Donnerstag, 28. August 2008

Die USA - eine bankrotte Nation

«Die USA sind keine Supermacht, sondern eine bankrotte Farce»
von Paul Craig Roberts, stellvertretender US-Finanzminister a.D.*

Das von den Neokons eingenommene Bush-Regime und die von den Israeli besetzten Medien führen die ahnungslose Welt Richtung Atomkrieg.
Das National Endowment for Democracy (NED) war damals in den Jahren der Reagan-Administration als Werkzeug des kalten Krieges geschaffen worden. Heute ist das NED ein von den Neokons kontrollierter Akteur für die US-Weltherrschaft. Seine Hauptfunktion besteht darin, US-Geld in ehemaligen Teilen der Sowjetunion zu investieren und Wahlmanipulation zu betreiben, um Russ­land mit amerikanischen Marionettenstaaten einzukreisen.
Das neokonservative Bush-Regime nutzte das NED, um sich in die inneren Angelegenheiten der Ukraine und Georgiens einzumischen – entsprechend dem neokonservativen Plan, in den beiden ehemaligen Teilgebieten der Sowjet­union US-freundliche und ­Russland-feindliche politische Regimes zu errichten.
Mittels seiner Interventionen in der Slowakei, in Serbien und Montenegro war das NED auch eingesetzt worden, um das ehemalige Jugoslawien zu zerstückeln.
1991 erklärte Allen Weinstein, der am Gesetzesentwurf für die Bildung des NED mitwirkte, gegenüber der «Washinton Post», dass vieles von dem, was das NED «heute tut, während 25 Jahren verdeckt durch die CIA getan wurde».
Nachdem das Bush-Regime eine Marionette – Michail Saakaschwili – als Präsident von Georgien installiert hatte, versuchte es, Georgien in die Nato zu bringen.
Für die jüngeren Leser, die das nicht mehr wissen, sei daran erinnert, dass der Nord­atlantikpakt, die Nato, ein Militärbündnis zwischen den USA und Westeuropa war, das gegen jede sowjetische Bewegung Richtung Westeuropa Widerstand leisten sollte. Seit dem inneren politischen Zusammenbruch der Sowjetunion vor nahezu zwei Jahrzehnten gibt es keine Begründung mehr für die Nato. Wie das NED wurde auch die Nato von den Neokons zu einem weiteren Werkzeug für die US-Weltherrschaft umfunktioniert. Die folgenden US-Regierungen verletzten die Übereinkommen, die Präsident Reagan mit Michael Gorbatschow, dem letzten Führer der Sowjetunion, getroffen hatte und nahmen ehemalige Teile des sowjetischen Imperiums in die Nato auf. Das Ziel der Neokons, Russland mit einem feindlichen Militärgürtel einzukreisen, ist immer wieder proklamiert worden.
Westeuropäische Mitglieder der Nato vereitelten die Aufnahme Georgiens, da sie dies als provokativen Affront gegen Russland begriffen, von dessen Erdgas Westeuropa abhängig ist. Auch die Absichten des Bush-Regimes, in Polen und Tschechien ballistische Raketenabwehrschilde zu installieren, beunruhigt die Westeuropäer, denn das wird zur Folge haben, dass russische atomare Marschflugkörper auf europäische Hauptstädte gerichtet werden. Die Europäer können keinen Vorteil darin erkennen, auf Kosten ihrer eigenen Existenz den USA dabei zu helfen, einen russischen Vergeltungsschlag gegen die USA abzublocken. Gegen Marschflugkörper sind ballistische Raketenabwehrschilde nicht brauchbar.
Alle Länder haben genug vom Krieg – ausser den USA. Krieg – auch Atomkrieg – ist die neokonservative Strategie zur Erlangung der Weltherrschaft.
Die ganze Welt – ausser den USA – weiss, dass der Ausbruch des bewaffneten Konfliktes zwischen russischen und georgischen Streitkräften in Südossetien allein auf die USA und ihre georgische Marionette Saakaschwili zurückzuführen ist. Als einzige auf der ganzen Welt sind sich die Amerikaner nicht gewahr, dass die Feindseligkeiten durch Saakaschwili initiiert wurden, weil sie von Bush, Cheney und den israelisch besetzten Medien einmal mehr belogen wurden.
Alle anderen wissen, dass der labile und korrupte Saakaschwili, der Demokratie verkündet und einen Polizeistaat betreibt, es nie mit Russland aufgenommen hätte, indem er Südossetien angriff, hätte er nicht das Startzeichen dazu aus Washington gehabt.
Der georgische Angriff auf die russische Bevölkerung in Südossetien zielt auf zweierlei:
• Er soll die Europäer davon überzeugen, dass ihre Einflussnahme, mit der sie auf eine Verzögerung der Nato-Mitgliedschaft Georgiens hinwirkten, der Grund «der russischen Aggression» sei und dass Georgien nur dadurch vor einer Eroberung zu bewahren sei, dass man ihm die Nato-Mitgliedschaft gewähre.
• Eine ethnische Säuberung Südossetiens von seiner russischen Bevölkerung. 2000 russische Zivilisten sind von der durch die USA ausgerüsteten und ausgebildeten georgischen Armee gezielt angegriffen und getötet worden, und Zehntausende sind nach Russland geflüchtet. Nachdem sie dieses Ziel erreicht hatten, forderten Saakaschwili und seine Drahtzieher in Washington eiligst einen Waffenstillstand und ein Ende der russischen Invasion. Man hofft, dass die russische Bevölkerung Angst hat, zurückzukehren oder von der Rückkehr abgehalten werden kann, um so die Gefahr der Abspaltung zu beseitigen.
Das Bush-Regime kann die amerikanische Bevölkerung zweifellos betrügen, genauso wie sie das mit den irakischen Massenvernichtungswaffen tat, mit den iranischen Atomsprengköpfen und mit 9/11 selbst, aber die übrige Welt nimmt ihnen das nicht ab, noch nicht einmal die von Amerika gekauften und bezahlten europäischen Bündnispartner.
Botschafter M.K. Bhadrakumar, einstiger Karrierediplomat des Indian Foreign Service (IFS) [unter anderem in der Sowjetunion, Südkorea, Sri Lanka, Deutschland, Afghanistan, Pakistan, Usbekistan, Kuwait und in der Türkei], konstatiert in einem Beitrag in der «Asia Times» die Desinformation, mit der das Bush-Regime und die US-Medien hausieren gehen, und berichtet, dass «Russland bei Ausbruch der Gewalttätigkeiten versucht hatte, den Uno-Sicherheitsrat dazu zu bringen, eine Erklärung abzugeben, die von Georgien und Südossetien ein sofortiges Niederlegen der Waffen forderte. Aber Washington war nicht interessiert.»
Botschafter Bhadrakumar stellt fest, dass das amerikanische und georgische Zurückgreifen auf Gewalt und Propaganda dem Vertrauen der russischen Regierung, mit Diplomatie und gutem Willen eine Lösung in der Südossetien-Frage erreichen zu können, ein Ende setzten. Wenn Russland wollte, könnte es mit der Existenz Georgiens als eigenständigem Land nach Belieben Schluss machen – und es gäbe nichts, was die USA dagegen tun könnten.
Fest steht, dass die georgische Invasion in Südossetien ein vom Bush-Regime orchestrierter Vorgang war. Die amerikanischen Medien und die neokonservativen Think tanks hielten sich mit ihren Propaganda-Blitzaktionen bereit. Die Neokons hatten einen Leitartikel des «Wall Street Journal» für Saakaschwili parat, der erklärte, dass «der Krieg in Georgien ein Krieg für den Westen ist».
Als Saakaschwili dann mit dem Fehlschlag seiner Armee konfrontiert war, sobald die Russen Truppen zum Schutz der Südosseten entsandt hatten, erklärte er: «Es geht nicht mehr um Georgien. Es geht um Amerika, seine Werte.»
Die neokonservative Heritage Foundation in Washington D. C. berief im Eiltempo eine Konferenz ein, veranstaltet vom Kriegstreiber Ariel Cohen: «Dringend! Ereignis: Russisch-georgischer Krieg: eine Herausforderung für die USA und die Welt.»
Die «Washington Post» gab den Kriegstrommeln des Neokon Robert Kagan eine Plattform: «Putin setzt sich in Bewegung.»
Nur ein Narr wie Kagan kann annehmen, dass Putin, trüge er sich mit der Absicht, in Georgien einzumarschieren, dies von Peking aus tun würde, oder dass er – nachdem die amerikanisch trainierte georgische Armee in die Flucht geschlagen wurde – nicht weiterfahren und ganz Georgien erobern würde, um den amerikanischen Machenschaften an ­Russlands heikelster Grenze ein Ende zu setzen, Machenschaften, die wahrscheinlich eines Tages in einem Atomkrieg enden.
Die «New York Times» räumte Bill Kristols Tirade: «Wird Russland ungestraft davonkommen?» einen Platz ein. Kristol donnert darin gegen «diktatorische und aggressive und fanatische Regimes», die «Freude haben, gemeinsam auf die Schwächung des Einflusses der Vereinigten Staaten und ihrer demokratischen Verbündeten hinzuarbeiten». Kristol präsentiert eine neue Achse des Bösen – Russland, China, Nord-Korea und Iran – und warnt vor «Verzögerung und Unentschlossenheit», die «lediglich zu künftigen Bedrohungen und ernsteren Gefahren auffordern».
Mit anderen Worten: «Greift Russland jetzt an.»
Dick Cheney, der geisteskranke amerikanische Vize-Präsident, rief Saakaschwili an, um die Solidarität der USA mit Georgien auszudrücken, und erklärte: «Die russische Aggression darf nicht unerwidert bleiben.» Nur ein Idiot kann Saakaschwili etwas anderes sagen als «sofort aufhören».
Was muss die Wirkung von Cheneys propagandistischer und verantwortungsloser Erklärung der US-amerikanischen Unterstützung für die Kriegsverbrechen von Georgien auf die US-Geheimdienste und das US-Militär sein? Glaubt irgend jemand allen Ernstes, dass die CIA oder irgendein US-Geheimdienst dem Vizepräsidenten sagte, Russland habe den Konflikt mit einer Invasion begonnen? Die russischen Truppen erreichten Südossetien, nachdem Tausende von Osseten getötet worden waren und Zehntausende nach Russland geflohen waren, um dem georgischen Angriff zu entkommen. Presseberichten zufolge haben die russischen Streitkräfte Amerikaner gefangengenommen, die bei den georgischen Truppen waren und deren Angriff auf Zivilisten befehligten.
Über die verlorenen Kriege im Irak und in Afghanistan und einem geplanten Krieg gegen Iran hinaus hat das US-Militär sicher keine Ressourcen mehr für einen Krieg gegen Russland.
Mit dem georgischen Vorstoss hat sich das Bush-Regime einer neuen Runde von Kriegsverbrechen schuldig gemacht. Was wird die Folge sein?
Viele werden entgegenhalten, dass das Bush-Regime mit 9/11 ungestraft davongekommen ist, mit Afghanistan, mit dem Irak und mit seinen Vorbereitungen für einen Angriff auf Iran, es werde auch mit seinem georgischen Unternehmen ungestraft davonkommen. Vielleicht aber hat sich das Bush-Regime diesmal übernommen.
Mit Sicherheit hat Russland nun erkannt, dass die USA entschlossen sind, die Vorherrschaft über Russland auszuüben, und dass sie Russlands schlimmster Feind sind.
China realisiert die Bedrohung durch die USA für seine eigene Energieversorgung und damit auch für seine Wirtschaft.
Selbst die europäischen Verbündeten von Amerika, die sich an ihrer Rolle reiben, Truppen für das amerikanische Imperium bereitzustellen, müssen nun begreifen, dass es gefährlich ist, Amerikas Verbündeter zu sein, und dass es keine Vorteile bringt. Sollte Georgien Nato-Mitglied werden und seinen Angriff auf Südossetien erneuern, muss es ­Europa in einen Krieg mit Russland zerren – den Haupt­energielieferanten für Europa.
Dazu kommt, dass es nichts geben wird, was russische Truppen, die über die europäischen Grenzen gesandt werden, stoppen könnte.
Was hat Amerika Europa zu bieten – ausser Millionen von Dollars, die es bezahlt, um europäische politische Führer zu bestechen und so sicherzustellen, dass sie ihre eigene Bevölkerung betrügen? Gar nichts.
Die einzige militärische Bedrohung, die auf Europa zukommt, besteht darin, für die amerikanische Weltherrschaft in Amerikas Kriege hineingezogen zu werden.
Die USA sind finanziell bankrott – ihre Budget- und Handelsdefizite sind grösser als die gemeinsamen Defizite der restlichen Welt zusammengenommen. Der Dollar hat schlappgemacht. Der amerikanische Verbrauchermarkt geht an der Auslagerung der amerikanischen Arbeitsplätze und damit der Einkommen zugrunde, aber auch an den Folgen für das Vermögen durch den Kollaps der Immobilien und Derivate. Die USA haben Europa nichts anzubieten. Es ist in der Tat so, dass der Rückgang der amerikanischen Wirtschaft die europäischen Exporte zum Erliegen bringt, weil er den Wert des Euro in die Höhe treibt.
Amerika hat die moralische Überlegenheit vor langer Zeit verloren. Heuchelei ist das bekannteste Kennzeichen Amerikas geworden. Bush, der auf der Grundlage von Lügen in Afghanistan und im Irak einmarschiert ist, wettert gegen Russland, weil es seinen dortigen Friedenstruppen und den russischen Bürgern in Südossetien zu Hilfe kommt, um sie zu verteidigen. Bush, der Kosovo aus Serbiens Herz riss […], stellt sich unerbittlich gegen andere separatistische Bewegungen, besonders der Südosseten, die Teil der russischen Föderation sein möchten.
Das Neokon-gesteuerte Bush-Regime ist wütend darüber, dass sich der russische Bär von der US-gestützten Aggression des georgischen Marionettenstaates Georgien nicht hat einschüchtern lassen. Anstatt – wie es das neokonservative Drehbuch forderte – den Akt amerikanischer Hegemonie zu akzeptieren, verjagte Russland die erschreckte amerikanisierte georgische Armee.
Nachdem das Bush-Regime mit den Waffen gescheitert ist, entfesselt es jetzt die Rhetorik. Das Weisse Haus warnt Russland, ein Nicht-Hinnehmen der US-Hegemonie könnte «beträchtliche Langzeitfolgen für die Beziehungen zwischen Washington und Moskau» haben.
Verstehen die Irren, aus denen das Bush-Regime besteht, wirklich nicht, dass die USA gegen Moskau gar nichts tun können – ausser einem atomaren Überraschungsangriff auf Russland?
Das Bush-Regime besitzt nichts an russischer Währung, die es auf den Markt werfen könnte. Die Russen besitzen US-Dollar.
Das Bush-Regime besitzt keine russischen Wertpapiere, die es auf den Markt werfen könnte. Die Russen besitzen amerikanische Wertpapiere.
Die USA können Russland keine Energielieferungen abstellen. Russland kann den europäischen Verbündeten von Amerika die
Energie abstellen.
Präsident Reagan verhandelte das Ende des kalten Krieges mit dem sowjetischen Präsidenten Gorbatschow. Die Neokonservativen, von Reagan gefeuert und aus dem Amt gejagt, waren wütend. Die Neokons hofften, den kalten Krieg zu gewinnen, und dabei die amerikanische Hegemonie zu errichten.
Unter Bush dem Ersten stellte das republikanische Establishment seine politische Vormachtstellung, die es an Ronald Reagan verloren hatte, wieder her. Mit diesem Kraftakt wurden die Geheimdienste der Republikanischen Partei betrieben.
Die Neokons arrangierten ihr Comeback mit dem ersten Golf-Krieg und ihrer Propaganda – mit reinen Lügen, dass die irakischen Truppen kuwaitische Babys in Spitälern mit dem Bajonett getötet hätten. [Eine amerikanische PR-Firma arrangierte den Fernsehauftritt der Tochter des kuwaitischen Botschafters in Washington, die sich vor laufenden Kameras als Krankenschwester aus einem kuwaitischen Spital ausgab und die Lügen von den getöteten Babys erzählte.]
Ein weiteres Comeback gaben die Neokons mit Präsident Clinton, den sie überzeugten, Serbien zu bombardieren, um separatistischen Bewegungen zu gestatten, unabhängige, von Amerika abhängige Staaten zu werden.
Mit Bush dem Zweiten haben die Neokons die Macht übernommen. Zu ihrer Agenda – der amerikanischen Weltherrschaft – gehört auch die Herrschaft Israels über den Nahen und Mittleren Osten. Bisher haben die Pläne dieser ignoranten und gefährlichen Ideologien zu einer Bauchlandung geführt. Der Irak, früher in der Hand säkularer Sunniten, die Iran Einhalt geboten, ist nach der amerikanischen Invasion und Besetzung in den Händen religiöser Schiiten, die mit Iran verbündet sind.
In Afghanistan leben die Taliban wieder auf, und die grosse Nato/US-Armee dort ist nicht in der Lage, die Situation zu kontrollieren.
Eine Folge des Neokon-Afghanistan-Krieges ist der Machtverlust des amerikanischen Marionetten-Präsidenten in Pakistan, einem muslimischen Land mit Atomwaffen. Der Marionetten-Präsident steht nun vor seiner Amtsenthebung, und das pakistanische Militär hat den Amerikanern mitgeteilt, sie sollten die Durchführung militärischer Operationen auf dem pakistanischen Territorium beenden.
Die amerikanischen Marionetten in Ägypten und Jordanien könnten die nächsten sein, die fallen.
Im Irak haben die Schiiten die ethnische Säuberung von Sunniten in ihren Wohngebieten abgeschlossen und einen Waffenstillstand erklärt, um damit der US-Propaganda zu widersprechen, wonach ein amerikanischer Rückzug zu einem Blutbad führen würde. Zwischen der amerikanischen und der irakischen Regierung, die sich nicht länger als amerikanische Marionette verhält, sind nun Verhandlungen über den Zeitpunkt eines Rückzuges im Gange.
Letztes Jahr hat Hugo Chavez Bush vor der Uno lächerlich gemacht. Russlands Putin hat Bush als Kamerad Wolf lächerlich gemacht.
Am 12. August 2008 verspottete die «Prawda» Bush: «Bush, warum halten Sie nicht den Mund?» Die Amerikaner mögen denken, sie seien eine Supermacht, vor der die Welt zittert. Aber nicht die Russen. Jene Amerikaner, die dumm genug sind zu glauben, dass Amerikas «Supermacht» ihre Bürger vor Gefahren sichert, sollten die völlige Verachtung lesen, die in der «Prawda» für Präsident Bush zum Ausdruck kommt:

