Freitag, 10. Februar 2012

USA - die imperiale Macht

Nachkriegs-Verfassungen: Privatisierungen und Aufbau imperialer Strukturen

Mahdi Darius Nazemroaya

Die USA haben seit dem Zweiten Weltkrieg die Verfassungen besiegter Staaten umgeschrieben. Aber in den vergangenen beiden Jahrzehnten gelang es Washington sogar, besiegte Staaten in wirtschaftlicher und politischer Hinsicht von Grund auf zu verändern und ihnen eine völlig andere Struktur zu geben, indem sie dezentralisiert und ausländische Einflussnahme auf ihre politischen Strukturen und ihre Volkswirtschaften legalisiert wurden. Vom früheren Jugoslawien bis zu Afghanistan und dem Irak ging dieser Prozess mit Krieg und einer direkten sowie anhaltenden ausländischen Militärpräsenz einher. Vor diesem Hintergrund kam den neuen Verfassungen in diesem Prozess eine besondere Bedeutung zu und öffnete der Eingliederung dieser Länder in das amerikanische Empire Tür und Tor.

Der nachfolgende Artikel Mahdi Darius Nazemroayas über die Manipulationen von Verfassungen als neokoloniales Mittel des Aufbaus moderner imperialer Strukturen wurde bereits 2011 im italienischen Journal Eurasia veröffentlicht.

Die Geografie eines Landes spiegelt sich auch in der Verfassung der entsprechenden Nation, in der in der Regel auch auf die äußeren und inneren Grenzen eingegangen wird, wider. Wenn wir dieser Beobachtung noch etwas genauer nachgehen, zeigt sich, dass Verfassungen auch missbraucht und verändert werden können, um bestimmten geopolitischen Zielen zu dienen. An dieser Stelle tritt eine wichtige geopolitische Fragestellung in den Vordergrund der Analyse, betrachtet man die Länder genauer, die sich im Krieg mit den Vereinigten Staaten und deren Verbündeten befunden haben. Wenn wir auf den Zweiten Weltkrieg [und die unmittelbare Nachkriegszeit] zurückblicken, wurden sowohl die japanische als auch die deutsche Verfassung nach ihrer Niederlage entweder direkt durch Washington oder aber unter alliierter Aufsicht verändert. Darüber hinaus errichtete das Pentagon in beiden Ländern Militärstützpunkte, was wiederum bei der sowjetischen Führung Beunruhigung auslöste.

Die verfassungsmäßige Neuausrichtung Japans und Deutschlands diente Washingtons geopolitischen Interessen. Dies zeigt sich augenfällig an der japanischen Verfassung, die vom amerikanischen Militär erstellt wurde. Artikel 9 der japanischen Verfassung versagt Japan das souveräne Recht, Krieg zu erklären oder ein ständiges Heer, eine Luftwaffe oder Marine zu besitzen. Mit dieser neuen Verfassung wurde Japan als potenzieller militärischer Konkurrent oder als potenzielle Bedrohung in Ostasien und der Pazifikregion ausgeschaltet. In den vergangenen zwei Jahrzehnten entwickelte sich ein neues tiefgreifendes Wechselspiel zwischen den neuen Verfassungen und den geopolitischen und strategischen Zielsetzungen Washingtons.

Der Aufbau und die Zerstörung von Nationen: ein wichtiges Rezept für Imperien
Man könnte sagen, dass sich die USA und ihre Verbündeten in den vergangenen 20 Jahren sehr intensiv mit der sogenannten »Nationenbildung« (dem »Nation Building«] befasst haben. Im Rahmen dieser [verschiedenen] Prozesse der Nationenbildung in den Ländern, die unter der politischen und militärischen Kontrolle Washingtons standen, wurden Verfassungen neu- und umgeschrieben. Bei dem Prozess der »Nationenbildung« handelt es sich nicht um ein wohlmeinendes [, an den Interessen der jeweiligen Nation interessiertes] Vorgehen, sondern es ist Teil einer Strategie, die Länder, die sich sozusagen im »Wiederaufbau« befinden, den Vorgaben einer weltweiten Vorherrschaft und einer »Nationenbildung« nach heutigem imperialem Verständnis zu unterwerfen. Die Verfassungen werden so umgeschrieben, dass sie 1) diese Länder zu Vasallenstaaten oder praktisch zu Kolonien machen, 2) für diese Vasallenstaaten in den weltweiten imperialen Strukturen moderner Prägung eine Nische einrichten und 3) diese Länder Washingtons geopolitischen Absichten dienen, eine weltweite Vormachtstellung einzunehmen oder diese auszubauen.

