Donnerstag, 5. November 2009

Wie die Schweiz funktioniert - Staatskunde für Anfänger

Die EU passt nicht zur Schweiz

von Dr. iur. Marianne Wüthrich, Zürich

Die Art und Weise, wie EU-Kommissare zu ihrem Amt kommen, mutet eine demokratiegewohnte Schweizerin schon sehr merkwürdig an. Wie in der Tagespresse zu lesen war, werden zurzeit sowohl in Deutschland wie auch in Österreich unbequeme Politiker nach Brüssel abgeschoben, und zwar nicht etwa auf einen untergeordneten Büroposten, wo sie nicht viel falsch machen können, sondern in die EU-Kommission. Besonders stossend ist, dass die Kommissare trotz ihrer Macht­position nicht vom jeweiligen nationalen Parlament gewählt, sondern nach einem nicht klar festgesetzten Procedere ernannt werden. Gemäss Bericht der «Neuen Zürcher Zeitung» vom 26. Oktober betrachtet Frau Merkel die Ernennung des deutschen EU-Kommissars als Chefsache, das heisst, sie erteilt sich die Kompetenz dazu gleich selbst. In Österreich streiten sich die Koalitionsparteien herum und schliessen einen «Kuhhandel»: Ihr kriegt den EU-Kommissar-Posten und wir den Chef des ORF («Neue Zürcher Zeitung» vom 28. Oktober).
Diesem undemokratischen Klub wollen Sie beitreten, Herr Bundesrat Leuenberger? Und dann wollen Sie dem tumben Volk noch weismachen, die Schweiz könnte als EU-Mitglied «Europa mitgestalten». Vielleicht möchten Sie selbst gern EU-Kommissar werden? Wenn man liest, wie Politiker in anderen Staaten zu diesem Job kommen, läge dies durchaus im Bereich des Möglichen.

Es gibt fast unendlich viele Gründe, warum die EU nicht zur Schweiz oder die Schweiz nicht zur EU passt. Eigentlich passt keine Nation zum undemokratischen, bürgerfernen, verbürokratisierten und korrupten Riesenkoloss EU, ganz besonders aber nicht die kleinräumige Schweiz mit ihrem einmalig differenzierten und bürgernahen Staatsgefüge. Es gilt die Aussage: «Einer maroden Firma tritt man nicht bei.» Im folgenden sollen einige Aspekte dargelegt werden, die klarmachen, warum eine deutliche Mehrheit der Schweizer Bevölkerung keinen EU-Beitritt wünscht. Dabei beschränken wir uns auf die beiden Pfeiler «Neutralität» und «Direkte Demokratie». Weitere wesentliche Staatsmaximen der Schweiz sind der Föderalismus und die Gemeindeautonomie, verbunden mit dem Subsidiaritätsprinzip, weiter das Milizsystem im Militär und den Gemeinden sowie in den Parlamenten von Bund und Kantonen. Alle diese Stärken des Schweizer Staatswesens sind mit der EU-Mitgliedschaft nicht vereinbar: Die EU brauche – so sagt man – zentralisierte, professionelle Verwaltungseinheiten, keine autonomen kleinräumigen Gemeinwesen mit zahlreichen aktiven, ehrenamtlich tätigen Bürgern.

Immerwährende bewaffnete Neutralität
Die Schweiz ist ein Land, das sich seit 200 Jahren erfolgreich von Kriegen und militärischen Bündnissen fernhält und dafür den kriegs- und krisengeplagten Völkern ausschliesslich gewaltlose Hilfe anbietet wie die Guten Dienste, das IKRK und vielerlei humanitäre Einsätze. Es versteht sich von selbst, dass das Prinzip der immerwährenden bewaffneten Neutralität sich zur Kriegsmacht EU wie Feuer und Wasser bzw. wie Wasser zu Feuer verhält. Es ist dem Nationalrat (der Volkskammer des eidgenössischen Parlaments) hoch anzurechnen, dass er vor kurzem die Beteiligung der Schweiz an der sogenannten Anti-Piraten-Mission Atalanta abgelehnt hat. Wie kürzlich in den Medien zu lesen war, hat die deutsche Fregatte «Karlsruhe» vor Somalia sieben Piraten, die zuvor einen Fischtrawler angegriffen hatten, gestellt und festgenommen. Auf diesem deutschen Kriegsschiff wären vermutlich die Schweizer Soldaten mitgefahren, wenn das Parlament sich der Einbindung unseres Landes in die EU-Kriegspolitik nicht entgegengestellt hätte. Zur Erinnerung: Vor einem Monat versuchten die Befürworter des Einsatzes den Parlamentariern weiszumachen, es sei «höchst unwahrscheinlich», dass die Schweizer Armeeangehörigen bei Somalia in eine kriegerische Auseinandersetzung geraten könnten. So unwahrscheinlich also doch nicht …
Wäre die Schweiz Mitglied der EU, könnten die Eidgenössischen Räte nicht mehr autonom über die Beteiligung an Atalanta oder ähnlichen Kriegseinsätzen entscheiden, sondern müssten sich den Befehlen aus Brüssel unterordnen. Und schon gar nicht könnte das Volk beschliessen, dass es überhaupt keine militärischen Auslandeinsätze mehr will. Heute können die Stimmbürger jederzeit mit 100 000 Unterschriften eine Volksinitiative einreichen, mit der sie die Schweizer Armee wieder ausschliesslich auf Landesverteidigung und Katastropheneinsätze verpflichten wollen; in einer Volksabstimmung würde mit der Mehrheit des Volkes und der Stände (Kantone) darüber entschieden. Selbstverständlich wäre so etwas undenkbar, wenn die Schweiz der EU beitreten würde. Die EU kennt keinerlei Initiativrecht.

