Freitag, 23. Juli 2010

Die Gleichschaltung Europas

«Der Staatsstreich von Brüssel»

Ein Grosseuropa mit einem straff organisierten Kern ist keine Perspektive
von Karl Müller

Die Finanzhilfe an Griechenland und der Staatshaushalt einiger weiterer Staaten geben Anlass, das von der EU geleistete «Hilfspaket» und seine Bedingungen genauer anzuschauen. Seit Rambouillet (1999) sind die Europäer ein bisschen gewarnt. Damals wurden wesentliche Teile des Vertrags erst im nachhinein bekannt. In den «Schweizer Monatsheften», Ausgabe 978 vom Juni 2010, sind einige Beiträge dem aktuellen Thema gewidmet, von denen der Artikel von Charles B. Blankart und Erik R. Fasten, «Der Staatsstreich von Brüssel», Zusammenhänge beleuchtet, die in der Mainstream-Presse nicht zu lesen sind.

Die Zeit, als die Regierungen vieler Staaten Europas ihre Bürger ohne allzu grossen Widerstand in die EU drängen konnten, geht zu Ende. Die Attraktivität der EU hat in jeglicher Hinsicht sehr stark nachgelassen, und es zeigen sich andere Optionen als eine Unterordnung unter die Vorgaben aus Brüssel. – Vielleicht nimmt gerade deshalb die Perfidie und die Subtilität der Versuche, Länder wie die Schweiz trotzdem in die EU zu zwingen, eher noch zu.
Immer deutlicher wird aber, dass die schein­bar wirtschaftlich so starke EU ein Koloss auf tönernen Füssen ist, und neben ihrem schon immer bekannten Mangel an demokratischer Legitimation zeigen sich nun auch ihre wirtschaftlichen Achillesfersen und im Zusammenhang mit diesen beiden neuralgischen Punkten vor allem 2 weitere gewichtige Mängel: der Mangel an Ehrlichkeit und die Verletzung rechtsstaatlicher Grundsätze.
Nach dem Zweiten Weltkrieg wollten die Menschen in Europa die Ära der furchtbaren Kriege auf dem Kontinent für immer beenden. Statt dessen sollten sich die Völker und Staaten in Europa über ein für alle gedeihliches Zusammenleben verständigen können. Die EU und ihre Vorgängerorganisationen haben diese grundlegenden Anliegen der Menschen missbraucht und auf ihre Fahnen geschrieben, obwohl es in Wirklichkeit politisch immer um etwas anderes ging und geht.

Die Täuschung der Öffentlichkeit hat System in der Geschichte der EU
Aber die Täuschung der Öffentlichkeit hat System in der Geschichte dieses supranationalen Gebildes. Dies zeigte sich auch nach 1990. Schon der Vertrag von Maastricht aus dem Jahr 1992, der die bisherige Wirtschaftsgemeinschaft in eine politische Union, die Europäische Union (EU), mit aussen- und innenpolitischen Befugnissen verwandelte und zugleich den Beschluss fasste, eine einheitliche Währung innerhalb dieser politischen Union einzuführen, war eine Mogelpackung. Die Völker und auch die meisten nationalen Regierungen der damaligen Europäischen Gemeinschaft (EG) wollten keinen euro­päischen Einheitsstaat, auch nicht die Völker, die sich gerade erst aus der Umklammerung eines anderen Blockes befreit hatten. Diese strebten zwar in die EU, wollten von dieser aber vor allem Hilfe bei der Entwicklung ihres eigenen Landes und ein Zusammenleben in einem Europa freier und souveräner Staaten.
So hat man denn in Maastricht wenig über die Pläne für einen europäischen Einheitsstaat gesprochen, statt dessen aber mit dem Beschluss über die Gründung einer Währungsunion Fakten schaffen wollen, die nur in zweiter Linie etwas mit Wirtschaft und Währung, in erster Linie aber mit dem Streben nach einem politischen Einheitsstaat – unter neoliberalen Vorzeichen – zu tun hatten. Wie schon bei der deutschen Währungs-, Wirtschafts- und Sozialunion aus dem Jahr 1990 spielte deshalb weniger die wirtschaftliche Vernunft als der politische Plan eine Rolle, etwas gegen den Willen der Völker durchzusetzen. Jedem, der über den Tellerrand des Augenblicks etwas hinausschaute, war schon in Maastricht klar, dass die Währungsunion nicht «funktionieren» konnte. Es sei denn, man nehme den Ländern immer mehr von ihrer politischen Souveränität und setze auf einen demokratieverachtenden Zentralismus.
Die deutschen Verfassungsklagen gegen den Vertrag von Maastricht, später gegen die tatsächliche Einführung des Euro und nun wieder gegen die sogenannte Griechenlandhilfe und den sogenannten Notfallrettungsschirm haben das immer klar gesehen und deutlich gemacht, dass diese Verträge wirtschaftlich unvernünftig sind, rechtlich gesehen ein Verfassungsbruch und deshalb sehr wahrscheinlich anderen Zielen dienen müssen als den offiziell vorgegebenen.

