auf. Der Hausverwalter, der für die Familie vor Ort zum Rechten schaut, spricht eines Tages den Dienstchef der Gemeindepolizei auf der Strasse an. Er eröffnet ihm, Katharina Schwarz sei schizophren und nehme ihre Medikamente nicht mehr ein.
Das Gespräch ist in den Polizeiakten dokumentiert: «Der Vater von Frau (…) wäre froh, wenn man sie seitens der Polizei wegen der Fahrweise ermahnen würde.» In Spitzelmanier protokolliert die Polizei: Gegenüber Katharina Schwarz dürfe «nie! erwähnt werden», dass er (der Hausverwalter) und der Vater eng in Kontakt stehen und dass die Polizei über die Krankheit von Katharina Schwarz Bescheid wisse. Der Gemeindepolizist ist offenbar von der Vertraulichkeit dermassen überzeugt, dass er dem Eintrag 19 Ausrufezeichen anfügt. Im selben Eintrag sichert die Polizei zu, sie werde Katharina Schwarz Domizil «im Auge» behalten, «um nötigenfalls das Nötige zu veranlassen».
In Basel, dem Wohnort von Katharina Schwarz, versucht es die Familie auf anderem Weg: Via eine Zürcher Anwaltskanzlei schreibt sie dem Sozialdienst der Kantonspolizei, Katharina Schwarz sei krank. Als Begründung heisst es, sie sei in einem Restaurant «ausgerastet», habe sich in einer Warteschlange eines Sessellifts an die Spitze gekämpft, mit den Skiern andere Wartende geschubst. Unverblümt fordert der Anwalt: «Ich ersuche Sie, (…) einen fürsorgerischen Freiheitsentzug zu verfügen.»
Doch in Basel reagiert man zurückhaltend, obwohl die Angehörigen schon Wochen zuvor mehrfach bei der Kantonspolizei interveniert haben. Der Vater gibt an, seine Tochter sei «eine Gefahr für die öffentliche Sicherheit». Die Polizei sucht Katharina Schwarz auf, zieht aber unverrichteter Dinge wieder ab und notiert im Rapport, es gebe nichts zu beanstanden. Es bestehe keine rechtliche Grundlage, Schwarz in Polizeigewahrsam zu nehmen.
Konspirative Sitzung auf dem Polizeiposten
Mehr Erfolg hat die Familie in Grindelwald. Am 24. Dezember 2004 treffen sich Katharina Schwarz Schwester und der damals 84-jährige Vater auf dem lokalen Polizeiposten. Die Angehörigen instruieren die Polizei erneut über die angebliche Krankheit der Frau und formulieren auch gleich ihre Erwartungen: «(…) eine Zwangsmassnahme würde seitens der Familie begrüsst», heisst es im Polizeijournal.
Wenige Tage später wird auch Walter Dietrich aktiv, Regierungsstatthalter von Interlaken. Die Gemeindepolizei hat ihm längst sämtliche Polizeiberichte zugefaxt, denn an ihm wäre es, einen fürsorgerischen Freiheitsentzug abzusegnen. Dietrich erkundigt sich mehrmals in Basel, ohne sichtbaren Nutzen. Sein Sachbearbeiter protokolliert am 11. Januar 2005 nach einem Telefonat mit der Basler Behörde: «Sie haben keine Veranlassung gesehen, vormundschaftliche Massnahmen einzuleiten.»
«Für einen Freiheitsentzug reicht es nicht, dass das Verhalten einer Person der Familie nicht passt.»
Jürg Gassmann, Patientenorganisation Pro Mente Sana
«Behindertes Kind dreimal angespuckt»
Im Berner Oberländer Dorf weiss inzwischen ein grösserer Kreis von der angeblichen Krankheit der Frau. In Restaurants muss sie sich Sprüche über Schizophrene anhören. Wenn sie in der Öffentlichkeit angesprochen wird, reagiert sie ungehalten. Als sie im März 2005 glaubt, ihr Portemonnaie sei gestohlen worden, und sich aufgewühlt auf dem Polizeiposten Gehör verschaffen will, wird sie stracks zum Dorfarzt gebracht. Dieser telefoniert mit dem Regierungsstatthalter und lässt sie durch die Polizei kurzerhand in die psychiatrische Privatklinik Meiringen bringen. In die Krankenakte schreibt der Dorfarzt als Diagnose: «Schizophrener Schub (bekannte Schizo)». Die Begründung für die Einweisung: «Pöbelt Leute in Geschäften an, wird aggressiv (verbal wie körperlich). Hat ein behindertes Kind dreimal angespuckt. Verweigert offenbar Therapie.»