Zunächst aber muss die alte Ordnung zerstört oder zumindest grundlegend verändert werden, damit etwas Neues ihren Platz einnehmen kann. Die sogenannte »Nationenbildung« beginnt also in der Regel mit der »Nationenzerstörung«, die sich zuerst oder auch gleichzeitig vollzieht. Diesen Prozess der »Nationenzerstörung« treiben Washington und seine Verbündeten auf dreifachem Wege durch wirtschaftliche, politische oder militärische Aggressionen voran, oder sie bedienen sich dazu internationaler Institutionen und Organisationen, die von ihnen kontrolliert werden, wie etwa der Weltbank und des Internationalen Währungsfonds (IWF). Mit anderen Worten kommt es im Verlauf dieser Entwicklung immer zu einer Art Kriegsführung, um 1) Druck auszuüben, 2) Angst und Schrecken zu verbreiten, 3) die Auflösung der [gesamtgesellschaftlichen] Strukturen herbeizuführen und 4) das Land, auf das man es abgesehen hat, letztendlich in die heutigen imperialen Strukturen Washingtons einzubinden. Diese Kriege können offen geführt werden, aber auch verdeckte Formen annehmen.

Oft beginnen diese aggressiven Entwicklungen verdeckt, schlagen dann aber in der Regel in einen offenen Konflikt um, wenn das betreffende Land in der Phase der verdeckten Kriegführung nicht kapituliert. Sanktionen, dämonisierende Medienkampagnen, politische Isolation, wirtschaftliche Behinderung und das Schüren innenpolitischer Unruhen gehören zu den taktischen Mitteln, die in der Anfangsphase der Unterwerfung der ins Visier geratenen Länder eingesetzt werden. Selbst Kredite und Unterstützung werden als Waffen in diesem Krieg gegen diese Länder benutzt.

Die Strukturellen Anpassungsprogramme (SAP), die [vor allem vom IWF und von der Weltbank als Vorbedingung für Finanzhilfen] in den Zielländern durchgesetzt werden, dienen dazu, die nationalen Industrien und die sich im Staatsbesitz befindenden Vermögenswerte zu privatisieren. Diese SAPs führten in der früheren Sozialistischen Bundesrepublik Jugoslawien zu Bürgerkrieg und ethnischen Spannungen, an denen das Land später zerbrach und in verschiedene Republiken aufgeteilt wurde. Wenn sich ein Zielland diesem Druck nicht beugt, setzt Washington auf eine wie auch immer geartete Form des »Regimewechsels«.

Ein solcher Regimewechsel kann als »farbige Revolution« [zum Beispiel »Rosenrevolution« 2003 in Georgien; »Orangene Revolution« 2004 in der Ukraine] stattfinden oder aber durch eine direkte militärische Intervention forciert werden. Ein offener Krieg führt unvermeidlich zu einem Besatzungsregime durch ausländische Truppen. Washington und seine Verbündeten stellen diese militärische Eroberung und territoriale Besetzung gerne als »Befreiung« oder Militärintervention aufgrund humanitärer Erwägungen« dar. In diesem Sinne werden dann die ausländischen Besatzungssoldaten wie im Falle Bosnien-Herzegowinas als »Friedenstruppe« oder als Teil eines »Stabilisierungseinsatzes«, wie zum Beispiel beim Einsatz der Internationalen Sicherheitsunterstützungstruppe (ISAF) im von der NATO besetzten Afghanistan, bezeichnet. Tatsächlich zielt die Präsenz ausländischer Soldaten darauf ab, das besetzte Land über eine »Neustrukturierung« in eine Kolonie oder ein Protektorat modernen Typs zu verwandeln, um es dann in das amerikanische Weltreich einzugliedern.

Übergangsregierungen und ein Überblick über die »befreiten« Länder

Unter dem Besatzungsregime Washingtons und seiner Verbündeten werden die politischen, rechtlichen und wirtschaftlichen Institutionen in den besetzten oder sogenannten »befreiten« Ländern »umgebaut«. Vom von der NATO besetzten Kosovo bis zum besetzten Irak haben das Weiße Haus und das Pentagon in den besetzten Ländern Übergangsregierungen oder -verwaltungen eingerichtet. Bei diesen Regierungen handelt es sich in Wirklichkeit um modernen Formen von Kolonialverwaltungen in den besetzten Gebieten. Der Begriff »Übergang« in diesen so bezeichneten Regierungs- und Verwaltungseinrichtungen ist äußerst irreführend, da diese Einrichtungen, wie die Übergangsregierung in Somalia zeigt, die besetzten oder zusammengebrochenen Gebiete oft viele Jahre lang regieren. (i) So regiert die Interimsverwaltungsmission der Vereinten Nationen im Kosovo (UNMIK) den Kosovo seit 1999 bis heute, während die NATO das Gebiet über die Kosovo-Streitkräfte (KFOR) militärisch kontrolliert.