«Präsident Bush, warum halten Sie nicht den Mund?* In Ihrer Stellungnahme von Montag zum legitimen Vorgehen der Russischen Föderation haben Sie nicht ein einziges Mal die Kriegsverbrechen erwähnt, welche das georgische Militär mit Unterstützung amerikanischer Berater gegen russische und ossetische Zivilisten beging.
Präsident Bush, warum halten Sie nicht den Mund? Ihr treuer Verbündeter, Michail Saakaschwili, gab eine Waffenstillstandsvereinbarung bekannt, während seine Truppen – mit Ihren Beratern – sich an der ossetischen Grenze zusammenzogen, die sie im Schutz nächtlicher Dunkelheit überschritten und Zchinwali zerstörten, indem sie zivile Bauwerke ins Visier nahmen – genauso wie es Ihre Streitkräfte im Irak taten.
Präsident Bush, warum halten Sie nicht den Mund? Ihre amerikanischen Transportflugzeuge brachten Tausende von georgischen Soldaten vom Irak nach Hause in die Kampfzone. Wünschten Ihre Jungs ihnen viel Glück, als sie das Flugzeug verliessen. Ich glaube sie zu hören: ‹Heizt ihnen ein!›
Präsident Bush, warum halten Sie nicht den Mund? Wie erklären Sie die Tatsache, dass unter den georgischen Soldaten, die vor dem Gefecht flohen, deutlich Offiziere zu hören waren, die in amerikanischem Englisch Befehl gaben: ‹Get back inside›, ‹Geht wieder rein!›? Und wie erklären Sie die Tatsache, dass man von amerikanischen Soldaten unter den georgischen Opfern berichtete?
Präsident Bush, warum halten Sie nicht den Mund? Glauben Sie wirklich, nach acht Jahren Ihres kriminellen und mörderischen Regimes und Ihrer Politik messe irgend jemand Ihren Worten irgendein Gewicht bei? Glauben Sie wirklich, Sie hätten irgend etwas an moralischer Begründung, und bilden Sie sich wirklich ein, dass es ein einziges menschliches Wesen irgendwo auf diesem Planeten gibt, das nicht jedesmal, wenn Sie im Fernsehen erscheinen, Ihnen den Mittelfinger zeigt?
Glauben Sie wirklich, Sie hätten das Recht, irgendwelche Ansichten oder Ratschläge zu erteilen – nach Abu Ghraib? Nach Guantánamo? Nach dem Massaker an Hunderttausenden von irakischen Zivilisten? Nach den Folterungen durch CIA-Agenten?
Glauben Sie wirklich, Sie hätten das Recht, zu irgendeinem Punkt des Völkerrechtes Stellung zu nehmen – nach Ihren erfundenen Anschuldigungen gegen den Irak und der anschliessenden kriminellen Invasion?
Präsident Bush, warum halten Sie nicht den Mund? Angenommen Russland erklärt zum Beispiel, dass Georgien Massenvernichtungswaffen besitzt? Und dass Russland weiss, wo diese Massenvernichtungswaffen sind, nämlich in Tiflis und Poti und nördlich, südlich, östlich und westlich davon? Und dass das wahr sein muss, weil es ‹gross­artige Geheimdienstinformationen eines anderen Landes› dazu gibt, wie Satellitenfotos von Fabriken für Milchpulver und Getreideflocken für Babys, die chemische Waffen herstellen und ‹derzeit in Fahrzeugen im Land herumgefahren werden›. Stellen Sie sich vor, Russland erklärt zum Beispiel, dass ‹Saakaschwili die Welt hereingelegt hat› und es sei ‹Zeit für einen Regimewechsel›?
Nett und einfach, nicht wahr, Präsident Bush?
Warum also halten Sie nicht den Mund? Ach, und übrigens, senden Sie noch ein paar von Ihren Militärberatern nach Georgien, sie leisten einen hervorragenden Job. Und sie sehen ganz lustig nach unten durchs Nachtvisier, ganz grün.(They look all funny down the night sight, all green.)
Warum halten Sie nicht den Mund?»

