Donnerstag, 18. Dezember 2008

Macht durch Lüge

Wenn die Stimme des Gewissens der eigentliche Motor unserer Taten würde …
von Karl Müller

Einiges hat die Weltöffentlichkeit ganz offen mitbekommen, zum Beispiel die Lüge über die irakischen Massenvernichtungswaffen, um den völkerrechtswidrigen Angriffskrieg gegen dieses Land zu rechtfertigen – nach den «Nürnberger Prinzipien» das schwerste Kriegsverbrechen. Das ist aber nur die Spitze des Eisbergs. Mir sind mittlerweile keine gewichtigen politischen Themen mehr bekannt, bei denen es sich nach genauerer Recherche nicht herausstellt, dass uns unsere Regierungen und die mit der politischen Klasse und dem grossen Geld verbundenen Massenmedien die Wahrheit verschweigen und statt dessen Behauptungen verbreiten, die vor allem denen nutzen sollen, die diese Behauptungen in die Welt gesetzt haben.
Beispiele für solche Lügen sind,
• dass die Finanzinstitute und die Regierungen von der Finanzkrise überrascht waren, nun aber nur noch das Beste für uns wollen und überhaupt nicht beabsichtigen, einen Konzentrations- und weiteren Verschuldungsprozess im Interesse der ganz Grossen der Finanzwelt voranzutreiben,
• dass nun alle Regierungen bemüht sind, alles zu tun, um eine Weltwirtschaftskrise wie Anfang der dreissiger Jahre des letzten Jahrhunderts zu vermeiden, und niemand beabsichtigt, die Arbeitnehmer noch mehr unter Druck zu setzen,
• dass der Ölpreis einfach nur nach Marktgesetzen so unverhältnismässig stark gefallen ist und es dabei in keiner Weise um einen gezielten Angriff auf gewisse ölexportierende Länder geht,
• dass die permanenten Katastrophenmeldungen aus der Banken- und Wirtschaftswelt Perspektiven für die Zukunft bieten und überhaupt nicht dazu dienen, uns und die Armen in der Welt zu entmutigen und noch mehr Verzicht abzuverlangen,
• dass es in den Gewässern vor Somalia um die Bekämpfung von Piraten geht und nicht um …,
• dass die Nato in Somalia an Land gehen will, um für rechtsstaatliche Verhältnisse zu sorgen,
• dass es den Mächten des Westens im Osten des Kongo um die Menschenrechte geht,
• dass die Regierung Israels leider nicht anders kann, als permanent und schwerst die Menschenrechte der Palästinenser zu verletzen,
• dass die US-amerikanischen Truppen bald aus dem Irak abziehen werden,
• dass immer mehr Soldaten in Afghanistan irgendwann einmal den Frieden bringen*,
• dass die immer häufigeren Bombardierungen Pakistans Terroristen gelten,
• dass sich die US-Raketensysteme in Polen und Tschechien gegen Raketen aus Iran oder Nordkorea richten,
• dass der EU-Vertrag, der den Iren nun mit der Brechstange aufgezwungen werden soll, wichtig für die Zukunft Europas ist und deshalb die Iren – sie konnten als einzige in der EU überhaupt – nun so lange abstimmen sollen, bis den EU-Oberen das Ergebnis passt,
• dass die von den USA ausgegangene «Homeland-Security»-Manie uns Bürgerinnen und Bürgern mehr Sicherheit bringt,
• dass der Einsatz von Soldaten im Inland (in Berlusconis Italien patroullieren mittlerweile 3000 davon in den grossen Städten des Landes) die Freiheit schützt,
• dass Deutschland immer mehr Kriegswaffen ausführt, um Arbeitsplätze in Deutschland und den Frieden in der Welt zu sichern,
• dass wir noch in einer rechtsstaatlichen und sozialen Demokratie leben,
• dass mit einem neuen US-Präsidenten Obama im Gespann mit Merkel und Sarkozy endlich alles besser wird.
Die Liste ist nicht vollständig. Aber sie reicht schon aus, wenn man einmal ernsthaft darüber nachdenkt, um immer eindringlicher Alarm zu schlagen.