Trotz der Bildung einer Regierung durch die Kosovaren untersteht der Kosovo immer noch der UNMIK, die die Interessen Washingtons und der einflussreichen Mitglieder der Europäischen Union (EU) vertritt. Mithilfe dieser neokolonialen Verwaltungen konnten sich Washington und die EU ihrer Verantwortung als Besatzungsmächte für das Wohlergehen der besetzten Länder und ihrer Bevölkerungen entziehen. Zugleich nutzen die USA und die EU diese Behörden dazu, sich der Vermögenswerte und der Rohstoffe der besetzten Länder durch umfassende Privatisierungen zu bemächtigen und öffnen über eine »Liberalisierung« der besetzten Gebiete diese Länder der [wirtschaftlichen und kulturellen] Ausplünderung.

Dabei wird die einheimische Wirtschaft weitgehend zerstört, da sie dem Wettbewerb mit ausländischen Konkurrenten nicht gewachsen ist. Auch die einheimische Agrarwirtschaft und der Finanzsektor werden auf aggressive Weise unter Druck gesetzt und anschließend übernommen. Ähnlich wie in der Kolonialzeit wird die gesamte einheimische traditionelle Landwirtschaft zerschlagen und beispielsweise durch aus dem Ausland importierte gentechnisch veränderte Organismen (GMO) in den Ruin getrieben. Auch die Wasserwirtschaft und andere der Allgemeinheit gehörende Ressourcen werden privatisiert. Dementsprechend breiten sich Hunger, Armut sowie Verbrechen und Gewalt aus, die durch diese sozialen Missstände ausgelöst werden.

Kolonisierung durch Verfassungen: Jugoslawien, der Irak und Afghanistan

Die Erarbeitung einer neuen Verfassung steht im Mittelpunkt des Restrukturierungsprozesses eines besetzten Landes. Die Verfassungen sind so etwas wie die DNS eines Landes. Sie sind grundlegende [Rechts-] Dokumente und bilden den [staats-] rechtlichen und grundrechtlichen Kern aller Gesetze, die die Regierungsarbeit, die Gewaltenteilung, die Volkswirtschaft, die auswärtigen Beziehungen, die Grundpositionen des Landes bei bilateralen und internationalen Verträgen, die verteidigungspolitischen Beziehungen, die Währungspolitik, Investitionen und den Handel festlegen und regeln. Die neuen Verfassungen der »befreiten« Länder sind darauf ausgerichtet, die Staaten politisch und wirtschaftlich zu knebeln.

Die Verfassung Bosniens ist ein gutes Beispiel für diese Vorgehensweise. Die bosnische Verfassung wurde als Teil des als »Abkommen von Dayton« bekannten umfassenden Friedensabkommens, das auf dem Luftwaffenstützpunkt Wright-Patterson in Dayton im US-Bundesstaat Ohio ausgehandelt und 1995 unterzeichnet wurde, entworfen. Das Dayton-Abkommen und die Annahme der vom Ausland konzipierten bosnischen Verfassung verwandelten Bosnien-Herzegowina in ein modernes Protektorat.

Auf der Grundlage der neuen Verfassung wurde in Bosnien-Herzegowina unter den wachsamen Augen der NATO-Soldaten ein neuer politischer und wirtschaftlicher Rahmen geschaffen. Nach der Verfassung wurde das Land rechtmäßig von Nicht-Bosniern regiert, und der eigentliche Regierungschef war nicht etwa ein bosnischer Bürger, sondern der jeweilige Hohe Repräsentant für Bosnien und Herzegowina. (ii) Dieser Hohe Repräsentant ist kein bosnischer Bürger. Er agiert praktisch wie ein kolonialer Statthalter und wird in Brüssel von der EU ernannt. Seit 2002 ist der der Hohe Repräsentant in Personalunion zugleich auch der EU-Sonderbeauftragte in Bosnien-Herzegowina. Der erste stellvertretende Hohe Repräsentant wird immer von Washington ernannt. Chef der bosnischen Zentralbank ist ebenfalls ein Ausländer, der von Brüssel, Washington und dem IWF handverlesen wird. (iii)