Die USA sind keine Supermacht. Es ist eine bankrotte Farce, die von Schwachsinnigen geführt wird, die durch Stolen elections – arrangiert von Karl Rove und Diebold, installiert worden sind. Es [Amerika] ist eine Witzfigur, das in ignoranter Weise ein riesiges Land mit Zehntausenden von Atomwaffen beleidigt und drangsaliert. •

* Die «Prawda» hat diese Formulierung in Anspielung auf eine gleichlautende Entgegnung des Königs von Spanien auf Hugo Chavez gewählt. (Anm. d. Red.)
Quelle: www.counterpunch.org vom 13.8.2008
(Übersetzung Zeit-Fragen)

* Paul Craig Roberts, unter Präsident Ronald Reagan stellvertretender Finanzminister, ist Wirtschaftswissenschafter, Redakteur und Kolumnist für renommierte Magazine wie «Wall Street Journal» und National Review; Autor zahlreicher Bücher, zuletzt «The Tyranny of Good Intentions: How Prosecutors and Bureaucrats Are Trampling the Constitution in the Name of Justice» (2000). Er publiziert regelmässig auf den Webseiten www.antiwar.com und www.counterpunch.org.

Samstag, 23. August 2008

HarmoS - Nein, danke!

SVP fordert konservative Wende
SVP-Präsident Toni Brunner sagte heute vor den Parteidelegierten in Sursee, die Umgestaltung des Bildungsbereichs durch die Linken sei gescheitert. Die Schweiz brauche eine konservative Wende.


Ulrich Schlüer rechnet mit HarmoS ab

Vor dem Sonderparteitag der SVP zur Primarschule listete Schlüer die Fehler von HarmoS auf: Institutionalisierung des Schulzwangs für Vierjährige; obligatorische flächendeckende Schaffung von Tagesstrukturen für ganztägige Kinderbetreuung; Zementierung des «integrativen Unterrichts»; Entmachtung von Eltern, Gemeinden und Kantonen samt ihrer Parlamente.

Schlüer warnte weiter vor den Auswirkungen des HarmoS- Konkordates: Das Konkordatsrecht breche kantonales Recht und kantonale Bestimmungen, die HarmoS widersprechen, müssten innert sechs Jahren angepasst werden. Für den Fall der Ablehnung von HarmoS werde überdies mit Bundes-Interventionen gedroht.

Im Übrigen, so Schlüer, würden die Ausführungsbestimmungen zu HarmoS von der Verwaltung der Erziehungsdirektoren-Konferenz (EDK) geschaffen. Die EDK-Verwaltung aber werde von keinem Parlament kontrolliert. Das sei ein eklatanter Verstoss gegen die Gewaltenteilung.

Erst wenn Ordnung herrsche und Leistung verlangt werde, könne Bildung wieder Früchte tragen. Die Linken hätten nach 1968 die bewährten traditionellen Werte an den Schulen liquidiert und ihr neues Wert- und Weltverständnis umgesetzt, sagte Brunner am Sonderparteitag der SVP zur Bildungspolitik.

Die Respektsperson Schulmeister sei zum Lehrerkumpel geworden, Leistung sei schlechtgemacht und Ordnung und Disziplin verspottet worden. PISA-Studien und Klagen von Arbeitgebern über mangelnde Leistungsbereitschaft von Lehrlingen und jungen Berufsleuten zeigten aber, dass die Schüler mit spielerischem Lernen die Voraussetzungen für den Einstieg ins Berufsleben nicht erlangen könnten: «Grenzt das nicht an einen Verrat an den Kindern, wenn wir diese aus ideologischen Gründen nicht aufs Leben vorbereiten?» fragte Brunner laut Redetext.

Nicht nur die Leistungsbereitschaft nehme Schaden, sondern auch die Persönlichkeit und der Charakter. Drogenprobleme, Verwahrlosung, Aggressionen und Gewalt nähmen zu.

Eltern für Erziehung zuständig

Brunner will zurück zu den «bewährten Grundsätzen». Ins Zentrum stellte er dabei zunächst die klare Trennung von elterlichen und staatlichen Aufgaben. Eltern seien für die Erziehung verantwortlich und der Staat für die Bildung. Wenn Eltern ihre Erziehungsverantwortung nicht wahrnähmen, müssten sie zur Verantwortung gezogen werden. Weiter verlangte der St. Galler Nationalrat die Konzentration auf die Kernkompetenzen Lesen, Schreiben und Rechnen, statt Lehrer und Schüler ständig mit neuen Reformexperimenten, zusätzlichen Fremdsprachen und neuen Fächern zu überfordern.

Lehrer als Autoritäten

Und schliesslich sollen die Lehrer laut Brunner wieder Autoritätspersonen sein, die die Verantwortung für die Ausbildung der Schüler übernehmen können. «Erst wenn in der Schulpolitik wieder Kontinuität und überall in den Klassenzimmern wieder Ordnung herrscht, erst wenn wieder klare Anforderungen gestellt und die Schüler gefordert werden, erst dann können die Bildungsanstrengungen wieder Früchte tragen», sagte er. Und nur mit Lernen und Leisten könnten die Qualitäten erhalten werden, die die Schweiz reich und erfolgreich gemacht hätten.

Keine Harmonisierung

Brunner kritisierte auch das «Zentralisierungsprojekt HarmoS», das ein Versuch der föderalismusfeindlichen Gleichschaltung sei. Zur Debatte stand am Sonderparteitag aber eine Resolution, die Grundsätze zur Ausarbeitung eines umfassenden Bildungspapiers festlegt. Die insgesamt neun vorgelegten Grundsätze folgen der Linie, wie sie Brunner in der Rede vertrat.

Konkret wird darin etwa verlangt, die Erziehung in der Familie durch Steuerabzüge zu begünstigen statt generell staatliche Tagesstrukturen zu fördern. Und Schüler, die mangels Sprachkenntnissen dem Unterricht nicht folgen können, sollen ausserhalb der Klasse Sprachunterricht erhalten, den die Eltern mitfinanzieren müssen. Bei den Sanktionsmöglichkeiten gegen Renitente will die SVP eine Palette von der Wegweisung vom Schulareal bis zur «Überstellung in polizeiliche Ordnungsgewalt» vorsehen.


Quelle: AP

Freitag, 22. August 2008

Affäre Schmid / Nef

Narziss und Goldmund

Von Alex Baur und Urs Paul Engeler

Ein Gutachten bescheinigt Roland Nef narzisstische Störungen. Das relativiert seine Straftaten - und macht die Wahl zum Armeechef erst recht fragwürdig. Mit 400 000 Franken Schweigegeld will BDP-Bundesrat Samuel Schmid den Skandal aus der Welt schaffen.

