Es gibt keine Freiheit ohne mitmenschliche Ethik und Moral
von Dr. Thomas Huber*
Ich beginne mit zwei Zitaten: einem von Benjamin Franklin, der sagte: «Wer die Freiheit aufgibt, um Sicherheit zu gewinnen, der wird am Ende beides verlieren», und mit einer zweiten Aussage des Wilhelm Freiherr von Humboldt: «Sicherheit ist die Voraussetzung für Freiheit!»
Zu Beginn meiner Ausführungen möchte ich Sicherheit und Freiheit kurz definieren.
Zunächst zur Sicherheit: Ein Individuum ist in Sicherheit, wenn es sich in einem Zustand ohne Gefährdung an Leben, Leib und Eigentum befindet, wenn rechtsstaatliche und demokratische Institutionen verlässlich und konstant funktionieren und man dabei jederzeit über einen unabhängigen und der Wahrheit verpflichteten Informationsfluss verfügt.
Als ich mich mit dem Thema auseinandersetzte, konnte ich es nicht unterlassen, den PC zu konsultieren, um mittels «Googeln» etwas Brauchbares herauszuholen! Die Übung war von kurzer Dauer: Weit mehr als zigtausend Einträge befassten sich mit dem Thema Sicherheit – es scheint eines der nachhaltigsten Probleme des modernen Menschen zu sein, «Sicherheit» in allen Lebenslagen und zu jedem Preis zu erlangen, auch wenn dadurch andere Werte verlorengehen!
Zur Freiheit: Nach Kant ist die Würde des Menschen die Autonomie seines Willens, dessen Freiheit. Diese Freiheit ist die Grundlage jeder menschheitlichen Verfassung und damit des demokratischen und rechtsstaatlichen Prinzips. Die äussere Freiheit ist die Unabhängigkeit von eines anderen nötigender Willkür, von dessen Zwang. Die innere Freiheit gründet in der Sittlichkeit, die ohne Moral nicht zu erreichen ist.
Verlust der Verhältnismässigkeit
Es wurde mir aber auch klar, dass in allen unseren Lebensbereichen die Verhältnismässigkeit verlorengegangen ist. Wenn Herr Ospel als oberster Banker der UBS 800mal mehr verdient als die Putzfrau – bei der man übrigens schon am ersten Tag merkt, wenn sie nicht da war, während das bei der Geschäftsleitung äusserst unwahrscheinlich ist – ist das ein Zeichen dafür, dass der Weg der Mitte verlorengegangen ist. Es fehlen die grauen Töne. In vielen Bereichen gibt es nur noch schwarz oder weiss, in der Politik die Polarisierung in links und rechts – es existiert kein fruchtbarer Dialog, sondern nur noch ein Dafür oder Dagegen. Das Vertreten von Partikularinteressen in jeder Form verhindert eine fortschrittliche Entwicklung unserer Gesellschaft.
Der Verlust der Balance, die Beliebigkeit, das kurzfristige Gewinnstreben, die Gier und das Herausschleichen aus jeglicher Verantwortung sind wesentliche Merkmale unser zeitgenössischen Situation. Dass sich besonders unsere Eliten aller Couleur in dieser verwerflichen Haltung profilieren, spricht Bände.
Gestatten Sie mir einige kurze Betrachtungen vor dem Hintergrund der Aussage im 2. Mose, Exodus 24: «Auge um Auge, Zahn um Zahn» – eine Aussage, die im Grunde genommen die Balance, die Verhältnismässigkeit anmahnte, die wir auch im Umgang mit unseren Widersachern bewahren sollten. Erst der Beginn einer verbindlichen Rechtssprechung auf dem Sinai durch Moses gab dem Volk die Sicherheit, in Freiheit leben zu können.
Ich beziehe mich bei diesen Betrachtungen auf von mir selbst Erlebtes und auf Dinge, die sich in den letzten paar Jahren vor den Augen der Welt abgespielt haben.