«Der Staatsstreich von Brüssel»
Nun sind zwei Ökonomen, Charles B. Blankart und Erik R. Fasten, mit einem Beitrag für die Schweizer Monatshefte vom Juni 2010 («Der Staatsstreich von Brüssel») erneut der Frage nach dem politischen Hintergrund der Rechtsbrüche und wirtschaftlichen Unvernunft innerhalb der EU nachgegangen und zu dem Ergebnis gekommen: Die sogenannte Griechenlandhilfe und der sogenannte Notfallrettungsschirm kommen einem Staatsstreich gleich: «Tatsächlich führte die EU-Kommission die Union in einer generalstabsmässig vorbereiteten Aktion und unter Zustimmung der Staats- und Regierungschefs in eine völlig neue Struktur. Im Zentrum steht nun ein straff organisiertes Kleineuropa von Eurostaaten, das, umgeben von Beitrittsstaaten und Grossbritannien, eine Art Gross­europa bildet.»
Die beiden Autoren legen dar, dass die EU-Kommission der im letzten Herbst so plötzlich in massive Kritik geratenen griechischen Haushaltspolitik jahrelang «tatenlos zugesehen» hatte und nicht wirklich etwas gegen den Staatsbankrott Griechenlands im Mai 2010 unternahm. Rechtlich hätte mit diesem Staatsbankrott die Zuständigkeit der EU-Kommission geendet: «Es war der ausdrückliche Wille der Unterzeichner des ­Lissabon-Vertrags, sich nicht in den Strudel eines Staatsbankrotts hineinziehen zu lassen. So kam die No-Bailout-Klausel nach Artikel 125 [des AEUV] zustande.»
Die beiden Autoren beschreiben den bei einem Staatsbankrott üblichen Weg und dessen wahrscheinliches Ergebnis: «Griechenland würde aus eigenem Interesse die notwendigen Strukturmassnahmen treffen, um wieder kreditfähig zu werden. So wäre es möglich, das Insolvenzproblem Griechenlands nach vielfach bewährtem Muster früherer Fälle zu lösen.»

Die EU-Kommission will ein souveränes Handeln der Staaten verhindern
Dafür wäre es allerdings notwendig geworden, dass Griechenland die Euro-Zone verlässt und die Möglichkeit zur Abwertung einer eigenen Währung erhält. Aber genau dies wollte die EU-Kommission verhindern. Warum? «Als souveräner Staat würde Griechenland seine Zahlungsfähigkeit ausserhalb der Währungsunion wiederherstellen. Das missfiel der EU-Kommission. Denn souveränes Handeln geht zu Lasten ihrer Macht, und das musste um jeden Preis verhindert werden.» Nur deshalb, so die Autoren, wurde Griechenland widerrechtlich das Bailout angeboten. Nicht, um den Euro zu retten! Die wirtschaftlichen Argumente sprachen und sprechen bis heute dagegen, wie die Autoren genau belegen: Noch nie wurden für ein Land mit Haushaltsproblemen soviel Steuergelder zur Verfügung gestellt und wurde damit soviel riskiert wie für Griechenland. Noch nie war der falsche Anreiz für andere Euro-Länder mit Haushaltsproblemen, den griechischen Weg zu gehen, so gross wie nach diesem EU-Beschluss. Noch nie wurden die Gläubiger, in diesem Fall vor allem die international agierenden Grossbanken, so wenig zur Lösung des Problems herangezogen wie dieses Male, obwohl sie doch zu einem gehörigen Mass mitverantwortlich für die Entwicklung waren. Statt dessen: «Griechenland wurde durch einen einmaligen Kraftakt der Steuerzahler der Euro-Staaten, insbesondere Deutschlands, gerettet. Es wurde für sehr viel Geld Zeit gekauft, um den griechischen Haushalt wieder in Ordnung zu bringen.» Aber: «Ob dies gelingt, ist jedoch mehr als fraglich.»
Nur wenig später, Anfang Mai 2010, sattelte die EU-Kommission mit dem Plan für den 750 Milliarden Euro umfassenden «Notfallrettungsschirm» noch einen drauf. Die EU-Kommission, so die beiden Autoren, sei auch hier generalstabsmässig vorgegangen, habe im Vorfeld übermässig dramatisieren lassen – insbesondere der französische Staatspräsident Sarkozy tat sich dabei hervor – und zog die anderen Regierungen in einer Nacht-und-Nebel-Aktion – «innerhalb weniger Stunden» – über den Tisch. Das Ergebnis: Die EU-Kommission – das am wenigstens demokratisch legitimierte und doch bislang schon mächtigste Organ der EU – «konnte ihre Kompetenzen massiv ausweiten und verfügt nun über einen Kredit­rahmen, der bis zu fünfmal grösser ist als der EU-Haushalt des Jahres 2010».