Verteidigungsminister Samuel Schmid (BDP) will den gewaltigen Schaden, den er bei Personen, bei der Armee und anderen Institutionen angerichtet hat, möglichst schnell und möglichst leise beheben. Und zwar mit viel Steuergeld. Dem demissionierenden Armeechef Roland Nef will er noch bis Ende Februar 2009 den vollen Lohn bezahlen (rund 26 000 Franken monatlich) und zusätzliche zehn ­Monatstranchen «Entschädigung». Insgesamt soll der gestrauchelte Armeechef mit über 400 000 Franken für seinen Abgang belohnt werden, alles unter dem Vorbehalt, dass die parlamentarische Finanzdelegation nächste Woche den Deal absegnen wird. Besonders freuen darf den Korpskommandanten, dass ihm, gemäss Antrag Schmid, zudem rund 30 000 Franken als Entschädigung für seine Anwaltskosten zugesprochen werden sollen.
Während diese Zeilen gedruckt werden, wird der Bundesrat über das Geschäft beraten. Voraussichtlich wird darüber debattiert werden, ob die Entschädigung für den Rechtsbeistand als zusätzlicher Monatslohn kaschiert werden kann. Doch unter welchem Titel der Betrag auch verbucht wird, es dürfte den Juristen Nef nicht gross beissen. Er darf das Resultat, völlig zu Recht, als Schuldeingeständnis der Regierung, genauer des Chefs VBS, werten.

Polizeirazzia erfolgreich vereitelt

Tatsächlich ist die «Affäre Nef» – von der Suche nach einem neuen Chef der Armee bis zu seiner Vergoldung – ein «Skandal Schmid». Doch zu Ende geschrieben ist die unerfreuliche Geschichte noch lange nicht, die nun durch einen Griff in die Staatskasse vergessen gehen soll. Sie wird vielmehr zur Belastung für die ganze Regierung, die gemäss Ankündigung von Bundespräsident Pascal Couchepin (FDP) den angeschlagenen Verteidigungs­minister decken wird.

Die Unregelmässigkeiten begannen bereits im Herbst 2006, wenige Tage nachdem Nefs ehemalige Partnerin Anzeige wegen Nötigung (Stalking, Sexinserate und Sexkontakte im Internet) erstattet hatte. Die Stadtpolizei Zürich wollte, wie üblich in schweren Fällen, bei Roland Nef eine Hausdurchsuchung vornehmen. Abgesehen hatten es die Fahnder vor allem auf seinen Computer. Wie aus Polizeikreisen zu erfahren war, gab es vorweg Verzögerungen, weil Nef beruflich längere Zeit in Genf weilte. Zudem musste für die Beschlagnahmung des Laptops, der auch mit sensiblen militärischen Daten gefüttert war, die Einwilligung der Sektion Informations- und Objektschutz (IOS) im VBS eingeholt werden.

Für die Razzia in Nefs Wohnung war der Einsatz von mindestens acht Polizeibeamten vorgesehen. Aufgrund des Tatverdachts hatte man sich auch für eine irrationale Reaktion des (immerhin bewaffneten) Brigadiers gewappnet. Die bereits bis ins Detail geplante Polizei­aktion wurde auf Anordnung der Staatsanwaltschaft Zürich kurzfristig und zur allgemeinen Verblüffung der Fahnder abgeblasen. Nef sei, so wollen die Polizisten erfahren haben, gewarnt worden und soll über seinen Anwalt angeboten haben, sich «freiwillig» zu stellen. Sein Haus und sein Arbeitsplatz wurden später trotzdem noch durchsucht. Der Überraschungseffekt war natürlich verpufft.

Wie aus Justizkreisen zu erfahren ist, war das VBS von allem Anfang an in die zivile Strafuntersuchung gegen Nef mit involviert. Und selbst wenn Schmids Juristen die Tatvorwürfe im Einzelnen nicht gekannt haben sollten, müssen sie zumindest erkannt haben, dass es nicht um eine Bagatelle ging. Denn wegen eines simplen Beziehungsknatsches werden auch in Zürich keine Razzien veranstaltet. Der ungewöhnliche Rückzieher der Staatsanwaltschaft stützt vielmehr den Verdacht, dass das VBS (über die Geheimabteilung IOS und den früheren Armeechef Christophe Keckeis) den aufstrebenden General Nef mit allen Mitteln schützen wollte. Dass die Razzia derart leicht verhindert werden konnte, dürfte dem notorisch misstrauischen Schmid die Sicherheit gegeben haben, dass das ganze Strafverfahren unter dem Deckel gehalten und diskret erledigt werden könne.

Diese These erklärt das merkwürdige Verhalten des Ministers, der dem Bundesrat und der Öffentlichkeit das hängige Strafverfahren gegen Nef verschwieg, über das er sehr wohl im Bild war. Schmid war sich offenkundig bereits am 8. Juni 2007, als der Bundesrat Nef ernannte, ganz sicher, dass das Verfahren eingestellt würde. Denn das Risiko der Peinlichkeit, Nef vor dessen Amtsantritt zurückziehen zu müssen, wäre der Berner, der sich immer absichert, nie eingegangen.

Über die Kollaboration des VBS mit der vierköpfigen Findungskommission und der Zürcher Staatsanwaltschaft verweigern alle in­volvierten Instanzen jede Auskunft. In einer früheren Anfrage der Weltwoche bestätigte Oberstaatsanwalt Andreas Brunner (parteilos) lediglich knapp, dass es «Kontakte zum VBS» gegeben habe. Heute sagen er und sein Stellvertreter Ulrich Arbenz (FDP) nichts mehr. Die fallführende Untersuchungsrichterin Judith Vogel (FDP) bat um eine schriftliche Zusammenfassung der aktuellen Recherchen der Weltwoche – und war, nachdem sie den Fragenkatalog erhalten hatte, nicht mehr erreichbar. Ebenso blieben beim VBS schriftlich gestellte Fragen unbeantwortet. In Schweigen hüllt sich auch der frühere Flüchtlingschef Peter Arbenz (FDP), Mitglied der von Schmid persönlich eingesetzten Findungskommission. Klarheit kann wohl erst der Bericht der Geschäftsprüfungskommission (GPK) bringen, welche die Umstände des Wahldebakels zu untersuchen hat.

Auf den ersten Blick erstaunlich ist, dass es noch bis zum 23. Oktober 2007 gedauert hat, bis das Verfahren eingestellt wurde. Grund dafür dürfte das gerichtspsychiatrische Gutachten sein. Die Analyse der Psyche Nefs könnte der Staatsanwaltschaft die Begründung geliefert haben, mit der sie die Strafverfolgung gegen den Brigadier zu den Akten legte.

Tatsächlich haben renommierte Strafrechtsexperten wie etwa Daniel Jositsch («Der verflixte Artikel 53», Weltwoche 32/08) sich ge­wundert, warum die gravierende Sache von öffentlicher Relevanz mit einer gütlichen ­Einigung der beiden Parteien (unter Zuhilfenahme einer fünfstelligen Summe) erledigt wurde. Artikel 53 des Strafgesetzbuches sieht vor, dass ein Verfahren beendet werden kann, wenn der Täter seine Verfehlungen eingesteht, wenn das Opfer mit der Einigung einverstanden ist und wenn drittens das Verschulden des Täters nicht allzu gravierend erscheint. «Man kann es drehen, wie man will», schreibt Jositsch, «nach dem, was öffentlich bekannt ist, geht die Einstellungsverfügung nicht auf».

Nicht bekannt war den Strafrechtlern, die aus den perfiden und sich über 18 Monate hinziehenden Nötigungsattacken Nefs auf ein schweres Verschulden schlossen, das psychiatrische Gutachten. Wie der Weltwoche aus Justizkreisen zugetragen wurde, diagnostizierte der Gutachter bei Nef eine narzisstische Störung. Aufgrund dieses psychiatrischen Befunds dürfte die Staatsanwaltschaft Nef eine verminderte Zurechnungsfähigkeit attestiert haben. Somit wäre auch sein individuelles Verschulden geringer einzustufen – was wiederum den Weg für eine Erledigung des Verfahrens hinter den Kulissen ebnete.
Nur: Die psychiatrische Diagnose, die dem forschen Brigadier im Strafverfahren dienlich gewesen sein mag, machte ihn definitiv ungeeignet zum obersten Chef der Armee. Aufgrund der Kontakte zwischen der Zürcher Staatsanwaltschaft und der VBS-Spitze ist davon auszugehen, dass das Departement und mit ihm das handverlesene Findungsquartett auch über dieses Gutachten informiert waren.

Die Gebrüder-Arbenz-Connection

Tatsache ist, dass Staatsanwältin Judith Vogel am 23. Oktober 2007 die Einstellungsverfügung erliess und dass sie diesen diffizilen Entscheid vorweg mit der Oberstaatsanwaltschaft absprach. Fakt ist weiter, dass die Staats­anwaltschaft I, der Vogel angehört, seit dem 1. September 2007 unter der Kontrolle von Oberstaatsanwalt Ulrich Arbenz steht. Womit sich ein weiterer kleiner Kreis schliesst: Ulrich ist der Bruder von Peter, der als Schmid-Freund bei der Wahl Nefs die Fäden zog. Zwar versichert die Oberstaatsanwaltschaft mehrfach (und ungefragt), Arbenz habe «mit dem Fall Nef nichts zu tun gehabt». Das mag formal stimmen. Doch die Annahme, dass im lediglich aus drei Oberstaatsanwälten bestehenden Kollegium das Dossier Nef intern nicht diskutiert wurde, wäre weltfremd.

Nachdem die Affäre aufgeflogen war, konnten Nef und sein Anwalt im Bundeshaus Ost mit der ultimativen Drohung einfahren: «Entweder gibt es einen Rücktritt oder dann zwei.» Die erste Variante hatte allerdings ihren Preis. Und der war in Anbetracht der Verstrickung des BDP-Bundesrates in die Manipulationen vor und nach der Wahl des Armeechefs nicht zu knapp. Wehrminister Schmid blieb, ausser der konsequenten Demission, nur die Zahlung eines Schweigegelds, das ohnehin Dritte zu ­berappen haben. Sofern kein Wunder passiert, wird der Gesamtbundesrat Schmids Ablasshandel beim Erscheinen dieses Artikels abgesegnet haben.