Direkte Demokratie: Das Volk bestimmt, nicht die Exekutive
Die Exekutive hat auf allen drei Staatsebenen (Bund/Kanton/Gemeinde) relativ wenig Macht. Dafür übernimmt die Basis volle Verantwortung und trägt auch die Folgen. In der Schweiz gibt es keinen Staatschef wie in Frankreich oder Deutschland, der wichtige Entscheide in eigener Kompetenz fällen kann. Die sieben Bundesräte bilden eine Kollegialregierung, sie sind gleichgestellt und müssen untereinander Lösungen und Kompromisse finden, keiner hat mehr zu sagen als die anderen. Der Bundespräsident ist primus inter pares, seine zusätzlichen Aufgaben sind rein organisatorisch und repräsentativ, seine Amtsdauer beträgt nur ein Jahr, damit er eben gerade keine Machtposition errichten kann. Deshalb wissen auch politisch interessierte Schweizer zwar sicher den Namen des US-Präsidenten oder der deutschen Bundeskanzlerin, aber nicht unbedingt den Namen des Schweizer Bundespräsidenten. Wenn Bundespräsident Merz ein Steuerabkommen mit einem anderen Staat unterzeichnet, ist damit noch nichts entschieden: Nationalrat und Ständerat können das Abkommen ablehnen, und falls sie ihm zustimmen, haben 50 000 Stimmberechtigte das Recht, das fakultative Referendum zu ergreifen, das heisst eine Volksabstimmung darüber zu verlangen.
Dieselben Regeln gelten für die Kantonsregierungen und die Gemeinderäte: Sie sind immer Kollegialregierungen ohne einen Regierungschef mit zusätzlichen Kompetenzen. Das Volk ist der Souverän in Bund, Kanton und Gemeinde und behält das letzte Wort. Deshalb ist auch der Versuch der Bundesbehörden, eine Stärkung der Zentralgewalt in der Schweiz zu erreichen, ein steiniger Weg: Jede Verlagerung der Kompetenzen von den Kantonen zum Bund muss in einer obligatorischen Volksabstimmung genehmigt werden; die Basis muss es so wollen.
Diese Beschränkung der Macht der Exekutivgewalten in der Schweiz darf nicht als «Schwäche» interpretiert werden. Bemerkungen in einzelnen Medien wie: «Wir brauchen eine starke Regierung» widersprechen dem Prinzip der direkten Demokratie. Der Bundesrat hat eine desto stärkere Stellung, je mehr er sich der Bevölkerung verbunden fühlt und je bewusster ihm ist, dass das Volk letztlich in der Schweiz das Sagen hat. Dann gibt er nämlich ausländischen Regierungen keine Versprechen, die er nicht halten kann, sondern schliesst mit den Bürgern ein Bündnis nach dem Motto: «Alle gemeinsam werden wir es schaffen.»
Die Mächtigen in Brüssel stört diese Beschränkung der Macht auf Seite des Bundesrates ungemein. Sie wünschen sich eine mächtige Exekutive mit einem Staatschef, einer einzigen Ansprechperson, die in wesentlichen Fragen zu bestimmen hat, und nicht ein Siebnergremium, das sich einigen muss und dessen Entscheide mit dem Parlament und dem Stimmvolk übereinstimmen muss. Was sonst soll Demokratie denn sein?
Um den Vorstellungen der EU entgegenzukommen, bemüht sich der Bundesrat seit Jahren, eine Staatsleitungsreform durchzubringen: eine Regierung mit einem Bundespräsidenten, der vier Jahre im Amt sein soll statt nur eines und der mehr Entscheidungsbefugnisse haben soll. Bisher haben National- und Ständerat diesem Ansinnen wohlweislich Abfuhren erteilt. Selbstverständlich würde jede Änderung des Staatsgefüges dem obligatorischen Referendum unterstehen; je länger desto weniger würden Volk und Stände einer derartigen Staatsleitungsreform zustimmen.