Die bosnische Zentralbank untersteht faktisch den Bankensystemen der USA und Westeuropas und könnte nach den Vorgaben der bosnischen Verfassung selbst keine Kredite oder eine eigene Währung ausgeben. (iv) Seit 1999 wird die Haushalts- und Wirtschaftspolitik Bosnien-Herzegowinas in Washington und Brüssel diktiert. UNMIK ging sogar soweit, den Kosovo aus der Wirtschaftsunion mit Jugoslawien herauszubrechen, indem sie den jugoslawischen Dinar am 9. September 1999 durch die Deutsche Mark ersetzte. (v) Darüber hinaus ermutigte UNMIK die bosnische Bevölkerung dazu, in verschiedenen ausländischen Währungen, einschließlich des Dollars, zu handeln, was vor allem den USA und ihren westlichen Verbündeten zugutekam. (vi) Obwohl Bosnien-Herzegowina damals offiziell noch zu Jugoslawien und Serbien gehörte, sollte der Kosovo 2002 den Euro übernehmen, und UNMIK spielte zu keinem Zeitpunkt mit dem Gedanken, der Kosovo könnte eine eigene Währung einführen. (vii)

Der Kolonisierungsprozess in Afghanistan und dem Irak unterscheidet sich nicht von dem Konzept, das im früheren Jugoslawien angewendet wurde. In allen diesen Fällen wurde nach dem Krieg oder der Invasion eine neue Regierungs- oder Verwaltungsbehörde eingesetzt, die dann die besetzten Gebiete umgestaltete und eine neue Verfassung ausarbeitete. Die Volkswirtschaften werden durch Gewalt destabilisiert und Teilungen und Spaltungen vom Ausland geschürt. Als Folge beginnen die Länder als selbstständige Einheiten auseinanderzubrechen. Schließlich werden Protektorate oder Kolonien, zu denen auch Militärgarnisonen in Form amerikanischer oder NATO-Auslandsstützpunkten gehören, errichtet. Diese militärische Infrastruktur durch Stützpunkte erinnert an die Zustände in den Grenzregionen des antiken römischen Weltreiches, des Imperium Romanum, zur Zeit seiner Ausdehnung. Im Jahr 2003 setzte das Weiße Haus im Irak für den anglo-amerikanisch besetzten Teil des Landes einen ausländischen Verwalter ein. Zunächst erhielt diese Funktion die Amtsbezeichnung Provisorischer Direktor des Büros für Wiederaufbau und humanitäre Hilfe (ORHA), aus der sich dann die Koalitionsübergangsverwaltung (CPA) entwickelte.

Für den Chef der zweiten Übergangsverwaltung im Irak kursierten viele unterschiedliche Bezeichnungen: unter anderem Sonderbeauftragter im Irak, Hoher Repräsentant im Irak, Chef der Koalitionsübergangsregierung, Gouverneur des Irak, Konsul des Irak und Prokonsul des Irak. Die beiden letzten Bezeichnungen Konsul und Prokonsul im Irak weisen einen geschichtlichen Bezug zur römischen Antike auf. [Das Konsulat war das höchste Amt der römischen Republik. Es war immer mit zwei Personen besetzt, die die höchste Staatsgewalt innehatten. Der Prokonsul, meist ein Heerführer oder ein Provinzstatthalter, wurde berufen und besaß konsularische Gewalt (»pro consule«, ohne selbst Konsul zu sein.] Der Chef der Koalitionsübergangsregierung diente ähnlichen Zwecken wie der Hohe Repräsentant für Bosnien-Herzegowina. In seiner Amtszeit wurden zahlreiche Reformen vollzogen, und 2004 wurde dem Land unter der Bezeichnung Transitional Administrative Law (TAL) eine Übergangsverfassung willkürlich übergestülpt.

Die neue Verfassung hatte für die amerikanische Regierung höchste Priorität. 2005 erklärte der irakische Abgeordnete Mahmud Othman: »Sie legten uns einen ausführlichen Entwurf, praktisch eine vollständige Verfassung, vor … Die amerikanischen Vertreter waren mehr als die Iraker selbst an der Verfassung interessiert.« (viii) Auf der Grundlage der Übergangsverfassung wurde unter erheblichem Zeitaufwand schließlich ein Entwurf erarbeitet, der 1) die Dezentralisierung des Irak, die zur Bildung eines instabilen föderalen Systems führen würde, und 2) das praktisch umgehend in Angriff genommene ausländische Privatisierungsprogramm, mit dem die Koalitionsübergangsregierung bereits 2003 mit ihrer Direktive 39 begonnen hatte, legitimieren sollte.

