Sonntag, 7. September 2008

Deutschland und die Schweiz

von Karl Müller

Ein Deutscher, der sich seinem Land verbunden fühlt, ist herausgefordert, wenn die Rede ist von «deutscher Rücksichtslosigkeit» und «deutscher Arroganz», vom «Herrschaftsmensch» und «Stiefeltritt» und wenn ein Schweizer in bezug auf die Deutschen mit den Worten zitiert wird: «Mit denen als Herren im Land? Nein, so weit darf es nicht kommen! Es ist ja jetzt schon nicht auszuhalten!» (vgl. Zeit-Fragen Nr. 33 vom 11.8.2008)
Was ist aus Deutschland geworden, dass ein Diplomat und Wissenschaftler aus Asien findet: «Deutschland hat all seine moralische Glaubwürdigkeit verloren.»?
Gescheiterte Versuche der Deutschen, ihre Freiheit zu erlangen

In der zweiten Hälfte des 18. und der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts hatten sich viele Deutsche nicht mehr mit den Verhältnissen in Deutschland abfinden wollen. Sie waren stolze Deutsche, und deshalb wollten sie keine Untertanen absoluter Herrscher sein, sondern freie Menschen in einer deutschen Verfassungsnation mit gleichen Rechten für alle und ohne Privilegien.
Aber die Deutschen haben es damals leider nicht geschafft, sich zu befreien. Statt dessen hat man die Deutschen gebeugt und in die falsche Richtung gehoben: 1871 mit einem deutschen Reich auf Kosten der Opfer dreier Kriege und auf Kosten der politischen Freiheit; dann mit Gross- und Weltmachtträumen, bis der Erste Weltkrieg alle Phantasien zerstörte; nach dieser Katastrophe mit Revanche­gedanken für eine bittere Niederlage, auf die das menschenverachtende NS-Regime aufgepfropft werden konnte; und nach dem absoluten Zusammenbruch 1945 und nach zuerst schweren Demütigungen mit einer Sonder- und Besserstellung für Westdeutschland: gegenüber den Menschen im Osten, auch im Osten Deutschlands; als führende Wirtschaftsmacht in Europa; als engster Verbündeter der Siegermacht USA auf dem europäischen Kontinent.
USA nach 1990 für ein grosses Deutschland

Die USA waren es auch, die sich für das grosse Deutschland nach 1990 besonders stark machten – nicht aus Liebe zu den Deutschen, sondern im Interesse des Strebens nach der alleinigen Weltmacht – mit dem grossen Deutschland als treuestem Vasall. Condoleezza Rice hat ein dickes Buch über die Rolle der USA bei der «Wiedervereinigung» geschrieben. Brzezinski hat offen erklärt, welche Vasallenrolle Deutschland zu spielen habe.
Gibt es eine deutsche Mentalität? Nein, die Deutschen sind so verschieden wie die Menschen in jedem anderen Land, der Zusammenhalt ist eher schwächer als in anderen Ländern. Das hat etwas mit der vertrackten deutschen Geschichte zu tun – auch mit der Grösse des Landes.
Ablenkungsversuche von der tiefen Gespaltenheit des Landes

So gibt es die Versuche, künstliches «deutsches Selbstbewusstsein» zu schaffen, zum Beispiel über den Sport. Aber in der Regel sind das von oben gesteuerte Ablenkungsversuche – von der tiefen Gespaltenheit des Landes: in Ost und West, in arm und reich usw.
Aber anstatt in Deutschland selbst das Haus in Ordnung zu bringen, sollen die Deutschen erneut mit gefährlichen Parolen in die Irre geführt werden, und das vor allem seit 1990: Wir sind wieder wer in der Welt, nicht nur wirtschaftlich, sondern auch politisch und militärisch …
Angela Merkel kümmert sich nicht um Deutschland

Die Kanzlerin Angela Merkel kümmert sich nicht um Deutschland, sie gibt sich als grosse Aussenpolitikerin, Mittlerin in den Konflikten der Welt, Fürsprecherin der Menschenrechte. Die Medien gaben ihr die Aura der grossen Diplomatin. Jeder soll denken: Unsere Regierung tut gute Dinge in der Welt, sie hat Verantwortung in der Welt übernommen.
Deutschland Schritt für Schritt zur Globalisierungs- und Kriegsmacht gemacht

Tatsache aber ist, dass die deutschen Regierungen seit 1990 aus Deutschland Schritt für Schritt eine Kriegsmacht gemacht haben, Deutschland ist der drittgrösste Rüstungsexporteur der Welt, die deutsche Politik hat aus der Europäischen Union ein Globalisierungsprojekt gemacht. Im Zentrum stehen Freihandel und Kapitalverkehrsfreiheit: auf Kosten der sozialen Gerechtigkeit und der Werte menschlichen Miteinanders. Die Profite deutscher Grossunternehmen sind enorm gestiegen – aber die Löhne sind gesunken. Deutschland ist Exportweltmeister, und die Exporteure träumen vom Immer-weiter-so und Immer-noch-mehr.
Deutscher Hochglanz-Schein

Deutsche Eisenbahner sprechen davon, dass sich viele deutsche Schienenstrecken und Bahnanlagen in einem schlimmen Zustand befinden. Aber die Deutsche Bahn AG hat hochfliegende Pläne: Weltkonzern an der Börse will sie werden. Der Lötschbergtunnel, so entnimmt man der Hochglanz-Webseite der Bahn AG, sei ein ganz wesentlicher Teil «des wichtigsten europäischen Güterkorridors Rotterdam-Köln-Basel-Mailand-Genua». Dieser Transportkorridor soll «Europa näher zusammenbringen und die europäische Wirtschaft stärken».
«Soft power» gegen die Schweiz?