EU-Kommissions-Zentralismus
Die Konsequenzen für die Bürgerinnen und Bürger, für die Steuerzahler? «Für Defizitstaaten stellt er [der ‹Notfallrettungsschirm›] ein Signal dar, sich auf Kosten der Zahlerstaaten weiter zu verschulden. Ihr moralisches Risiko wird gestärkt, weshalb viele urteilten, die EU werde zu einer Transferunion.» Die EU-Kommission beansprucht nun eine Vorabkontrolle aller nationalen Staatshaushalte und hat die Möglichkeit von Sanktionen. ­Politisch bedeutet dies: «Sollten die nationalen Budgetverfahren tatsächlich so strukturiert werden, ginge dies weit über eine bundesstaatliche Zentralisierung, wie beispielsweise in den USA, hinaus. Der Staatsstreich der EU wäre geglückt.»
Das Fazit der beiden Autoren lautet: «Die Griechenlandkrise stellt für die Eurostaaten und ihre Steuerzahler eine leidvolle Erfahrung dar. Sie alle sind geschwächt, während einzig die Europäische Kommission gestärkt aus der Krise hervorgegangen ist. […] Die von der Kommission vorgeschlagene fiskalische und makroökonomisch-wettbewerbliche ­Überwachung impliziert ein völlig neues ­Paradigma des Föderalismus in Europa. ­Föderalismus wird nicht mehr als Ordnungsprinzip verstanden, unter dem Menschen unterschiedlicher Staaten miteinander Handel treiben und Regierungen untereinander im Wettbewerb stehen, sondern als Versagen, weil nicht alle Staaten in einem Glied marschieren.»
Werden die Staaten und Völker Europas diese Gleichschaltung und Ausschaltung von Demokratie akzeptieren? Freiwillig sicher nicht.

Die Bürger haben angefangen, über Alternativen nachzudenken
Der Vertrag von Lissabon erlaubt es, aus der EU auszutreten. Die Efta zeigt, dass es andere, freiheitliche Formen der Kooperation in Europa gibt. Die Schweiz und Norwegen zum Beispiel zeigen, dass es sich ausserhalb der EU sogar besser leben lässt als innerhalb. Kein Land, das den Weg aus der EU hinaus wählt, muss alleine und im Regen stehen. Von den Regierungen der EU-Staaten werden erste Schritte in eine andere Richtung bislang noch nicht zu erwarten sein. Aber die Bürgerinnen und Bürger haben schon angefangen, über neue Wege nachzudenken.

1 Kommentar:

edomblog hat gesagt…

Es gibt idealtypisch zwei verschiedene Konzeptionen:

1. Die erste die der deutschen und europäischen Ordoliberalen.Sie setzt auf einen Wirtschaftsraum mit Leistungswettbewerb durch Kartellaufsicht.

2. Die zweite setzt auf Europa als politischen Großraum im Sinne eines Empire. Vordenker wären Carl Schmitt und Alexander Kojeve. Damit ist Zentralismus und traditionelle Industriepolitik verbunden.

Ich habe drei Kurzessays gebloggt. Zwei zur Auswirkung des Denkens von Jürgen Habermas auf Europa und einen zu den Ereignissen um den Euro:

Habermas I.
http://edomblog.wordpress.com/2010/07/16/%e2%80%9eintersubjektivitat%e2%80%9c-als-medium-des-%e2%80%9eweltinnenpolitik-ohne-weltregierung%e2%80%9c/

Habermas II.
http://edomblog.wordpress.com/2010/07/16/von-der-%e2%80%9eideologiekritik%e2%80%9c-zur-%e2%80%9ediskurstheorie-des-internationalen-regierens%e2%80%9c/

Zum Euro:
http://edomblog.wordpress.com/2010/07/14/der-euro-als-weichwahrung-wie-fruchtgummi-kontrafaktische-antizipation-der-finanziellen-folgenlosigkeit/