Die letzte Reaktion Schmids, lanciert über seinen Generalsekretär Markus Seiler (FDP) via die jüngste Ausgabe der Sonntagszeitung (SoZ), ist nur noch billigste Ausrede und Abschieben der Schuld. Sein Knecht Seiler, selbst Mitglied des gescheiterten Suchtrupps, wollte das Publikum glauben machen, Schmid sei von Nef systematisch an der Nase herumgeführt worden. Der VBS-Chef war erstens seit Frühjahr 2007 über das Strafverfahren im Bild, und er kannte seit dem 27.  Juni 2008, gut zwei Wochen vor der ersten Publikation durch die SoZ, die belastenden Polizeiprotokolle. Wenn Schmid nicht schon alles gewusst hat, was aufgrund seiner Reaktion («Wir haben Kenntnis von diesem Strafverfahren») anzunehmen ist, dann hätte er alle Zeit und alle Möglichkeiten gehabt, sich ins Bild zu setzen. Letztlich geht es dem politisch erledigten Verteidigungsminister mit dem Manöver nur noch darum, den Rest eines verlorenen Gesichts zu retten.

Schmid hat sich zulasten der Steuerzahler freigekauft, Nef ist zumindest finanziell entschädigt und lebt mit Frau und Stiefkind auf dem Land. Es fehlt in diesem Schmierenstück noch der Bösewicht. Die Zürcher Staatsanwaltschaft ermittelt nun mit allen Kräften gegen ein Dutzend Beamte der Stadtpolizei Zürich. Es kursiert der Verdacht, dass einer aus ihren Reihen der Sonntagszeitung die Protokolle zugesteckt hat. Es kam zu – diesmal überfall­artigen – Durchsuchungen der Büros und der Computer der betroffenen City-Wache. Offenbar lässt sich nachweisen, dass die publik gewordenen Journale aus dem Fahndungsprogramm «Police» stammen.

Zwar hat auch die Staatsanwaltschaft Zugriff auf dieses System. Doch die Ungereimtheiten und politisch motivierten (wie geargwöhnt wird) Machenschaften rund um den Fall Roland Nef sorgten schon seit geraumer Zeit für Unruhe und Ärger bei der Zürcher Stadtpolizei.

Gut möglich also, dass am Ende des grossen Skandals vor dem Richter ein aufrechter kleiner Fahnder steht, der es für seine Pflicht gehalten hat, das Land vor einem psychisch angeschlagenen Armeechef zu bewahren.

Donnerstag, 21. August 2008

Georgiens Provokation

Kaukasus Provokation – Auftakt zu weiteren Kriegen der US-Nato-Israel-Kriegsallianz
von Prof. Dr. Michel Chossudovsky, Kanada

In der Nacht des 7. August, gleichzeitig mit der Eröffnungszeremonie der Olympiade in Peking, ordnete der georgische Präsident Saakaschwili einen umfassenden militärischen Angriff auf Tschinwali, die Hauptstadt von Südossetien, an.
Die Angriffe aus der Luft und auf dem Boden richteten sich hauptsächlich gegen zivile Ziele wie Wohngebiete, Krankenhäuser und die Universität. Die Provinzhauptstadt Tschinwali wurde zerstört. Sowohl russischen als auch westlichen Quellen zufolge hatten die Angriffe 1500 zivile Opfer zur Folge. «Nach den Luftangriffen und dem Artilleriebeschuss war die Provinzhauptstadt ohne Wasser, Nahrungsmittel, Strom und Gas. Als die Kämpfe nachliessen, krochen verstörte Zivilisten aus den Kellern auf die Strassen und suchten nach Nahrung und Wasser.» (AP vom 9. August) Berichten zufolge sind etwa 34 000 Menschen aus Südossetien nach Russ­land geflohen. («Desert Morning News», Salt Lake City, vom 10. August)
Die Bedeutung und der Zeitpunkt dieser Militäroperation müssen sorgfältig analysiert werden. Die Auswirkungen sind weitreichend. Georgien ist ein Aussenposten der Streitkräfte von USA und Nato, unmittelbar an der Grenze der Russischen Föderation gelegen und im Einzugsbereich des nahöstlichen bzw. zentralasiatischen Kriegsschauplatzes.
Georgien handelt militärisch nicht ohne Zustimmung Washingtons. Der georgische Staatschef ist ein Erfüllungsgehilfe der USA, und Georgien ist de facto ein US-Protektorat.
Wer steckt hinter dieser militärischen Agenda? Welchen Interessen dient sie? Was ist der Zweck der militärischen Operation?
Es gibt Indizien, dass die Angriffe sorgfältig mit dem US-Militär und der Nato abgestimmt wurden. Moskau hat die Nato beschuldigt, «Georgien ermutigt zu haben». Der russische Aussenminister Sergei Lawrow unterstrich die destabilisierende Wirkung der «ausländischen» Militärhilfe für Georgien: «Dies unterstreicht unsere zahlreichen an die internationale Gemeinschaft gerichteten Warnungen, dass den massiven Waffenkäufen Georgiens während der letzten Jahre Aufmerksamkeit geschenkt werden muss. Jetzt sehen wir, wie diese Waffen und die georgischen Spezialeinheiten, die von ausländischen Spezialisten trainiert wurden, eingesetzt werden», sagte er. («Russia Today» vom 9. August)
Moskaus Sondergesandter bei der Nato, Dimitri Rogosin, sandte eine offizielle Note an die Vertreter aller Nato-Mitgliedsstaaten: «Russland hat bereits mit Beratungen mit den Botschaftern der Nato-Länder begonnen, und Beratungen mit den Nato-Militärvertretern werden morgen abgehalten werden», sagte Rogosin. «Wir werden sie davor warnen, Saakaschwili weiter zu unterstützen.» «Es ist eine unverhohlene Aggression in Verbindung mit einem umfassenden Propagandakrieg», sagte er. («Russia Today» vom 9. August)
Rogosin zufolge hatte Georgien ursprünglich geplant, «militärische Aktionen gegen Abchasien zu unternehmen; Abchasiens befestigte Region hatte sich jedoch als unüberwindlich für die bewaffneten Kräfte Georgiens erwiesen, weshalb gegen Südossetien, das vom Gelände her zugänglicher ist, eine andere Taktik angewandt wurde». Der Sonderbotschafter zweifelt nicht daran, dass Michail Saakaschwili seine Aktionen mit «Sponsoren» abgestimmt hatte, nämlich «mit denjenigen, mit denen er über den Beitritt Georgiens zur Nato verhandelt. (RIA Novosti vom 8. August)
Entgegen westlichen Medienberichten waren die Angriffe von Moskau vorhergesehen worden. Die Angriffe waren auf den Zeitpunkt der Eröffnung der Olympiade gelegt worden, vor allem um eine Berichterstattung über die georgische Militäroperation auf den Titelseiten der Zeitungen zu vermeiden.
Am 7. August befanden sich die russischen Streitkräfte in einem Zustand höchster Alarmbereitschaft. Der Gegenangriff wurde rasch ausgeführt.
Russische Fallschirmjäger der Luftlandedivisionen aus Iwanowo, Moskau und Pskow sowie Panzer, gepanzerte Fahrzeuge und mehrere tausend Mann Infanterie wurden eingesetzt. Russische Luftangriffe haben vor allem militärische Einrichtungen in Georgien wie die Militärbasis in Gori getroffen. Der georgische Militärangriff wurde mit einer massiven Demonstration der Stärke von den Russen zurückgeschlagen.
Akt der Provokation?

Militär- und Geheimdienstplaner von USA und Nato untersuchen üblicherweise mehrere «Szenarien» einer vorgeschlagenen Militäroperation – etwa in diesem Fall eines begrenzten, vor allem gegen zivile Ziele gerichteten, georgischen Angriffs in der Absicht, zivile Opfer zu verursachen.
Die Untersuchung von Szenarien ist eine routinemässige Übung. In Anbetracht der militärischen Fähigkeiten waren ein Sieg Georgiens und die Besetzung Tschinwalis von vornherein unmöglich. Und dies war den US- und Nato-Militärplanern vollkommen klar.
Eine humanitäre Katastrophe, nicht ein militärischer Sieg, war ein integraler Bestandteil des Szenarios. Ziel war, die Provinzhauptstadt zu zerstören und gleichzeitig hohe Verluste an Menschenleben zu verursachen.
Wenn es das Ziel gewesen wäre, die ­politische Kontrolle Georgiens über die Provinzregierung wiederherzustellen, wäre die Operation ganz anders durchgeführt worden: Spezialkräfte hätten öffentliche Gebäude, Kommunikationseinrichtungen und Einrichtungen der Provinzregierung besetzt, anstatt Wohngebiete und Krankenhäuser oder gar die Universität von Tschinwali in Grund und Boden zu bombardieren.
Die russische Antwort war vollkommen voraussehbar.
Georgien war von der Nato und den USA «ermutigt» worden. Sowohl Washington als auch dem Nato-Hauptquartier in Brüssel war vollkommen klar, was im Falle eines russischen Gegenangriffs geschehen würde.
Die Frage ist: War dies eine absichtliche Provokation in der Absicht, eine militärische Antwort Russlands auszulösen und Russland in eine ausgeweitete militärische Konfrontation mit Georgien (und verbündeten Mächten) hineinzuziehen, die möglicherweise in einen umfassenden Krieg eskalieren könnte?
Georgien hat mit etwa 2000 Soldaten im Irak das drittgrösste Kontingent an Koalitionstruppen nach den USA und Grossbritannien stationiert. Berichten zufolge werden georgische Truppen jetzt in US-Militärflugzeugen in ihr Heimatland zurückgeflogen, um dort gegen die russischen Truppen zu kämpfen. (siehe debka.com vom 10. August)
Diese Entscheidung der USA, georgische Soldaten zurückzuholen, weist darauf hin, dass Washington auf eine Eskalation des Konflikts abzielt, bei der die georgischen Truppen als Kanonenfutter gegen einen massiven russischen Militäreinsatz eingesetzt werden sollen.
USA/Nato und Israel sind in die Planung der Angriffe einbezogen