In Artikel 10 der afghanischen Verfassung, die 2004 erarbeitet wurde, ist ebenfalls die freie Marktwirtschaft festgeschrieben. Zwei Jahre später begann dann offiziell die Verschleuderung der afghanischen staatlichen Vermögenswerte und Ressourcen an ausländische »Investoren«. Die gleiche Vorgehensweise ist nach Ende des NATO-Krieges in Nordafrika auch für Libyen geplant. Der Nationale Übergangsrat in Bengasi, der ebenso wie die UÇK (die paramilitärische »Befreiungsarmee des Kosovo«, Ushtria Çlirimtare e Kosovës) von der NATO unterstützt wurde, hat bereits eine neue Zentralbank und einen neuen nationalen Erdölkonzern, der unter ausländischem Einfluss steht, aufgebaut. (ix)

Dezentralisierung des Staates öffnet imperialen Truppen und zukünftigen Kriegen Tür und Tor

Die neuen rechtlichen und durch die Verfassung vorgegebenen Rahmenbedingungen, die von Washington und seinen Verbündeten durchgesetzt wurden, führten dazu, dass die zentralstaatlichen Behörden und Zuständigkeiten in den besetzten Ländern systematisch abgebaut und abgeschafft wurden. Den politischen nachgeordneten Ebenen wie Städte, Landkreise, Bundesländer, Provinzen und regionale politische Gruppen wurde vor allen hinsichtlich ihrer Geschäftstätigkeiten und ihrer Beziehungen zu den Besatzungsmächten größere Autonomie eingeräumt. Auf diese Weise war es der kurdischen Regionalregierung möglich, unter Umgehung Bagdad trotz des Widerstandes des irakischen Erdölministeriums eigenständig 40 Verträge zur Erdölförderung mit ausländischen Unternehmen abzuschließen. (x)

Diese von außen aufgezwungene Schwächung der Zentralmacht in den besetzten Gebieten zieht politische, wirtschaftliche und soziologische Folgen nach sich. Die Theorie der Sozialen Desintegration kann auf mikrostruktureller und makrostruktureller Ebene erweitert werden, um diese Veränderungen und die Art und Weise, wie sie von den USA und ihren Verbündeten dazu benutzt wird, die Gesellschaften der besetzten Länder zu manipulieren und zur Umgestaltung zu bewegen, zu erklären. (xi) Aus soziologischer Sicht verändert sich das [gesellschaftliche] Gefüge der besetzten Länder.

Dies schließt Veränderungen auf den Ebenen sozialer Einheit beziehungsweise sozialer Uneinigkeit, der gesellschaftlichen Wertesysteme und der Auffassung des Konzeptes nationaler Einheit mit ein. Auf jeder Ebene wird das Gefüge der nationalen Einheit erschüttert, und in den besetzten Ländern greifen Störungen der sozialen Stabilität um sich und lassen ein soziales Chaos entstehen, in dem sich die unterschiedlichen sozialen Gruppen in den besetzten Gebieten zunehmend feindlich gegenüberstehen und sich voneinander abgrenzen.

Dies wirkt wie eine Gegenreaktion auf den inneren Widerstand gegen die Besetzung und die ausländische Bevormundung. Die früheren sozialen Werte und Regeln sind in diesen, in sozialer Hinsicht deregulierten, sozialen Milieus nicht länger wirksam. In diesem sozial durch Regelverlust gekennzeichneten Milieu ist es Washington gelungen, in der Regel durch die Betonung trennender Faktoren neue soziale Strukturen zu schaffen. Diese neuen, in sich gespaltenen Gesellschaften sind innerlich immer schwach und können daher leicht in Washingtons imperiale Strukturen eingegliedert werden. Diese immer wiederkehrende Vorgehensweise [nach der Strategie »Teile und herrsche«] wurde im großen Stil auch in Afrika angewendet und geht direkt auf die europäischen Weltreiche und den Kolonialismus zurück.