Mitgestaltung des Gemeinwesens entspricht dem Wesen des Menschen
Was die direkte Demokratie für die Menschen bedeutet, wissen wir aktiven Stimmbürgerinnen und Stimmbürger: Wer in seiner Gemeinde, im Kanton und im Bund mitdenken und mitentscheiden kann, steht zufriedener im Leben, fühlt sich verantwortlicher für das Gemeinwesen und hat weniger Ohnmachtsgefühle gegenüber den grossen Problemen auf der Welt. Wir, das Volk, sind der Souverän, wir haben das Recht und die Verpflichtung, unser Land und die Welt zu gestalten und dafür zu sorgen, dass das Leben auch für unsere Enkel und deren Enkel noch lebenswert ist. Es lohnt sich, in diesem Zusammenhang die Studie der Universität St. Gallen von Gebhard Kirchgässner unter dem Titel «Die direkte Demokratie: Modern, erfolgreich, entwicklungs- und exportfähig» (ISBN 978-3-8006-2517-8) wieder nachzulesen. Um einen Eindruck von der ausserordentlich lebendigen Schweizer Demokratie zu erhalten, folgen hier einige konkrete Angaben.
Seit der Gründung des Bundesstaates im Jahr 1848 konnte das Schweizer Volk über insgesamt 559 eidgenössische Vorlagen abstimmen, etwa die Hälfte davon wurde angenommen, die andere Hälfte abgelehnt.
Acht Verfassungsvorlagen scheiterten am Ständemehr, das heisst eine Mehrheit von kleinen Kantonen schaffte es, die bevölkerungsreichen Kantone wie Zürich, Bern und Waadt zu überstimmen.
Zurzeit werden für sieben eidgenössische Volksinitiativen Unterschriften gesammelt, so zum Beispiel für die Initiativen «Ja zur Hausarztmedizin» und «Das Bankgeheimnis muss in die Bundesverfassung». Neun zustandegekommene Volksinitiativen sind beim Bundesrat hängig, etwa die Initiative «Staatsverträge vors Volk» oder die «Landschaftsinitiative». Acht Initiativen liegen beim Parlament, so die Initiativen «Lebendiges Wasser» oder «Eigene vier Wände dank Bausparen». Vier Volksinitiativen sind schliesslich abstimmungsreif, über zwei davon werden Volk und Stände am 29. November entscheiden: «Gegen den Bau von Minaretten» und «Für ein Verbot von Kriegsmaterialexporten». In bezug auf sieben vom Parlament angenommene Bundesgesetze läuft momentan die Referendumsfrist, das heisst, dass mit 50 000 Unterschriften eine Volksabstimmung verlangt werden kann. Zwei fakultative Referenden sind abstimmungsreif, so ein Bundesbeschluss über die automatische Übernahme von EU-Recht zwecks Umsetzung der biometrischen Pässe in der Schweiz.
Obwohl das Sammeln von 50 000 oder 100 000 Unterschriften kein Zuckerschlecken ist, scheuen Tausende von Menschen aus Bürgergruppen, Parteien und Verbänden keine Mühe und kein Stehen in der Kälte, um die Bevölkerung zu informieren und zu aktivieren, und dies ehrenamtlich und in der Freizeit. Warum? Eine oder zwei Stunden beim Unterschriftensammeln bedeuten viele rege und aufstellende Diskussionen mit den Mitbürgern. Manche Menschen, die zunächst zum Ausdruck geben, dass «die in Bern sowieso machen, was sie wollen», schöpfen neuen Mut und merken, dass wir gemeinsam schon etwas ausrichten können. Und mit einigen gefüllten Unterschriftenbögen in der Tasche geht man als Sammler ein Stück aufrechter und beschwingter wieder nach Hause.
Ein EU-Beitritt der Schweiz hätte zur Folge, dass die meisten Volksinitiativen nicht mehr zulässig wären, weil sie gegen irgend­einen der zigtausend Erlasse aus Brüssel verstossen würden. Da die nationalen Parlamente der EU-Mitgliedsstaaten bekanntlich ungefähr 70 bis 80 Prozent der Gesetze von der EU-Zentrale aufoktroyiert bekommen, könnte dagegen auch kein Referendum mehr ergriffen werden. Das zu erwartende Ausbluten der politischen Rechte des Schweizer Volkes ist einer der Hauptgründe, warum die meisten Schweizer ganz entschieden bei ihrem unabhängigen Staat bleiben wollen.