Mitte Juli hielten georgische und US-Truppen unter dem Namen «Immediate Response» (Sofortige Antwort) eine gemeinsame militärische Übung ab, an der 1200 amerikanische und 800 georgische Soldaten teilnahmen.
Die Ankündigung durch das georgische Verteidigungsministerium vom 12. Juli meldete, dass die amerikanischen und georgischen Truppen «drei Wochen lang auf der Vaziani-Militärbasis» in der Nähe der georgischen Hauptstadt Tiflis üben würden. (AP vom 15. Juli) Diese Übungen, die eine knappe Woche vor den Angriffen vom 7. August beendet waren, waren offensichtlich eine Generalprobe für eine Militäroperation, die aller Wahrscheinlichkeit nach in enger Zusammenarbeit mit dem Pentagon geplant worden war.
Der Krieg um Südossetien sollte nicht mit einem georgischen Sieg und der Wiedergewinnung der georgischen Souveränität über Südossetien enden. Er sollte die Region destabilisieren und auch zu einer Konfrontation von USA und Nato mit Russland führen.
Am 12. Juli, gleichzeitig mit dem Beginn der georgisch-amerikanischen Kriegsspiele, begann das russische Verteidigungsministerium seine eigenen Militärmanöver in der Region Nordkaukasus. Das übliche Dementi sowohl von Tiflis und Moskau lautete: Die Militärübungen haben «nichts zu tun» mit der Situation in Südossetien. (AP vom 15. Juli)
Geben wir uns keinen Illusionen hin. Dies ist kein Bürgerkrieg. Die Angriffe sind ein integraler Bestandteil des umfassenderen nahöstlich-zentralasiatischen Krieges, der auch die Kriegsvorbereitungen von USA/Nato/Israel bezüglich Iran einschliesst.
Die Rolle der israelischen Militärberater

Während Berater von Nato und USA nicht direkt an den Militäroperationen beteiligt waren, waren sie aktiv in die Planung und die Logistik der Angriffe involviert. Israelischen Quellen zufolge (debka.com vom 8. August) war der Bodenangriff vom 7./8. August mit Panzern und Artillerie «von israelischen Militärberatern» unterstützt worden. Israel belieferte Georgien auch mit unbemannten Flugzeugen vom Typ Hermes-450 und Skylark, die in den Wochen vor den Angriffen benutzt wurden.
Einem Bericht in [der georgischen Zeitung] «Rezonansi» vom 6. August (georgisch, Übersetzung der BBC) zufolge hat sich Georgien in Israel auch «einige wirksame Waffen durch die Verbesserung der SU-25 Flugzeuge und Artilleriesysteme» beschafft. «Haaretz» zufolge (10. August) sind Israeli in Georgien in der Rüstungsindustrie und als Sicherheitsberater aktiv.
Russische Truppen kämpfen nun direkt gegen eine von Nato und USA trainierte und von den USA und Israel beratene georgische Armee. Und russische Militärflugzeuge haben am Rand von Tiflis die Fabrik für Kampfflugzeuge bombardiert, die mit technischer Unterstützung aus Israel den verbesserten SU-25-Jäger herstellt. (CTV.ca vom 10. August)
Im grösseren Umfeld des Krieges im Nahen Osten gesehen, könnte die Krise in Südossetien zu einer Eskalation führen, eventuell auch zu einer direkten Konfrontation zwischen den Streitkräften Russlands und der Nato. Geschähe dies, stünden wir der ernstesten Krise der Beziehungen zwischen USA und Russland seit der kubanischen Raketenkrise im Oktober 1962 gegenüber.
Georgien: ein Aussenposten von Nato und USA

Georgien ist Teil eines Nato-Militärbündnisses, das im April 1999 zu Beginn des Jugoslawien-Krieges unterzeichnet wurde. Es hat auch ein zweiseitiges militärisches Kooperationsabkommen mit den USA abgeschlossen. Diese Militärabkommen haben dazu gedient, sowohl die angloamerikanischen Ölinteressen im Bereich des Kaspischen Meeres als auch Pipelinerouten zu schützen.
Sowohl die USA als auch die Nato sind in Georgien militärisch präsent und arbeiten eng mit den georgischen Streitkräften zusammen. Seit Unterzeichnung des GUUAM-Abkommens von 1999 hat Georgien umfangreiche Militärhilfe der USA bekommen.
Erst vor ein paar Monaten, Anfang Mai, beschuldigte das russische Verteidigungsministerium Washington, «dass die Militärhilfe [der USA, der Nato und Israels] für Georgien die Region destabilisiert». (Russland beklagt Aufrüstung Georgiens, Wired News vom 19. Mai) Dem russischen Verteidigungsministerium zufolge «hat Georgien 206 Panzer erhalten, von denen 175 aus Nato-Staaten geliefert wurden, 186 Panzerwagen (126 aus der Nato), 79 Kanonen (67 aus der Nato), 25 Hubschrauber (12 aus der Nato), 70 Mörser, 10 Boden-Luft Raketensysteme, 8 israelische unbemannte Flugzeuge und andere Waffen. Zusätzlich haben Nato-Länder 4 Kampfflugzeuge an Georgien geliefert. Das russische Verteidigungsministerium berichtete von Plänen, 145 Panzerwagen, 262 Kanonen und Mörser, 14 Kampfflugzeuge, darunter 4 Mirazh-2000 Zerstörer, 25 Kampfhubschrauber, 15 amerikanische Black Hawk [Hubschrauber], 6 Boden-Luft-Raketensysteme und andere Waffen zu liefern». (Interfax Nachrichtenagentur, Moskau, russisch, vom 7. August)
Hilfe von Nato-USA-Israel unter formalen Militärabkommen beinhaltet einen stetigen Strom von moderner militärischer Ausrüstung sowie Ausbildungs- und Beratungsdienste.
Quellen aus dem US-Militär zufolge (Sprecher des US-Kommandos für Europa) hat die USA mehr als 100 «Militärausbilder» in Georgien stationiert. Der Pentagon-Sprecher Bryan Whitman sagte, «es gebe keine Pläne, die auf 130 Mann geschätzten US-Truppen und zivilen Mitarbeiter von Militärfirmen, die seiner Aussage nach in der Nähe von Tiflis stationiert sind, zu verlegen.» (AFP vom 9. August) Tatsächlich ist die Militärpräsenz von USA und Nato in Georgien grösser als offiziell zugegeben wird. Die Anzahl der Nato-Soldaten, die in Georgien als Ausbilder und Militärberater arbeiten, ist nicht bestätigt worden.
Obwohl Georgien kein offizielles Mitglied der Nato ist, ist sein Militär voll in Nato-Abläufe integriert. Der georgische Präsident kündigte 2005 stolz die Einweihung der ersten Militärbasis an, die «ganz den Nato-Standards entspricht». Unmittelbar nach der Einweihung der Basis in Senakskaya in Westgeorgien kündigte Tiflis die Eröffnung einer zweiten Militärbasis in Gori an, die ebenfalls «in bezug auf die militärischen Anforderungen und die sozialen Bedingungen den Nato-Regeln entspricht». (Ria Novosti vom 16. Mai)
Die Basis in Gori wurde genutzt, um georgische Truppen zu trainieren, die unter US-Kommando auf dem irakischen Kriegsschauplatz kämpfen sollten.
Es ist auch beachtenswert, dass nach einem Abkommen zwischen Tiflis und Moskau vom 31. März 2006 zwei Militärbasen aus der Sowjetzeit (Akhalkalaki und Batumi) geschlossen worden sind. (Ria Novosti vom 16. Mai) Der Abzug in Batumi begann im Mai letzten Jahres. Die letzten russischen Truppen verliessen die Militäreinrichtung in Batumi Anfang Juli 2008, kaum eine Woche vor dem Beginn der amerikanisch-georgischen Militärübungen und kaum einen Monat vor den Angriffen auf Südossetien.
Die Israel-Connection