Während meines Einsatzes als IKRK-Delegierter in Libanon anfangs der 70er Jahre war ich Verantwortlicher für ein Flüchtlingslager von etwa 10 000 Flüchtlingen, vor allem Palästinensern. Die Menschen aus dem Lager haben gestohlen und der örtlichen Polizei Probleme gemacht. Der Grund waren der Hunger und der Verlust von Heimat und Freiheit – im benachbarten Deutschland existierte nach dem Krieg ein geflügeltes Wort: «Mundraub ist gestattet». Die Reaktionen der Israeli waren in jeder Beziehung unverhältnismässig. Um mehr Sicherheit für sich zu erlangen, schränkten sie die Freiheit der Lagerinsassen massiv, zum Teil völkerrechtswidrig ein. Dazu kamen weitere Restriktionen wie Einschränkungen bezüglich Wasser, Lebensmitteln und Medikamenten. Damit war die Gewaltspirale eröffnet: Es folgten Sprengstoffanschläge der Palästinenser und wiederum das 10fache Zurückschlagen der israelischen Armee. Heute haben wir in Gaza eine Sicherheitsmauer und eine Sperranlage, die der ehemaligen Mauer an der Grenze der DDR in nichts nachsteht und mit der das grösste Gefängnis auf diesem Planeten installiert worden ist. Der Preis für die Sicherheit auf der einen Seite ist der totale Verlust von Freiheit auf der anderen Seite.
Der elfte September ist – unabhängig davon, wie man ihn beurteilt, ob als von Amerikanern selbst für die Legitimation eines Präventivkrieges durchgeführt oder als Attentat der al-Kaida – ist wohl das eklatanteste Beispiel, was Menschen bereit sind zu investieren, wenn es um vermeintliche Sicherheit geht: nämlich den Tod Hunderttausender unschuldiger Menschen. Besonders dramatisch ist es, wenn Gott im Namen eines Kreuzzugs gegen das Böse für ein Verbrechen an der Menschheit instrumentalisiert wird. Der Einsatz von Uran-Munition im grossen Stil und damit die Inkaufnahme Zehntausender genetisch geschädigter Kinder ist ein weiteres Merkmal dieses unglaublichen Verlustes an Verhältnismässigkeit.
Die Organisation Afghanistan Schweiz, der ich als Präsident vorstand, und die mit Spendengeldern und Geldern der DEZA, des Departementes für Entwicklung und Zusammenarbeit des Bundes, landwirtschaftliche Projekte in Afghanistan verwirklichen wollte, musste das Projekt unter anderem auch aus Sicherheitsgründen abbrechen: Vor Ort wurden die Schulen, vor allem der Mädchen, von Taliban zerstört und die Lehrer erschossen, und Vertrauenspersonen entpuppten sich als CIA-Agenten. Damit wurde ein in Freiheit zu realisierendes Projekt Landwirtschaft für den Frieden verunmöglicht.
Im folgenden sollen – ohne Anspruch auf Systematik und bei weitem nicht auf Vollständigkeit bedacht – einige Punkte der aus dem Ruder gelaufenen Balance vor dem Hintergrund von Freiheit und Sicherheit erwähnt werden:
Zunächst zum Sicherheitsbericht des Bundes: Die Frage müsste heissen: Wieviel Sicherheit braucht das Volk, um sich weiterhin in Frieden und Freiheit entwickeln zu können? Ist ein Alleingang vertretbar? Gibt es einen Mittelweg? Oder braucht es einen Anschluss an ein Bündnis im Rahmen der EU, der Nato oder der Uno? Soll die Schweiz tatsächlich – wie es die GSOA, die Gesellschaft Schweiz ohne Armee, will – demilitarisiert werden? Kann sie noch glaubwürdig behaupten, neutral zu sein, wenn dann die Nato die Sicherheit garantieren muss!? Soll die Schweiz tatsächlich ein «free-riding» auf Kosten von Allianzen anstreben, zu denen sie politisch nicht gehören will?
Die Politik ist schwer kalkulierbar geworden, weil es zu einer Polarisierung von links und rechts gekommen ist und die Mitte Mühe hat, einen Ausgleich zu schaffen. Die Kalkulierbarkeit ist unter die Räder gekommen.
Die Gesellschaft, die sich auf einen ausgeprägt starken Mittelstand berufen konnte, der Gewähr war für die Sicherheit, kommt immer mehr unter Druck, weil der Mittelstand die Lasten der Staatsökonomie tragen muss.
Im übrigen hat Luther in seiner Schrift über die Freiheit eines Christenmenschen darauf hingewiesen, dass die Sicherheit im Glauben eine elementare Voraussetzung für das Vertrauen in die Wahrheit ist!
