Magnus Enzensberger entzaubert Europäische Union
Carlos A. Gebauer
Friedrich Nietzsche war es wohl, der schrieb: Die leisen Worte bringen den Sturm. Und Hans Magnus Enzensbergers Essay besteht in genau diesem Sinne aus leisen und kurzen, aber nicht zuletzt deswegen umso deutlicheren Worten. Knapp 70 Seiten genügen ihm für die gekonnte Inspektion – und Entzauberung – seines Gegenstandes. Am Ende stehen für den Leser zwei Gewissheiten. Die erste Gewissheit, dass, wer Europa wertschätzt, gegen diese Europäische Union opponieren muss. Und die zweite Gewissheit, dass dieser megalomane Versuch, 500 Millionen Menschen rücksichtslos bürokratisch zu überrennen, automatisch an sich selbst scheitern wird: »Europa hat schon ganz andere Versuche überstanden, den Kontinent zu uniformieren. Allen gemeinsam war die Hybris, und keinem von ihnen war ein dauerhafter Erfolg beschieden. Auch der gewaltlosen Version eines solchen Projektes kann man keine günstige Prognose stellen. Allen Imperien der Geschichte blühte nur eine begrenzte Halbwertzeit, bis sie an ihrer Überdehnung und an ihren inneren Widersprüche gescheitert sind.«
Enzensberger berichtet – aus Sicht des besser informierten Europäers – für sich gesehen keine bahnbrechenden Neuigkeiten. Er trägt vielmehr das Ungeheuerliche dieser politischen Großenteignung nur nochmals strukturiert und wortgewandt zusammen. Da aber gerade er als Person nicht in dem Verdacht steht, ein rassistischer und nationalistischer, und also ein reaktionärer und europafeindlicher Kritiker zu sein, prallen die erwartbar nämlichen Rhetoriken der gestörten Eurokraten an ihm von vornherein ab. Enzensberger verlängert somit die Reihe der Intellektuellen, die dem kontinentübergreifenden Neototalitarismus wachsam entgegentreten, um einen weiteren, wesentlichen Kopf.
Die Sehnsucht der EU-Eliten ist, um jeden Preis Weltmacht sein zu wollen. Diesem Ziel gelten ihre administrativ-undemokratische Rücksichtslosigkeit und der »Glibber« ihrer PR, um »die Meinungsbildung selbst in die Hand zu nehmen«. Wer sich gegen diesen Größenwahn stellt, der muss öffentlich mundtot gemacht werden: »Dazu haben sich die Wortführer in Brüssel, Straßburg und Luxemburg eine Strategie ausgedacht, die sie gegen jede Kritik immunisieren soll. Wer ihren Plänen widerspricht, wird als Antieuropäer denunziert.« Hellsichtig erkennt Enzensberger in dieser Kommunikationsstrategie bittere historische Parallelen zu Joseph McCarthys ›un-american activities‹ und weiland Moskaus Rede von ›antisowjetischen Umtrieben‹. Doch um die Perfidie der amtlichen Euro-PR noch deutlicher zu entlarven, fragt er, wie es wohl umgekehrt wirken würde, wollte ein deutscher Politiker seinen Gegnern vorhalten, sie verhielten sich ›undeutsch‹.