Alles ist gut orchestriert: Die Klinik in Meiringen wurde von der Schwester schriftlich über «auffälliges Verhalten» informiert. Der Vater bringt den Anwalt seiner Tochter sogar dazu, ein früheres psychiatrisches Gutachten – ohne Wissen der Klientin – der Klinik in Meiringen weiterzugeben. Meiringen diagnostiziert darauf eine «chronifizierte paranoide Schizophrenie» ohne Krankheitseinsicht.
Weil im Kanton Bern ein fürsorgerischer Freiheitsentzug auf sechs Wochen befristet ist, verfügt Regierungsstatthalter Dietrich im Mai 2005 einen Freiheitsentzug «auf unbestimmte Zeit». Die kantonale Rekurskommission sieht keinen Anlass, am Entscheid des Regierungsstatthalters zu zweifeln. Erst als Katharina Schwarz «freiwillig» einen «Vertrag» mit der Klinik unterschreibt und in die Zwangsmedikation einwilligt, darf sie von der geschlossenen in die offene Abteilung wechseln. Als sie Ende August entlassen wird, hat sie 21 Wochen Freiheitsentzug hinter sich.
Nach der Entlassung muss sie sich ambulant behandeln lassen. Genau diese Therapien werfen nun ein neues Licht auf den Fall. Die beiden Ärzte, die Katharina Schwarz in den folgenden zwei Jahren behandeln, kommen unabhängig voneinander zum Schluss, dass sie «zu keinem Zeitpunkt Anhalte für eine psychotische Symptomatik» erkannt hätten. Mehr noch: «Es konnten keine Anhalte für paranoide oder schizophrenie- oder schizoaffektivtypische Affektregulationsstörungen identifiziert werden.»
Der renommierte Zürcher Psychoanalytiker und Psychiater Berthold Rothschild geht in seinem Gutachten noch einen Schritt weiter: «Ich konnte keine Anzeichen einer chronifizierten Schizophrenie feststellen und würde eine solche Aussage aufgrund der vorliegenden Akten, Daten und den überprüfbaren Phänomenen als nicht korrekt bezeichnen müssen.»
Auf einmal gibt es keine Zeugen mehr
Für Schwarz Anwalt Guido Ehrler ist der Fall klar. «Katharina Schwarz wurde systematisch psychiatrisiert. Das Schlimme daran, die Familie konnte auf die Mithilfe der Behörden zählen.» Inzwischen haben sich die mehrfach aktenkundigen Rempeleien und Handgreiflichkeiten in Luft aufgelöst, drei angebliche Zeugen erklärten schriftlich, sie hätten die fraglichen Vorfälle nicht selbst beobachtet.
Mit den Vorwürfen konfrontiert, beteuern der Dorfarzt, die Klinikleitung und Regierungsstatthalter Dietrich, alles sei rechtens abgelaufen. Dietrich: «Auch im Rückblick gesehen erscheinen die verfügten Massnahmen immer noch gerechtfertigt.» Was genau für schwerwiegende Zustände vorgelegen haben, will er nicht ausführen. Der Vater von Katharina Schwarz äussert sich gegenüber dem Beobachter nicht.
Fachleute bezeichnen den fürsorgerischen Freiheitsentzug als einen besonders tiefgreifenden Eingriff in die persönliche Freiheit eines Menschen. Das Gesetz spricht etwas altertümlich – von Geistesschwäche, Geisteskrankheit, Trunksucht oder schwerer Verwahrlosung. Ein fürsorgerischer Freiheitsentzug darf zudem nur dann verfügt werden, wenn weniger einschneidende Massnahmen wirkungslos geblieben sind.
Deutliche Worte findet Jürg Gassmann von der Patientenorganisation Pro Mente Sana: «Es reicht nicht, dass die Verhaltensweise einer Person der übrigen Familie nicht passt.» Ein fürsorgerischer Freiheitsentzug müsse verhältnismässig sein, sagt Gassmann. Den geschilderten Fall bezeichnet er als «Ungeheuerlichkeit».
In Grindelwald scheint inzwischen nicht mehr allen wohl bei der Sache zu sein. Gemeindepräsident Emanuel Schläppi sagt: «Falls sich der Fall tatsächlich so zugetragen hat, ist das äusserst bedauerlich.» Er betont aber, dass es ihm nicht zustehe, ein allfälliges Fehlverhalten damaliger Gemeindeangestellter zu beurteilen. Er ist erst seit Anfang 2008 im Amt, die Gemeindepolizei wurde in ihrer damaligen Form aufgelöst. «Ich würde mich in einer solchen Situation vorsichtiger verhalten», sagt er.
Katharina Schwarz zeigt sich heute kämpferisch. Sie will endlich auch in Dokumente Einsicht erhalten, die ihr bisher vorenthalten wurden. Entschieden geht sie auch gegen jene juristisch vor, von denen sie Ungerechtigkeiten erfahren hat. Dazu hat sie vor einem Jahr ein Jus-Studium begonnen.
*Name geändert
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