Fasst man den Blick auf die Entwicklung der vergangenen Jahre zusammen, so zeigt sich, dass es heute in den westlichen Grossmächten in den wesentlichen politischen Fragen eine «überparteilich» zusammengeschweisste Macht«bewegung» gibt, dass die Gewalt ein «normal» gewordenes Mittel der Politik geworden ist, dass die Rechtsgleichheit unter den Menschen ignoriert wird, dass Recht und Gesetz von der Staatsmacht nicht mehr geachtet werden, dass es immer mehr «Sondergesetze» gibt, dass es imperiale Eroberungs- und Raubgelüste und Völkermord gibt, dass eine fast gleichgeschaltete Propagandawelle rollt …
Da ist es nur allzu verständlich, wenn viele mit Hoffnung nach Griechenland blicken und erwarten, dass dort vielleicht eine «kleine Revolution» stattfindet, die auf andere Länder ausstrahlt. Die Situation in diesem Land – wie übrigens nicht weniger in vielen anderen westlichen Ländern – ist in der Tat so, dass es allen Grund für einen grundlegenden Wandel der Politik gibt.
Bedenken sollte man aber auch: Zum einen kann man aus prinzipiellen Gründen und aus geschichtlicher Erfahrung ernsthafte Bedenken gegen «Aufstände» und «Revolutionen» haben. Und zweitens tut man gut daran, genau zu prüfen, was die vergangenen Tage in Griechenland wirklich passiert ist und passiert. Wir kennen solche «Revolutionen», die von Geheimdiensten und deren Vorfeldorganisationen gesteuert werden. Da geht es um reine Machtpolitik. Der US-amerikanische Historiker und Geheimdienstexperte Webster Griffin Tarpley hat dies in seinem neuen Buch «Barack Obama. Wie ein US-Präsident gemacht wird» (ISBN 978-3-938516-74-4) wieder einmal zusammengetragen.
Der Schlaf der Vernunft gebiert Ungeheuer, hat der Maler Francisco José de Goya eines seiner Gemälde genannt. Das war vor 200 Jahren. De Goya hat die Schrecken der napole­onischen Eroberungskriege in Spanien miterlebt. Er wusste, was er malte.
Die Aussage de Goyas ist auch heute noch richtig. Aber es geht um viel mehr als kalte Rationalität. Die Menschheit braucht mehr Herzenswärme, Mitgefühl mit dem Mitgeschöpf, keinen Rausch und keine Schwärmerei, sondern vernünftiges, natürliches Gefühl. Und dieses Gefühl hat jeder! Was wäre nicht alles möglich, wenn wir der Stimme des Gewissens mehr Platz einräumen und es zum eigentlichen Motor unserer Taten machen!
Huberta von Voss hat ein Buch mit dem Titel «Arme Kinder, reiches Land. Ein Bericht aus Deutschland» (ISBN 978-3-498-07064-9; eine eingehende Besprechung folgt) geschrieben. Sie erzählt von Menschen, deren Schicksal einem nicht mehr aus dem Kopf geht. So viele Facetten hat die Armut von Kindern in Deutschland, und es geht um viel, viel mehr als den Mangel an Geld. Aber sie schildert auch, dass es Menschen gibt, hier vor allem in Kirchengemeinden, die das alles nicht mehr mit ansehen können, sondern die einfach nur helfen.
Und welche Kräfte können Mitgefühl und Herzenswärme entwickeln, wenn es darum geht, dass sich der politische Wille ­verändert? •

*Wenn in Anbetracht der Tatsache, dass immer weniger Afghanen die Besetzung gutheissen, am vergangenen Wochenende in Frankfurt am Main ein Propagandafest mit ausgesuchtem offiziellem Personal und dem Motto «Afghanistan sagt Danke» veranstaltet wurde, und die afghanische Gastfreundschaft im Hinblick auf die fremden Soldaten in der Festankündigung mit dem Satz: «Melmapalena bedeutet Gastfreundschaft. Sie beginnt mit dem Anbieten von Tee und endet mit dem Schutz des Gastes unter Einsatz des eigenen Lebens» [Hervorhebung durch d. Verfasser] pervertiert wird, dann zeigt das einmal mehr, wie weit die Lüge vorangeschritten ist.

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