Die Diagnose, dass innerhalb der EU von Demokratie schon heute nur mehr noch eine »höfliche Fiktion der Volkssouveränität« übriggeblieben ist, trifft – leider – den Kern. Einer aus der Reihe jener intellektuellen Kritiker, die Enzensberger nun dankenswerterweise weiter verlängert, war bekanntermaßen schon Hans-Herbert von Arnim, der für ähnliche Konstrukte den Begriff vom »schönen Schein der Demokratie« geprägt hat. Nationale Eliten haben sich hier augenscheinlich, eilends vor dem Niedergang ihrer maßgebenden Einflüsse zu Hause, mit der EU und ihren organisatorischen Anhängen eine neue herrschmächtige Struktur geschaffen, die in Europa postdemokratisch-autonom tun und lassen kann, was immer sie nur selbst will: »Die Union sieht ihre Aufgabe nicht darin, Bürger zu unterdrücken, sondern darin, alle Lebensverhältnisse auf dem Kontinent möglichst lautlos zu homogenisieren. Hier wird nicht an einem neuen Völkergefängnis gebaut, sondern an einer Besserungsanstalt, der die gütige, aber strenge Aufsicht über ihre Schutzbefohlenen obliegt. Im Idealfall soll das Leben ihrer Zöglinge von der Festlegung des Wohngeldes bis zum gesunden Speiseplan zentral geregelt und normiert werden.« Dem dient einerseits, dass es eine kritische europäische Öffentlichkeit bis heute nicht gibt; allen sogenannten »Unionsbürgern« wird nach wie vor praktisch ausschließlich nationale Politik medial als wesentlich präsentiert. Dem dient aber andererseits auch eine faszinierend autoritäre Strenge bei der Durchsetzung dessen, was die europäischen Vormünder für ihre Schutzsubjekte als gedeihlich definieren; Enzensberger zitiert aus der Empfehlung des Rates der Europäischen Union zur effektiven Schaffung eines rauchfreien Kontinents: »Die Durchsetzungsmaßnahmen direkt nach der Inkraftsetzung der Rechtsvorschriften sind entscheidend für deren Erfolg und für den Erfolg der zukünftigen Überwachung und Durchsetzung. Sobald die aktive Durchsetzung beginnt, wird empfohlen, eine aufsehenerregende Strafverfolgung zu betreiben, um die abschreckende Wirkung zu verstärken.«
Zur Darstellung der inneren Haltung des eurokratischen Herrenmenschen, der seine millionenfachen Zöglinge dergestalt in ihre bessere Zukunft zwängen will, liefert Enzensberger ein bezeichnendes Psychogramm. Im zweiten Glied, hinter den politisch korrekt nach Proporz-Gesichtspunkten komponierten Gremien, dominiert der Spitzenbeamte, gerne vom Typus des arbeitssüchtigen Eliteschul-Absolventen. Ihn umweht ein Korpsgeist, der gleichsam heimatvergessen strikt multinational agiert: »Eine zu enge Bindung an das Herkunftsland gilt hier als unschicklich. Man ist polyglott. Abgehobenheit ist kein Fehler, sondern sogar erwünscht.«
Die Selbstgewissheit, ein Auserwählter zu sein, speist sich jedoch nicht nur aus dem Bewusstsein, die hohen formalen Hürden eines internationalen Rekrutierungsverfahrens genommen zu haben, sondern auch aus dem nachvollziehbar einzigartigen Gefühl, qua Zuständigkeitsregel beispielsweise derjenige maßgebliche Entscheider zu sein, der für eine halbe Milliarde Menschen normativ verbindlich den Standard für Banküberweisungen und Apfelwein, Presslufthämmer und Rohmilchkäse, Glühlampen und Toiletten- oder Traktorensitze definiert. Kritik an der Kompetenz kann hier geradezu denknotwendig nur noch unbegründet sein; was Brüssel beschließt ist richtig und »TINA« – »There Is No Alternative«. Und Enzensberger resümiert: »Man tut den emsigen Überzeugungstätern von Brüssel nicht Unrecht, wenn man annimmt, dass die Demut nicht zu ihren Stärken gehört.«
Zwischen dem Berlaymont-Gebäude für die Kommissare und dem Justus-Lipsius-Gebäude des Europäischen Rates hat sich nach allem ein ganz besonderer, souveräner Brüsseler Geist entwickelt. Er scheint dem Größen- und Machtanspruch Leopolds des II. von Belgien nicht nachzustehen; nur dass es diesmal nicht bloß um das Privateigentum nur am Kongo geht, sondern um die Zivilisierung und Humanisierung des eigenen Kontinents. Angesichts dieses hehren Zieles müssen Bedenken wie die der mangelnden demokratischen Legitimation des Ganzen schlicht zurückstehen. Schließlich ging es dem Gründervater Jean Monnet der Union schon seit ihren frühesten Anfängen 1948 darum, »dass Europa geeint ist, und zwar nicht nur in einer Kooperation, sondern durch eine von den europäischen Nationen gebilligte Übertragung von Souveränität auf eine Art zentraler Union«. Monnet war durch und durch Pragmatiker: »Wie Churchill und de Gaulle zog er es vor, das deutsche Industriepotenzial einzubinden nach dem Motto: Wenn Du sie nicht schlagen kannst, dann verbünde Dich mit ihnen.«