Referendumsdemokratie – langsam und sparsam
In der Schweiz gibt es keine Schnellschüsse in der Rechtsetzung. Es dauert lange, bis eine Gesetzesvorlage oder ein Staatsvertrag in Kraft treten kann. Dies ist eine Auswirkung der direkten Demokratie. Innerhalb der EU, die ihre geplanten Neuerungen erzwingen und schnell durchsetzen will, könnte das differenzierte Schweizer Gesetzgebungssystem nicht weiterbestehen.
In jedem Schweizer Staatskundelehrmittel kann man nachlesen, wie ein Gesetz entsteht. Es braucht zuerst einmal Experten, die die Vorlage vorbereiten. Dann gibt es eine Vernehmlassung, das bedeutet, der Bundesrat verschickt den Vorentwurf an die Kantone, Parteien und Verbände zur Stellungnahme; auch die einzelnen Bürgerinnen und Bürger können sich äussern. Dieses Vorgehen ist ein Ausfluss der direkten Demokratie: Wenn sich bereits in der Vernehmlassungsphase zeigt, dass ein Gesetz oder ein Staatsvertrag mehrheitlich auf Ablehnung stösst, ist es für die Behörden sinnlos, die Vorlage in der geplanten Form weiter vorantreiben zu wollen. Im ganzen Verlauf des Gesetzgebungsverfahrens haben Bundesrat und Bundesversammlung immer im Hinterkopf, dass die Vorlage am Schluss vielleicht eine Referendumsabstimmung bestehen muss. Zurzeit laufen im Bund etwa ein Dutzend Vernehmlassungsverfahren, das neueste ist die vier Monate dauernde Vernehmlassung zu einem geplanten Sterbehilfegesetz, zu dem sich alle interessierten Organisationen und Menschen äussern können.
Unter Einbezug der Vernehmlassungsergebnisse schreibt der Bundesrat eine Botschaft, das heisst, er stellt das Projekt dem Parlament vor. Als nächstes wird der Entwurf im Nationalrat und im Ständerat separat behandelt. Jeder Rat diskutiert die Vorlage des Bundesrates und bringt so viele Änderungen ein, wie seine Mitglieder es wünschen. Wenn sich die beiden Kammern nach je drei Beratungen nicht einig sind, wird eine Einigungskonferenz eingesetzt, in die beide Räte einige Abgeordnete entsenden. Diese versuchen einen Kompromiss zu finden. Darüber müssen wieder beide Räte getrennt abstimmen. Im Falle beidseitiger Zustimmung ist das Gesetz oder der Staatsvertrag vom Parlament angenommen, wenn nicht, ist die Vorlage abgelehnt. Und wenn sich die Räte endlich geeinigt haben, beginnt die Referendumsfrist von 100 Tagen zu laufen, das heisst die Schweizer Bürgerinnen und Bürger können 50 000 Unterschriften sammeln und damit eine Volksabstimmung verlangen.
Das ganze Procedere kann zwei bis drei Jahre in Anspruch nehmen, was einige Politiker als zu langsam kritisieren. Aber es gilt zu bedenken: Das Recht der Stimmbürger, gegen ein Gesetz oder einen Staatsvertrag das Referendum zu ergreifen, hat einen äusserst sorgsamen und sparsamen Umgang mit der Rechtsetzung zur Folge, der in einer repräsentativen Demokratie und erst recht im Riesenkoloss Europäische Union undenkbar ist.
Dass es der Schweiz (wirtschaftlich) und den Schweizern (stimmungsmässig) sogar in der heutigen schweren Finanz- und Wirtschaftskrise viel besser geht als anderen Nationen, kann nicht allein mit ökonomischen Argumenten erklärt werden. Vielmehr würde es jedem Land und jeder Gemeinde auf der Welt gut bekommen, wenn ihre Bevölkerung so aufmerksam über die Politik und gerade auch über die Finanzpolitik des Gemeinwesens wachen würde, wie dies die Schweizer im Bund, in den Kantonen und Gemeinden tun. Die Brüsseler Spitzenpolitiker könnten besonders in diesem Bereich viel vom Schweizer Modell lernen – aber nicht, indem sie das letzte Bollwerk in Europa schlucken, sondern indem sie die Schweizer nach ihrem Willen als echte Demokratie leben lassen.

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