Israel ist jetzt Teil der angloamerikanischen Militärachse, die den Interessen der westlichen Ölmultis im Nahen Osten und in Zentralasien dient.
Israel ist ein Partner bei der Baku-Tiflis-Ceyhan-Pipeline (BTC), die Öl und Gas ins östliche Mittelmeer bringt. Mehr als 20 Prozent des israelischen Öls wird aus Aserbaidschan importiert, von dem ein grosser Teil über die BTC transportiert wird. British Petroleum kontrolliert die BTC-Pipeline, die die Geopolitik des östlichen Mittelmeeres und des Kaukasus dramatisch verändert hat:
«[Die BTC-Pipeline] verändert den Status der Länder der Region erheblich und zementiert eine neue prowestliche Allianz. Durch die Route der Pipeline bis ans Mittelmeer hat Wa­shington praktisch einen neuen Block mit Aserbaidschan, Georgien, der Türkei und Israel gebildet.» («Komersant» vom 14. Juli 2006)
Während in offiziellen Berichten nur davon die Rede ist, dass die BTC-Pipeline «Öl in den westlichen Markt bringt», wird selten erwähnt, dass ein Teil des Öls aus dem Kaspischen Meer direkt nach Israel gebracht wird, durch Georgien. Deshalb wurde bereits ein israelisch-türkisches Pipelineprojekt ins Auge gefasst, das Ceyhan mit dem israelischen Hafen Ashkelon und von dort durch das israelische Pipelinesystem mit dem Roten Meer verbinden könnte.
Ziel Israels ist nicht nur der Import von Öl aus dem Kaspischen Meer für den eigenen Verbrauch, sondern auch, eine Schlüsselrolle beim Weiterverkauf dieses Öls zurück in die asiatischen Märkte durch den Hafen Eilat am Roten Meer zu spielen. Die strategischen Auswirkungen dieser Umleitung des kaspischen Öls sind weitreichend. (siehe M. Chossudovsky: «Der Krieg im Libanon und die Schlacht ums Öl», Global Research, Juli 2006)
«Die Idee ist, die BTC-Pipeline mit der Trans-Israel-Pipeline von Eilat nach Ashkelon zu verbinden, die auch als Israels Tipline bekannt ist. Die Türkei und Israel verhandeln über ein Multi-Millionen-Dollar-Projekt, das Wasser, Strom, Erdgas und Öl durch Pipelines nach Israel transportieren wird, wobei das Öl weiter über Israel nach Fernost verschifft wird.
Dieses türkisch-israelische Projekt sähe den Transfer von Wasser, Strom, Erdgas und Öl nach Israel in vier Unterwasser-Pipelines vor.
Öl aus Baku kann über diese neue Pipeline nach Ashkelon und weiter [über das Rote Meer] nach Indien und den Fernen Osten transportiert werden.
Ceyhan und der Mittelmeerhafen Ashkelon liegen nur 400 km voneinander entfernt. Öl kann durch Tanker oder durch besonders konstruierte Unterwasserpipelines transportiert werden. Von Ashkelon aus kann das Öl durch eine bereits existierende Pipeline zum Hafen Eilat am Roten Meer transportiert werden; von dort kann es dann mit Tankern weiter nach Indien und in andere asiatische Länder transportiert werden.»
In dieser Hinsicht ist Israel dazu ausersehen, eine wichtige strategische Rolle beim «Schutz» der von Ceyhan ausgehenden Transport- und Pipelinerouten im östlichen Mittelmeer zu spielen. Gleichzeitig ist es auch an der Militärhilfe und der Ausbildung des Militärs sowohl in Georgien als auch in Aserbaidschan beteiligt. Ein weitreichendes bilaterales Militärabkommen zwischen Tiflis und Tel Aviv wurde 1999, kaum einen Monat vor dem von der Nato unterstützten GUUAM-Vertrag, abgeschlossen. Es wurde in Tiflis von Präsident Schewardnadse und Israels Premierminister Benjamin Netanjahu unterzeichnet. Ziel all dieser Verträge über militärische Zusammenarbeit ist letztlich, die Präsenz und den Einfluss Russlands im Kaukasus und in Zentralasien zu unterminieren.
In einer Pro-forma-Erklärung hat sich Tel Aviv nach bilateralen Gesprächen am 5. August 2008 dazu verpflichtet, die Militärhilfe für Georgien zu reduzieren.
Russlands Antwort

In Reaktion auf die Angriffe intervenierten die russischen Streitkräfte mit konventionellen Bodentruppen. Panzer und gepanzerte Fahrzeuge wurden eingesetzt. Die russische Luftwaffe war auch an Gegenangriffen auf georgische Militärstützpunke wie die Militärbasis in Gori beteiligt. Die westlichen Medien haben die Russen als allein verantwortlich für den Tod von Zivilisten dargestellt, doch haben gleichzeitig auch die westlichen Medien zugegeben (bestätigt von der BBC), dass die meisten zivilen Opfer zu Beginn durch die georgischen Boden- und Luftangriffe verursacht worden waren. Russischen und westlichen Quellen zufolge lag die Zahl der meist zivilen Opfer am Anfang bei mindestens 1400 (BBC). «Die georgischen Opferzahlen lagen zwischen 82 Toten, davon 37 Zivilisten, und Zahlen von 130 Toten … Georgischen Quellen zufolge forderte ein russischer Luftangriff auf Gori, eine georgische Stadt in der Nähe von Südossetien, 60 Opfer, darunter viele Zivilisten.» (BBC vom 9. August) Russische Quellen beziffern die Zahl der toten Zivilisten in Südossetien auf 2000. Zwischen Russland und Amerika entfaltet sich ein Prozess der Eskalation und Konfrontation, der an die Ära des kalten Krieges erinnert. Erleben wir einen Akt der Provokation, der einen umfassenderen Konflikt auslösen kann? Wie aus aktuellen Verlautbarungen der Nato hervorgeht, versucht die westliche Militärallianz, von der Medienpropaganda unterstützt, den Vorfall zu benutzen, Russland herauszufordern. •

Quelle: www.globalresearch.ca vom 10.8.2008
(Übersetzung Zeit-Fragen)
Streitkräfte von Hunderten von US-Instruktoren ausgebildet

«Eine Zeitlang konnte eine gewisse Ruhe in Südossetien aufrechterhalten werden. Die Friedenssicherungskräfte, zu denen Russen, Georgier und Osseten gehörten, erfüllten ihre Mission, und die normalen Osseten und Georgier, die nahe beieinander leben, fanden zumindest etwas zueinander. […] Was in der Nacht des 7. August geschah, ist unbegreiflich. Das georgische Militär griff die südossetische Hauptstadt Tschinwali mit vielfachem Raketenbeschuss an, dessen Ziel die Verwüstung grosser Gebiete war […] Russland musste reagieren. Es der Aggression gegen das ‹kleine, wehrlose Georgien› anzuklagen, ist nicht nur heuchlerisch, sondern zeigt einen Mangel an Menschlichkeit.
Das Inszenieren eines militärischen Angriffs gegen Unschuldige war eine rücksichtslose Entscheidung, deren tragische Konsequenzen für Tausende von Menschen verschiedener Nationalitäten nun deutlich sind. Die georgische Führung konnte dies nur mit deutlicher Unterstützung und Bestärkung von seiten einer viel stärkeren Macht tun. Georgische Streitkräfte waren von Hunderten von US-Instruktoren ausgebildet worden, und ihre hochentwickelte militärische Ausrüstung war in einer Reihe von Ländern gekauft worden. Dies, verbunden mit der Zusicherung der Nato-Mitgliedschaft, gab den georgischen Führern den Mut zu glauben, sie könnten in Südossetien mit einem ‹Blitzkrieg› davonkommen.»

Michael Gorbatschow. A Path to Peace in the ­Caucasus, in: Washigton Post vom 12.8.2008
Wenn Georgien in der Nato wäre …

«Es ist seit langem absehbar, in welch gefährliche Konfrontation zu Russland die Nato geraten würde, wenn Georgien mit seinen ungelösten Territorialproblemen in die Nato aufgenommen werden würde. Daher haben auch die Bundesregierung und andere europäische Regierungen beim letzten Nato-Gipfel dem US-Begehren widerstanden, eine entsprechende Gipfelentscheidung mitzutragen.»

Ulrich Weisser. Russische Angst vor Umzingelung. In: «Kölner Stadtanzeiger» vom 12.8.2008

Ulrich Weisser war von 1992–1998 Leiter des Planungsstabes, Chefstratege der Bundeswehr. Zuvor hatte er Leitungsposten bei der Nato.
«Konflikt ist nicht durch Russland verursacht»

«Lassen Sie mich absolut klar sein: Dieser Konflikt ist nicht durch Russland verursacht, diesen Konflikt hat Russland nicht gewählt. Es gibt in diesem Konflikt keine Gewinner. Stunden vor der georgischen Invasion arbeitete Russland darauf hin, eine Erklärung des Uno-Sicherheitsrates sicherzustellen, die sowohl von Georgien wie von den Südosseten einen Gewaltverzicht forderte. Die Erklärung, die Blutvergiessen hätte verhindern können, wurde von westlichen Ländern abgeblockt.»

Sergej Lavrov. Aussenminister Russlands in der «Financial Times» vom 13.8.2008

Freitag, 15. August 2008

Die direkte Demokratie und ihre Vorteile

Direkte Demokratie im 21. Jahrhundert
Von Nationalrat Prof. Dr. Christoph Mörgeli, Stäfa ZH

Die Demokratie ist jene Staatsform, in der das «Volk» (griech. demos), also die Gesamtheit der Bürger, nicht ein Einzelner oder eine kleine Gruppe Mächtiger, die Staatsgewalt innehat.

Unsere Schweiz ist für die Erfolgsgeschichte der Demokratie besonders bedeutsam, weil diese in unserem Land bis ins Mittelalter zurückreicht, weil sie sich in ihrer modernen Form mit der Gründung des Bundesstaates 1848 sehr früh durchsetzte und weil sie mit den direktdemokratischen Volksrechten seit den 1860er Jahren zum weltweiten Sonderfall wurde.

Der Gedanke der schweizerischen Volkssouveränität – die Idee, dass sämtliche Macht vom Willen der Bürger ausgeht – ist historisch betrachtet einmalig. Denn in der Vergangenheit ging die Souveränität in fast allen Teilen der Welt zu fast allen Zeiten vom Herrscher aus. Sie beruhte auf dem Willen von Fürsten, Königen, Kaisern und Päpsten. Bekanntestes Sinnbild dieses absolutistischen Denkens ist der Leitspruch des französischen Sonnenkönigs Ludwig XIV: «L’état c’est moi.»

Schweiz als Wiege der Demokratie

Die Schweizerische Eidgenossenschaft hat sich seit ihrer Gründung 1291 immer als Gegenpol zu diesem in Europa stark verwurzelten etatistischen Denken verstanden. Dem Schweizer Selbstverständnis entspricht, dass die Macht von den Bürgern ausgeht und dass der Staat «von unten nach oben» organisiert ist. Gerade wegen dieses Gegenkonzepts wird die Schweiz zu Recht als Wiege der Demokratie angesehen.