Wer diesen – von Enzensberger hübsch auf den Namen »halbvergessene Vorgeschichte« getauften – Ursprung der EWG-EAEC-EFTA-EWR-EWU-EU übersieht, der kann nicht verstehen, warum das Monster Brüssel aller Kritik zum Trotz beständig wächst und wächst und wächst. Der mehrheitlich (und zunehmend) entgegenstehende Wille seiner Bürger ist einfach irrelevant; die ablehnenden Referenden der Völker interessieren nicht, das »postdemokratische Zeitalter« fragt nicht nach Legitimation durch das Volk: »Die Europäische Union will nur unser Bestes. Wie ein gütiger Vormund ist sie besorgt um unsere Gesundheit, unsere Umgangsformen und unsere Moral. Auf keinen Fall rechnet sie damit, dass wir selber wissen, was gut für uns ist; dazu sind wir in ihren Augen viel zu hilflos und unmündig. Deshalb müssen wir gründlich betreut und umerzogen werden.«
Dass mit dem Vertag von Lissabon dann auch die Verfassungsklausel zur Selbstermächtigung hinzutrat, kann nach alledem nicht erstaunen. Die Kompetenz, die eigenen Kompetenzen bestimmen zu dürfen, ist seit jeher die Krönung aller selbstverliebten Gesetzgeber. Und gerade weil sie ausgerechnet auf unserem Kontinent mit seiner unguten Geschichte des Ermächtigungsgesetzes böseste Assoziationen weckt, kann nicht verwundern, wenn zu just dieser Frage mit so großer Heftigkeit gestritten wird. Die EU-eigene »Hofberichterstattung«, wie Enzensberger den Sender Europarltv nennt, hat dieses Problem bislang augenscheinlich nicht ernsthaft thematisiert: »Selbstkritik ist nicht die starke Seite unserer Wächter.«
Wer also Näheres erfahren will über den Stand der Debatten im Brüssel/Straßburger-Parlament, der ist auf eigene Recherchen angewiesen; ein Blick beispielsweise auf die Ereignisse im EU-Parlament am 12. Dezember 2007 oder auf die vielen bemerkenswerten Reden des britischen Abgeordneten Nigel Farage via Youtube wird manchem Unionsbürger eine ungekannte Facette der Europäischen Union näherbringen. Der SPD-Abgeordnete Martin Schulz beispielsweise, in dem Silvio Berlusconi bisweilen einen KZ-Wächter sehen wollte, vergleicht seinerseits Zwischenrufer im Parlament mit Nazi-Abgeordneten im Reichstag. Wie hatte Jeanne Rubner noch vor zwei Jahren in ihrem Buch Brüsseler Spritzen geschrieben? »Die Europäische Union leidet darunter, dass viele Menschen nicht richtig verstehen, wie Politik in Brüssel gemacht wird.« Wie wahr. Wie wahr.
Enzensberger ruft nicht zum Widerstand gegen das Monster Brüssel auf. Er verfällt auch nicht in Panikmache. Er stellt mit leisen, aber sicher nicht zuletzt auch deswegen sturmbringenden Worten nüchtern fest, dass das Konstrukt an sich selbst scheitern wird. Genau so ist es. Um den Niedergang – und damit die Zeit der unnötigen Widrigkeiten aus Brüssel, Straß- und Luxemburg – zu verkürzen, bietet sich an, über Alternativen zu reden. Denn üblicherweise hat diejenige Politik die besten Chancen, umgesetzt zu werden, die konkrete Möglichkeiten formuliert, auf die der Bürger Vorfreude entwickeln kann.
Beinahe zeitgleich mit Hans Magnus Enzensberger hat Gunnar Heinsohn im Schweizer Monat eine ebenso sympathische wie friedliche Perspektive für eine alternative Neuordnung Europas nach dem unvermeidlichen Ende der EU skizziert. Er schlägt vor, dass sich die Regionen Europas vielerorts einvernehmlich zu ganz neuen, kleineren Einheiten verbinden, innerhalb derer sie dann ihr eigenes Leben auf je eigene Kosten, frei von zentralstaatlichen Zwängen und frei von Transferzahlungsnötigungen an Dritte leben können. Für die Friedlichkeit dieses Prozesses auf unserem 1,3-Kinder-Kontinent sieht Heinsohn einen überzeugenden Grund: »Wenn potenzielle Soldaten die einzigen Söhne oder gar die einzigen Kinder ihrer Eltern darstellen, hütet man sich vor Kriegen.« Es steht zu erwarten, dass auch Hans Magnus Enzensberger an dieser Variante Gefallen finden wird. Denn er hat bemerkt, »dass es höchste Zeit ist, etwas gegen die drohende Sklerose zu unternehmen«.
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