Dienstag, 11. Dezember 2007

Der stille Schulumbau

In beiden Basel werden Kleinklassen gestrichen – trotz Lehrerprotesten

Michael Rockenbach

Von der Integration der Kleinklassenschüler in die Regelklassen profitieren alle, sagen die Schulbehörden und bauen die Schule forsch um. Das überfordert die Lehrer, vor allem in Basel.

In Basel ist ein Schulexperiment im Gange, das immer grössere Dimensionen annimmt, ohne dass in der Öffentlichkeit je ernsthaft darüber diskutiert worden wäre. Vor drei Jahren verfügte das Erziehungsdepartement, dass die Kleinklassenschüler der Orientierungsschule (OS) in die Regelklassen integriert werden. Seither baut Bruno Gadola, Rektor für Kleinklassen und integrative Schulformen, die Basler Schule grundlegend um. Sein Ziel: eine integrative Volksschule für alle, auch für die «verhaltensoriginellen» Schülerinnen und Schüler, die früher schlicht als «Problemfälle» bezeichnet wurden. Ebenso veraltet ist heutzutage offenbar der Begriff «Kleinklasse». «Kleinklassenschüler gibt es nicht», sagt Kleinklassen-Rektor Gadola, «sondern nur Schüler mit einem besonderen Bildungsbedarf.» Sie müssten «heilpädagogische Spezialangebote» erhalten: Förderstunden in Lerngruppen oder Einzelunterricht beim Heilpädagogen als Ergänzung zum Fachunterricht.

Ob die Integration von bisher über 200 Kleinklassenschülern an der OS funktioniert, kann niemand genau sagen. Die Studien des Erziehungsdepartements und der Hochschule für Heilpädagogik in Zürich sind erst im Frühjahr fertig.Trotzdem sind die Basler Schulbehörden jetzt schon daran, ihr Integrations-Experiment auf die Primarschule und die WBS zu übertragen.

Damit setzen sie sich auch über den Widerstand der Lehrkräfte hinweg. Im Frühjahr hatte die Freiwillige Schulsynode mit einer Resolution einen «Marschhalt» gefordert. «Die Integrationsfähigkeit einiger Klassen ist am Limit oder schon überschritten», sagt Beat Siegenthaler, Präsident der Freiwilligen Schulsynode. «Reformen machen immer Angst», entgegnet Gadola. Dabei würden alle von einer integrativen Schule profitieren, die besseren wie die schwächeren Schülerinnen und Schüler. Eine Reihe von Studien würde das zeigen.

Strukturen fehlen. Nicht alle Praktiker sehen das gleich. Einige Regellehrkräfte seien mit den ehemaligen Kleinklassenkindern überfordert, sagt Eveline Sutter, Schulleiterin WBS Kleinklassen am Bäumlihof. Die Folge sei ein Chaos in den Schulzimmern, ergänzt ein Heilpädagoge, der namentlich nicht genannt werden will. In manchen Regelklassen gehe es heute zu und her wie bis vor Kurzem nur in Kleinklassen. Urs Keller, Heilpädagoge und Mitglied des Kleinklassen-Konferenzvorstandes, kennt das Problem: «Integration ist gut, aber nicht unbedingt für jeden Schüler das Richtige.» Einzelne Kinder und Jugendliche bräuchten einfache Strukturen und klare Bezugspersonen. «Sie sind in Kleinklassen gut aufgehoben», sagt er.

Trotz Bedenken hält das Erziehungsdepartement eine öffentliche Debatte über das neue System für überflüssig. Laut Gadola ist der integrative Unterricht ein gesamtschweizerischer Trend, dem sich die Kantone nicht entziehen könnten. Tatsächlich bauen Zürich und eine Reihe Ostschweizer Kantone die Kleinklassen noch zügiger ab als Basel.

Auch im Baselbiet, dem Kanton mit den meisten Kleinklassenschülern, setzen die Behörden auf Integration. Seit einem Jahr bieten die Baselbieter Schulen konsequent heilpädagogische Förderstunden an. Diese werden rege besucht, ohne dass die Zahl der Kleinklassen wie erhofft abnehme. «Wenn es Kleinklassen gibt, wird das Angebot auch genutzt», sagt Marianne Stöckli vom Amt für Volksschulen. Deshalb habe Bildungsdirektor Urs Wüthrich angekündigt, einzelne Kleinklassen zu streichen.

gefälle. Dagegen wehrt sich der Lehrerverein Baselland (LVB). «Die Kleinklassen und die Einführungsklassen sind ein Erfolgsmodell», sagt LVB-Präsidentin Bea Fünfschilling. Das Leistungsgefälle dürfe nicht noch grösser werden. «Schon jetzt gibt es Klassen, in denen die Lehrkräfte fast ihre ganze Aufmerksamkeit ein paar schwierigen Schülern schenken müssen. Darunter leiden die leistungswilligen Kameraden.» Die Klassen dürfen nicht noch heterogener werden, sagt Fünfschilling: «Sonst sind sie nicht mehr führbar.»

Lerngruppen lösen Kleinklassen an der OS ab

Basel baut bereits um. Innert eines Jahres ist die Zahl der Kinder, die in einer Kleinklasse unterrichtet werden, in Basel von 665 auf 433 zurückgegangen. Im Gegenzug hat sich die Zahl der Schulpflichtigen, die in integrativen Schulformen (ISF) unterrichtet werden, fast verdoppelt. Gut die Hälfte dieser 1245 Schulpflichtigen besucht ISF-Klassen auf dem Niveau der Orientierungsschule (OS). Bei der OS wurden auf Schuljahresbeginn die 19 Kleinklassen, die es an acht Standorten gab, durch neun «heilpädagogische Lerngruppen» ersetzt. Deren 96 Plätze sollen die 124 Kleinklassen-Plätze ersetzen, die es bis letztes Jahr in den 5. bis 7. Klassen gab.

Im Baselbiet ist die Zahl der Kleinklassenschüler nur leicht rückläufig. 2006 besuchten von 14 000 Primarschülern 552 eine Kleinklasse und 657 eine Einführungsklasse, bei der Sekundarschule waren es 435 von total 12 000 Schülern. Laut einer Studie der Freiburger Hochschule für Heilpädagogik hat das Baselbiet im Verhältnis zur Gesamtschülerzahl mehr Kleinklassenschüler als alle anderen Kantone. Die Bildungsdirektion sieht darin einen Hinweis, dass im Baselbiet zu viele Kinder separiert werden.

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