Auch der heutige Strafvollzug ist ein exemplarisches Beispiel fehlender Verhältnismässigkeit: Wo beginnt, wo endet der Freiheitsanspruch eines Strafgefangenen, und wo hat die Sicherheit der Bevölkerung einen höheren Stellenwert?
Die Liste wäre beliebig weiterzuführen. Doch was ist der Grund, dass wir praktisch in allen Lebensbereichen und Disziplinen das Mass der Dinge verloren haben?
Mangel an Moralität
Die These ist, dass die menschliche Entwicklung durch einen Mangel «an Liebe und Wahrheit», durch einen Mangel an Moralität, behindert wird. Und in der Tat: Viele der heutigen Übel haben etwas mit einem Mangel an konsequentem ethischen Durchdringen des eigenen Fühlens, Denkens und Handelns zu tun. Dies liegt aber nicht so sehr daran, dass ethische Grundlagen fehlen, sondern wohl mehr noch daran, dass solche Grundlagen zu wenig beachtet werden – was einige Fragen aufwirft, zum Beispiel:
Warum werden diese Grundlagen nicht beachtet?
Warum wird die Beachtung dieser Grundlagen zu wenig eingefordert?
Was ist nötig, damit diese Grundlagen nicht nur geschrieben stehen, sondern auch in einem Masse Beachtung finden, dass sie unser Zusammenleben prägen?
Nur allein schon diese drei Fragen zu beantworten ist eine Menschheitsaufgabe. Aber diese Aufgabe muss dringend angegangen werden. Denn die Menschheit sieht sich mehr und mehr mit der Tatsache konfrontiert, dass nur noch kriminell zu nennende Gesinnungen und Handlungen nicht nur im vom Staat verfolgten kriminellen Milieu zu finden sind und sonst die Ausnahme bilden, sondern dass auch sehr einflussreiche Teile unserer «Eliten» in Politik, Wirtschafts- und Finanzwelt, in Militär, Medien und Kultur, zu – wie der Kirchenvater Augustinus sagen würde – «Räuberbanden» verkommen sind, welche die Gerechtigkeit mit Füssen treten, ohne vom Staat belangt zu werden.
Die masslose Verschwendung von Steuergeldern in der EU, deren Günstlingskultur, die Meinungsmanipulationen, die völlig intransparenten Geschäftsabläufe und die absolut undemokratischen Entscheidungsprozesse – Beispiele dazu sind zuhauf nachzulesen im Buch «Die Europafalle» von Hans-Peter Martin – oder das zweifelhafte Engagement im Rahmen der Nato am Hindukusch – all das sind Aspekte des Zeitgeschehens, die dem Bürger die Sicherheit nehmen, in einem demokratischen Staat in Freiheit zu leben!
Als besonders folgenreich erweist sich dabei, dass die vielen öffentlichen Lügen unserer «Eliten» immer mehr Vertrauen zerstört haben und der klassische Rechtsgrundsatz von «Treu und Glauben», der das Zusammenleben und Zusammenwirken auf die Voraussetzung baut, dass Menschen anständig und redlich handeln, in Frage gestellt wird.
Aber alle die Varianten von «Vertrauen ist gut, Kontrolle ist besser» bis hin zum «Tugend-Terror» sind keine Perspektiven, und sie stellen auch keine überzeugenden Alternativen zum einmal zerstörten Vertrauen dar. Eine Wende zu Besserem fordert mit Sicherheit eine innere Orientierung an einer mitmenschlichen Ethik.
Mitmenschliche Ethik
Was für Voraussetzungen sollten einen Umschwung sicherstellen?
Eine humanistische Bildung ist nötiger denn je, denn die Frage kann nicht lauten: Goethe oder Googeln? Wer soll den Schülern unsere Zukunft, die Welt erklären? Zwar ist es selbstverständlich, dass die Schule praktische Fertigkeiten vermitteln soll: Lesen, Schreiben, Rechnen, Googeln (ein neues Verb, das sich durchsetzen wird), den Umgang mit PC und Internet. Entscheidend aber ist, dass die Schule Ideale und Sinnzusammenhänge zu vermitteln hat, die allem praktischen individuellen Nutzen vorausgehen. Vor allem ist die Kultur als ein Gewebe zu erkennen, in dem alles zusammenhängt. Motive der griechischen Mythologie oder der Bibel zum Beispiel begegnen uns in der Literatur, in der Oper, im Theater, im Museum, aber auch in tausend Alltagsdingen. Dem, der sie entziffert, zeigt sich die Welt als vielschichtig lesbares Buch. Und damit erlebt er ein Glück der Erkenntnis, das über jeden materiellen Nutzen hinausgeht.