Diese besetzten Länder haben sich den geopolitischen und strategischen Zielen Washingtons und der NATO gefügt, inter anderem indem sie zuließen, dass in ihnen zahlreiche Militärbasen errichtet wurden, die durch die neuen politischen und wirtschaftlichen Strukturen und den gespaltenen oder in sich fragilen Zustand ihrer Gesellschaften unterstützt werden. Ebenso wie die neuen Verfassungen sind auch die neuen ausländischen Militärbasen Teil der Logistik des Aufbaus imperialer Strukturen und dienen als Vorposten, die die militärischen Nachschublinien, Energietransportwege und die Verkehrskorridore schützen.

Im von der NATO besetzten Kosovo liegt Camp Bondsteel ganz in der Nähe der Grenze zu Albanien und der früheren jugoslawischen Teilrepublik Mazedonien. Bondsteel wurde vom amerikanischen Verteidigungsministerium nach dem NATO-Krieg gegen Jugoslawien im Jahr 1999 errichtet. Es dient als Hauptquartier des amerikanischen KFOR-Kontingents, dem Schutz der geplanten AMBO-Pipeline, die durch Albanien, Mazedonien und Bulgarien verlaufen soll, um Erdöl aus dem Kaspischen Meer unter Umgehung Russlands nach Westeuropa zu bringen, und als vorgeschobener militärischer Posten auf dem Balkan. Der Bau dieses [386 Hektar großen] Stützpunktes war Teil eines umfassenderen militärischen Vordringens in das eurasische Kerngebiet. Diese Basis wurde zusammen mit der militärischen Infrastruktur, die das Pentagon in Osteuropa aufbaute und die die militärische Infrastruktur in Deutschland ersetze, 2001 für Angriffe auf Afghanistan und zwei Jahre später für Angriffe auf den Irak genutzt.

Afghanistan und der Irak sind heute mit amerikanischen Militärbasen übersät. Der Irak hat mit den USA eine ähnliche Vereinbarung über die Stationierung amerikanischer Truppen (SOFA) wie Japan nach dem Zweiten Weltkrieg abgeschlossen. 1960 hatte Japan im Rahmen eines bilateralen Sicherheitsvertrages den USA praktisch ein Truppenstationierungsrecht eingeräumt. Die amerikanischen Militärstützpunkte im Irak befinden sich nahe der Grenze zum Irak und Syrien, während die Militärbasen wie etwa Camp Dwyer und Camp Rhino im von der NATO besetzten Afghanistan sich in enger Nachbarschaft der Grenzen zum Iran, Turkmenistans, Usbekistans, Tadschikistans, Pakistans und der Volksrepublik China befinden.

Alle diese Länder stehen im Zentrum der geopolitischen Aufmerksamkeit des Pentagon. Und so wie die neue Protektorate im früheren Jugoslawien als Sprungbrett benutzt wurden, um nach Afghanistan und in den Irak vorzudringen, sollen die neuen, noch im Aufbau befindlichen Protektorate oder Kolonien in diesen Staaten dazu dienen, im Rahmen des Strategie der weltweiten imperialen Vormachtstellung der Vereinigten Staaten von Amerika den Weg in diese eurasischen Staaten zu bahnen.

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Anmerkungen:

i) Die Übergangsregierung Somalias wird als Beispiel angeführt. Sie wurde mit Unterstützung der USA und der EU außerhalb Somalias in Kenia eingesetzt, um den Einfluss der USA und der EU in Somalia und dem Horn von Afrika zu erhöhen.
ii) Michel Chossudovsky, »The Globalization of Poverty and the New World Order, Québec«, in: Global Research, 2003, S. 258.
iii) Michel Chossudovsky, a.a.O., S. 258–259.
iv) Ebenda.
v) Saumya Mitra (Hrgb.), Kosovo: Economic and Social Reforms for Peace and Reconciliation, Washington, D.C.: World Bank, 2001, S. 22–23.
vi) Ebenda.
vii) Ebenda.
viii) Jonathan Finer und Omar Fekeiki, »U.S. Steps Up Role in Iraq Charter Talks: Envoy Offers Plan To Settle Dispute, Legislators Say«, in: The Washington Post, 13. August 2005.
ix) William Varner, »Libyan Rebel Council Forms Oil Company to Replace Qaddafi’s«, in: Bloomberg, 22. März 2011.
x) Aiyob Mawloodi, »Iraqi Parliament to discuss Kurdish oil contracts«, in: The Kurdish Globe, 7. Mai 2011.
xi) William Isaac Thomas und Florian Znanecki, The Polish Peasant in Europe and America, Vol. 2, New York City 1958, S.1127–1133.

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