Samstag, 17. Mai 2008

Die Aushöhlung der Demokratie

Eliten

Von Roger Köppel

Ausgehöhlte Demokratie: Die Volksvertreter wollen sich das Volk vom Hals schaffen.

Das Prinzip Rütlischwur.
Schon den antiken Philosophen war das Dilemma bewusst: Will sich der Staat den Leidenschaften seiner Bürger unterwerfen, oder soll eine erleuchtete Elite herrschen? Die Schweiz ist seit 700 Jahren eine Art Sonderfall, in dem sich die Demokratie als ungesteuerter, evolutionärer Prozess aus den Gebirgstälern der Alpen ins Flachland fortpflanzte. Die Urschweizer hatten sich aus Freiheitsdrang in die Berge zurückgezogen, um so der Fremdbestimmung durch mächtigere Nachbarn zu entgehen.

Man zog das Prinzip Rütlischwur der Aussicht auf ein bequemes Leben vor. Für die Möglichkeit, die eigenen Angelegenheiten im ewigen Streit selber zu entscheiden, nahm man die Entbehrungen der Wildnis sowie ungezählte Kriege mit gottgesalbten Monarchen in Kauf. Das ist nicht Kitsch und nationale Mythenbildung, wie man uns an den Universitäten einredete, sondern die faszinierende Frühgeschichte dieses Landes und seiner politischen ­Prägungen. Die Schweiz ist nie erfunden worden, sie hat sich mit ­ihren Institutionen aus der Geografie heraus entwickelt. Deshalb
ist unser Staat, ein natürliches Kunstwerk der Geschichte, vernünftiger als die Leute, die ihn bewohnen und zu beherrschen glauben. Er verkörpert Erfahrungswissen, das den Horizont der jeweils Lebenden übersteigt.

Was eigentlich unbestritten sein sollte: An der Wurzel der Schweiz steht die Idee der Selbstbestimmung und der Unabhängigkeit. Sie setzt den mündigen Bürger voraus und produziert ihn. Das Schweizer Stimmvolk hat die Herausforderungen der Politik meist mit Augenmass bestanden. Es gibt keinen Grund, an der kollektiven Vernunft der Leute zu zweifeln. Die Schweizer haben sich einen vergleichsweise schlanken Staat, tiefe Steuern, ein hohes Mass an Freiheit und Eigenverantwortung sowie ein kleinräumiges, bürgernahes und durch Wettbewerb geprägtes politisches System gegeben. Gemeinsinn ist verbreitet. Die Leute kennen sich aus, informieren sich, sind misstrauisch gegenüber Ideologen. Skepsis ist ein nationaler Charakterzug, konser­vative Gelassenheit dem Neuen gegenüber.

Man hat sich darüber lustig gemacht, und die Intellektuellen beklagen periodisch einen Mangel an «progressivem» Drive. Aber hinter dem Unwillen, jedem Trend hinterherzulaufen, stand oft die kluge Einsicht, dass das Neue erst dann gewagt werden sollte, wenn sich das Alte vollständig überlebt hat. Das Schweizervolk, man kann es nicht oft genug betonen, war in den dreissiger und vierziger Jahren des letzten Jahrhunderts, als Europa von politischen Verrückten überrannt wurde, die verlässlichste Säule unserer Demokratie. Während die Eliten von links bis rechts den «neuen Menschen» oder den Anschluss suchten, stand die Basis unverrückbar zur Schweiz.

Vor diesem Hintergrund ist es unverständlich und geschichtsblind, wenn sich eine wachsende Zahl von Politikern, Beamten, Publizisten und Funktionären von einer Rhetorik anstecken lässt, die den Vernunft- und Legitimitätsanspruch des Schweizer Stimmvolks in Zweifel zieht. Es begann in den neunziger Jahren, als das Establishment in der EWR-Abstimmung überstimmt wurde, weil im Volk nicht zu Unrecht der Eindruck entstanden war, die politische Elite wolle aus Eigeninteresse die Unabhängigkeit des Landes opfern. Die Niederlage wurde nicht verwunden. Statt die eigenen Fehler schonungslos zu analysieren, gingen die staatsnahen Kreise dazu über, die direkte Demokratie zu kritisieren und die Leute, gegen die sie an den Urnen ver­loren hatten.

Der Trend bleibt ungebrochen. Dem Volk wird misstraut. Der Kampfbegriff des Populismus macht die Runde. Politiker und Journalisten warnen vor «Volksabsolutismus» und «Pöbelherrschaft», wenn abweichende Meinungen erklingen. Immer härter wird gegen unten ausgeteilt, aber oben herrscht die grosse Empfindlichkeit. Bundesräte werten ­Kritik grundsätzlich als «Angriff auf die Institutionen». Man hat sich darauf verständigt, Widerspruch mit Stil- und Anstands­debatten wegzubürsten. Am Ende geht es darum, das Volk zurückzudrängen. Notfalls werden internationale Organisationen oder Gerichte herbeigerufen, um den eigenen Machtanspruch zu festigen. Die Volksvertreter wollen sich das Volk vom Hals schaffen.

Die Aushöhlung der Demokratie ist im vollen Gang. Wenn der Eindruck nicht täuscht, wurde in jüngster Zeit eine neue Qualität erreicht. Letzte Woche sassen Staaten wie Kuba oder Marokko im Uno-Menschenrechtsrat gegen die Schweiz zu Gericht. Unter dem Einfluss von NGOs und Bundesämtern mischen sich die Kommissionen der Weltbehörde immer dreister in unsere Angelegenheiten ein. Gravierender allerdings ist der neue internationale Kollektivismus in Steuer­fragen. Offensichtlich schwindet der Respekt vor der fiskalischen Autonomie eines jahrhundertealten Rechtsstaats wie der Schweiz. Finanzminister Merz legte in einem eindringlichen Referat vor Pfingsten dar, dass die «internationale Akzeptanz» unseres Steuersystems nicht mehr gewährleistet sei. Die EU habe es darauf angelegt, «in letzter Konsequenz eine generelle Abschaffung der kantonalen Steuerregime» zu verlangen. Es wäre ein tödlicher Schlag gegen unseren Wirtschaftsstandort.

Wir sollten nicht zu hämisch mit dem Finger auf die anderen zeigen. Der Elitendünkel, der die EU und die Uno antreibt, beseelt auch unsere eigenen Führungsschichten. Die Berufspolitiker in Bern sägen an den Volksrechten. Gegen die direktdemokratische Willkür der Stimmbürger wird die angeblich höhere Willkür nationaler oder internationaler Experten gesetzt. Volksentscheide stehen unter Generalverdacht. Der Staat und seine Gremien hoffen bei Einbürgerungen und anderen Sicherheitsfragen ohne Stimmvolk auszukommen. Käme es heute noch einmal zum Rütlischwur, das Lausanner Bundesgericht würde ihn unter Applaus der Medien und der Brüsseler EU-Kommission als völkerrechtswidrig ausser Kraft setzen.

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