Was benötigen wir? Unsere Zeit ist gekennzeichnet vom Pendelschlag zwischen Erwartung und Enttäuschung, immer von einem Extrem zum anderen. Die grossen Hoffnungen, die wir uns machen, zerplatzen an den scharfen Kanten der Realität.
Treu und Glauben müssen wieder gelten
Der Schriftsteller und Pionier des Journalismus, Matthias Claudius, hat also recht: Etwas Festes muss der Mensch haben. Die Höhenflüge seiner Lebensziele kann man nicht auf Sand bauen.
Wir brauchen Leute, auf die man sich verlassen kann. Die sich nicht versprechen, wenn sie etwas versprechen. Propheten, die gegen den Strom der Zeit predigen. Leute mit Voraussicht, Perspektiven und Lebenszielen. Menschen, denen man vertrauen kann. Keine Angst- und Panikmacher, sondern Mutmacher. Keine Pessimisten, sondern Hoffnungsträger. Vermutlich brauchen wir in allen Bereichen wieder mehr Leadership als Management.
Der wieder erstarkte Glaube an eine umfassende Schöpfung ist zwar keine Leidverhinderungsversicherung, keine Schutzimpfung gegen Not und Sorgen des Alltags. Und doch setzt sie Kräfte frei, mit dem Leid fertig zu werden, bevor es uns überwältigt und wir an der Theodizeefrage zerbrechen.
Gott ist weder ein Garant der Moral noch ist die Religion Lieferantin einer Weltanschauung. Vielmehr sind Moral und Weltanschauung eine Sache der Rationalität des Menschen, und damit ein Erweis seines Erwachsenseins.
Eines sollten wir uns vor Augen halten: Das Glück, das wir alle suchen, ist alles andere als selbstverständlich. Wenn das Glück nicht in Erfüllung geht, fühlen sich die Menschen betrogen und suchen nach einem Schuldigen.
Der französische Soziologe Pascal Bruckner äusserte sich in der Zeitung «Le Temps» sinngemäss wie folgt: Unsere Gesellschaften leben seit den sechziger Jahren im Zeitalter der «Suche nach dem Glück». Dieses Glück wird als ein bei der Geburt erworbenes Recht betrachtet. Wenn es aber nicht in Erfüllung geht, fühlen sich die Menschen betrogen und suchen deshalb nach einem Schuldigen. Die Risiken des Lebens sind in der Tat mit dem Glück unvereinbar. Wenn also der Ernstfall eintritt, hat jemand zwangsläufig das Glück vereitelt oder das Unglück provoziert. Das Leiden, der Tod, die Risiken des Lebens sind unannehmbar. Den Opfern wird ein sakraler Charakter verliehen. Auf Grund dieser Viktimisierung wird ein neuer Sozialvertrag geschlossen, aus dem eine Entschädigungskultur hervorgeht, die dem Staat eine fast göttliche Funktion zuweist, besonders in einer Gesellschaft, die jeden religiösen Akt beiseite zu schieben versucht.
Greifbar in der Verantwortung
Als Letztes eine Offenbarung unseres Nationalheiligen – für mich einer der grössten Schweizer, wenn nicht der Grösste, ohne den wir kaum hier in dieser Form versammelt wären: Bruder Klaus. Sein Rat «Steckt den Zaun nicht zu weit» ermöglichte das Stanser Verkommnis und rettete damit die alte Eidgenossenschaft. Die Botschaft ist aber eine allgemeine. Sie heisst, etwas anders formuliert: Bleibt klein, für eure Landsleute kalkulier-, mess-, durchschaubar, solidarisch und greifbar in der Verantwortung! Das ist mit Sicherheit die Garantie für die Freiheit. •
Vortrag, gehalten am XVIII. Kongress «Mut zur Ethik» zum Thema «Direkte Demokratie – ein redlicher Weg statt ‹Social Engineering› in Feldkirch vom 3.-5.9.2010
*Dr. dipl. Ing.-Agr. ETH Thomas Huber ist Oberst, Instruktor der Gebirgskampftruppen a.D. Er war zwölf Jahre Schulkommandant der Train-Rekrutenschulen in Luzisteig. Heute unterrichtet er Ethik und Religionslehre in Chur.
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