Ein Land, dessen Bevölkerung da nicht mitmacht, ist für die deutsche Regierung und die Kreise, für die diese Regierung Politik macht, ein Dorn im Auge. «Soft power» anzuwenden heisst, nicht nur Kriege mit Bomben und Raketen zu führen, um Völker und Länder unter das Joch der Profitwirtschaft zu zwingen, sondern auch Länder und Völker von innen her zu zersetzen und gefügig zu machen: mit Kapital, um Unternehmen des Landes dirigieren zu können; mit öffentlichen Kampagnen, um Widerstandskräfte zu schwächen; mit Arroganz und Überheblichkeit, um die anderen zum Schweigen zu bringen; und mit einem Vertragskorsett, das die Luft zum Atmen nimmt.
Es ist richtig: Schweizer haben im Jahr 2007 42,7 Milliarden Franken in Deutschland investiert gegenüber nur 22,8 Milliarden Franken, die Deutsche in der Schweiz investiert haben. Aber das sind nur die absoluten Zahlen. Relativ gesehen hat der deutsche Investitionsanteil ein viel grösseres Gewicht.
Etwa 1800 deutsche Unternehmen sind in der Schweiz tätig. Wem und welchen Zielen sind diese Unternehmen verpflichtet?
Es hat eine Zeit gegeben, da haben sich Unternehmer ihrem Land und den Menschen in ihrem Umfeld verpflichtet gefühlt. Ist das noch möglich in einer vagabundierenden Wirtschafts- und Finanzwelt, in der nur noch der Profit zählt?
Was ist davon zu halten, wenn mehr als 4000 deutsche Wissenschaftler an Schweizer Hochschulen tätig sind? 44 Prozent der Professoren an Schweizer Hochschulen sind keine Schweizer, und die Hälfte davon sind Deutsche. In der Deutschschweiz sind es sogar zwei Drittel. Mit welchem Geist begegnen diese Hochschullehrer dem, was die Schweiz ausmacht? Was geben sie an ihre Studenten weiter?
Direkte Demokratie, echter Föderalismus und bewaffnete Neutralität gegen europäischen Grössenwahn

Direkte Demokratie, echter Föderalismus und bewaffnete Neutralität zeichnen die Schweiz aus. Aber das passt nicht ins Wahngebilde eines zentralisierten Europas im Dienste des global vagabundierenden Kapitals; eines EU-Europas im Dienste eines Grossmachtwahns, in dem nicht mehr an das Wohl der Menschen, sondern nur noch an immer schneller, immer grösser und immer mehr gedacht wird.
Und was passiert, wenn das Wahngebilde zusammenbricht?

Und was passiert, wenn das ganze Wahngebilde wie ein Kartenhaus zusammenbricht? Jeder weiss: Die Zeichen stehen nicht gut. Soll dann vorher noch mit einem globalen Krieg die «Rettung des Systems» in der Kriegskonjunktur und der totalen Ausbeutung der anderen Teile der Welt gesucht werden? Wozu die immense Aufrüstung? Wozu das Zündeln an allen Ecken und Enden? Gerade jetzt zum Beispiel gegenüber Russland und China – gegen den Willen und gegen das Interesse Europas!
Not tut eine Rückkehr zu mehr Bescheidenheit …

Nach dem Zweiten Weltkrieg hat es in Deutschland als erste Reaktion auf das im Krieg Angerichtete einen Geist der Bescheidenheit und Zurückhaltung gegeben. Sehr viele haben sehr genau gewusst, dass sie zu lange Hitler und dessen Grössenwahn zugejubelt haben. Dafür haben sich viele Deutsche sehr geschämt. Und sie wollten sich ihrer Verantwortung stellen. Nie wieder Krieg … und nie wieder Kapitalismus – darin waren sich für eine kurze Zeit sehr viele einig. Seitdem sind mehr als 60 Jahre vergangen: 60 Jahre Gehirnwäsche, 60 Jahre Zuckerbrot und Peitsche. 60 Jahre bundesdeutsche Staatsräson: bedingungslos an der Seite der US-Politik, bedingungslos an der Seite der Politik Israels.
Zu vielen der deutschen Politik, der deutschen Industrie, der deutschen Finanzakteure, der deutschen Rüstungskonzerne, der deutschen Medien, der deutschen «Eliten» ist die Bescheidenheit abhanden gekommen, vor allem seit 1990. Und vor allem vielen Westdeutschen. Und wir anderen Deutschen? Was sagen wir dazu? Wo steht jeder von uns?
… zu mehr Realismus …

Gerade die Deutschen haben doch schlimmste geschichtliche Erfahrungen damit gemacht, wohin der arrogante Grössenwahn einer Machtclique führen kann: nur in den Abgrund.
… und zu mehr Zuversicht, dass auch die Deutschen frei sein können.

Es ist uns Deutschen aber nicht ins Blut geschrieben, dass wir immer Untertanen sein müssen. Die Deutschen können sich auch von denjenigen befreien, die sie beherrschen und regieren, die das Land spalten und von der Spaltung profitieren wollen, die nach der Grossmachtrolle gieren und andere Völker und Staaten bedrohen.
Indes: Auch wenn die deutschen Massenmedien darüber fast nicht berichten, im Grossteil der übrigen Welt hat die deutsche Politik ihr Ansehen verspielt, vor allem, seitdem die Regierung Merkel sich fast bedingungslos den Vorgaben aus Washington unterworfen hat. Es wurde erkannt, dass das Phänomen Merkel nicht mehr ist als eine massenmediale Inszenierung und PR-Kampagne. Eigene Substanz ist keine vorhanden. Und auch der Stern der Weltmacht USA verblasst. Wozu also weiter denen folgen, die keine Zukunft haben, und das zu Recht! •

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