Speziell die eidgenössischen Landsgemeinde-Orte und Graubünden hielten die direkte Demokratie als Gegenentwurf zu Monarchie und Aristokratie sehr hoch. Im Unterschied zu jenen Staatsformen, in denen die staatliche Souveränität durch den König oder eine geburtsständisch abgeschlossene Gruppe adliger oder patrizischer Herren ausgeübt wurde, lag die höchste Gewalt in der Demokratie beim «gemeinen Mann», also bei der Versammlung der waffenfähigen Männer. Diese regelmässig durchgeführten Versammlungen – Landsgemeinden oder einfach Gemeinden (Gemeindeversammlungen) genannt – entschieden in offener Abstimmung über alle Fragen, die auch nach heutigem Verständnis die staatliche Souveränität ausmachen: Wahl und Abwahl der Regierungs- und Verwaltungsleute, der Richter und militärischen Befehlshaber, Erlass und Aufhebung von Gesetzen, Abschluss von Verträgen mit ausländischen Mächten, Erklärung von Krieg und Frieden sowie die Festsetzung von Steuern. Schon damals rümpften Reisende und Botschafter des europäischen Auslandes ihre gepuderten Nasen über die angebliche Pöbelherrschaft im schweizerischen Alpenraum. Die Eidgenossen aber hüteten die demokratische Mitbestimmung als ein Privileg, als eine besondere Freiheit, die sie durch eigene Leistungen erworben und erkämpft hatten und an die Nachkommen weitervererben wollten.

Die helvetische Revolution von 1798 hob auch für die bisherigen Untertanen in den städtischen Orten und der gemeinen Herrschaften die Rechtsungleichheiten auf. Während bei den europäischen Nachbarn 1848 die Monarchien triumphierten, setzte sich in der Schweiz der freiheitliche und demokratische Bundesstaat durch. Die Demokratische Bewegung baute in den 1860er Jahren auf Kantonsebene, in den 1870er Jahren auch auf Bundesebene die indirekte Demokratie, in der einzig die Parlamente über Sachgeschäfte entschieden, zu einer direkten Demokratie um. Man setzte überall die Volkswahl der Kantonsregierungen sowie Volksabstimmungen zu Parlamentsbeschlüssen und Sachvorlagen durch. 1891 ergänzte das Referendum die 1874 eingeführte Volksinitiative. Mit der Einführung des Staatsvertragsreferendums 1921 und dessen Ausbau 1977, 1998 und 2003 wurde zusätzlich auch ein Teil der Aussenbeziehungen der demokratischen Mitsprache unterstellt. Diese Erweiterung kann allerdings den Einflussverlust nicht kompensieren, den die zunehmende Rechtssetzung durch internationale Verträge für die Schweizer Stimmbürger bedeutete.

Weltweiter Sonderfall

Wo steht unsere direkte Demokratie in der Gegenwart und in der Zukunft? Vorab stellen die hiesigen direktdemokratischen Mitwirkungsrechte einen weltweiten Sonderfall dar. Wer diesen Sonderfall abstreitet, hat entweder keine Ahnung vom Inland, keine Ahnung vom Ausland oder aber keine Ahnung von beidem. Ein Schweizer kann in einem einzigen Jahr mehr abstimmen und wählen, als beispielsweise ein Engländer in seinem ganzen Leben. In der Schweiz haben seit Einführung des Bundesstaates mehr Abstimmungen und Wahlen stattgefunden, als in allen Ländern unserer Welt zusammengerechnet. Weil unsere Mitbestimmungsrechte auf Stufe Bund, Kantone und Gemeinden weltweit einzigartig sind, ist auch die Bedeutung unseres Bürgerrechts einzigartig. Wo die Menschen bloss alle paar Jahre ein Parlament wählen dürfen, mag das Bürgerrecht beschränkte Bedeutung haben. Wenn wir Schweizer aber zudem über unzählige Sachfragen mitentscheiden dürfen, müssen wir auch im
21. Jahrhundert höhere Ansprüche stellen: Integration, Identifikation, Kenntnis unseres Systems und Beherrschung einer Landessprache.

Eine SP-Politikerin, zugleich Präsidentin der Einbürgerungskommission, erklärte unlängst öffentlich, man verzichte in der rotgrünen Stadt Zürich auf Einbürgerungstests, denn:

«Bildungsferne Menschen oder funktionelle Analphabeten würden solche Tests gar nicht verstehen und wären dann von vornherein von der Einbürgerung ausgeschlossen.» («Tages-Anzeiger», 3. Mai 2008)

Wie bitte sollen solche Neuschweizer Analphabeten wählen oder abstimmen? Wer so einbürgert, treibt offen Schindluderei mit unserer direkten Demokratie!

Die direkte Demokratie war nicht nur in der Vergangenheit ein Erfolgsrezept, sie ist es auch in Zukunft. Nämlich als Gegenmittel gegen die Zentrifugalkräfte von Grossstaaten und internationalen Gebilden, die sich um ihre Zentren drehen, aber die Randgebiete vernachlässigen und so für zunehmende Loslösungserscheinungen sorgen. Wir beobachten im EU-Raum, aber auch etwa in Kalifornien vielfache Gegenbewegungen des Regionalismus. Die Bewohner von solch selbstbewussten Regionen pflegen mit viel Liebe und Begeisterung ihre politische, kulturelle und wirtschaftliche Eigenart – und fordern Mitsprache, die Möglichkeit von Bürgerinitiativen, kurz: mehr direktdemokratische Mitbestimmungsrechte. Unter Heimat verstehen sie wie wir nicht nur das Stückchen Erde, auf dem sie leben, eine Gemeinschaft von Menschen, die sie kennen, oder das Geborgensein in Landschaft, Dörfern und Städten. Heimat ist für sie wie für uns auch jener Ort, wo wir das Sagen haben.

Garant für Wohlstand und Glück

Unter den entschiedenen Befürwortern der direkten Demokratie befinden sich beileibe nicht nur Hinterwäldler und Ewiggestrige. Moderne Ökonomen haben nachgewiesen, dass der Prozess der Marktwirtschaft im Grunde dem der direkten Demokratie gleicht: Jedes ausgegebene Frankenstück entspricht einem Stimmzettel, mit dem sich die Konsumenten tagtäglich für ein bestimmtes Produkt entscheiden. Jeder Franken, jeder Stimmzettel kommt in dieser Marktdemokratie zur Geltung. Die Konsumenten entscheiden über den Erfolg oder Misserfolg eines Produktes, genau wie die Wähler über Erfolg oder Misserfolg einer Partei, eines Kandidaten oder einer Sachvorlage entscheiden. Führende Wirtschaftsprofessoren in Zürich und St. Gallen zeigen in umfangreichen wissenschaftlichen Studien auf, dass weitgehende Mitbestimmungsrechte der Bürger weit billiger zu stehen kommen, als wenn Regierungen und Parlamente in eigener Kompetenz Geld verteilen.

Professor Bruno S. Frey, der international bekannteste Schweizer Ökonom, bringt es klipp und klar auf den Punkt:

«Je stärker die direkte Demokratie, je besser geht es der Wirtschaft.» (Cash, 22. August 2003)

Je grösser die Beteiligung der Stimmbürger sei, desto effizienter werde verwaltet, desto tiefer seien die Steuern und Staatsschulden. Ja mehr noch: Es lässt sich nachweisen, dass die Lebenszufriedenheit der Menschen weniger mit ihrem materiellen Wohlstand zu tun hat, als mit der direkten Demokratie. Die direkte Demokratie ist demnach ein eigentlicher Glücksfaktor. Glücklich sind die, die am Wohnort, im Wohnkanton, in ihrem Land etwas zu sagen haben. Je grösser die Mit- und Selbstbestimmungsrechte, desto zufriedener sind die Menschen. Somit ist unsere direkte Demokratie nicht etwa veraltet, sondern die Staatsform der Zukunft. Und moderne Technologien erlauben es problemlos, die direktdemokratischen Elemente zu fördern, etwa durch elektronische Abstimmungen oder die Demokratisierung des Wissens durch moderne Kommunikationsmittel.

Mehrfache Gefährdung

So gewiss es ist, dass die direkte Demokratie den besten Weg in die Zukunft eröffnet, so sehr sind die Mitbestimmungsrechte der Bürger ständigen Gefahren ausgesetzt. Regierungen, Parlamente oder bestimmte Interessengruppen neigen dazu, die Korrekturmöglichkeiten des Souveräns als lästiges Hemmnis zu beurteilen. Dies gilt für das Ausland noch offenkundiger als für das Inland. Der frühere Bundeskanzler Helmut Kohl zählte es ganz ungeniert zu seiner grössten politischen Leistung, das deutsche Volk weder über die Einführung des Euro noch über die EU-Verträge noch über die Wiedervereinigung befragt zu haben. Dabei steht im deutschen Grundgesetz: «Alle Macht geht vom Volke aus.» Wenn die Bevölkerung von Frankreich, Holland oder Irland die EU-Verfassung nicht wie gewünscht durchwinkt, gilt dies als nicht weiter ernst zu nehmender kleiner Betriebsunfall. So einfach geht es hierzulande zwar nicht. Aber unsere ansonsten mässig kreative Classe politique und Bundesverwaltung zeigen eine erstaunliche Kreativität, wenn es darum geht, durch raffinierte Terminierung, Zusammenbindung und Austricksen des Souveräns genehme Vorlagen unter Dach zu bringen oder mittels Verweisen aufs Völkerrecht nicht genehme Vorlagen zu torpedieren.

Eine weitere Gefahr droht der direkten Demokratie dadurch, dass sich die Regierenden zunehmend als moralischer Vormund des Stimmvolkes aufspielen. Dabei ist unser Staat keine Institution der Moral, sondern der Rechtsschöpfung und Rechtswahrung. Ideale zu bilden und zu verwirklichen ist Sache der Menschen, der Familien, der Kirchen, der Vereine, aber niemals des Staates. Laut dem Basler Staatsrechtler Max Imboden ist die Demokratie die «Staatsform der Alternativen». Eine Demokratie kann nur funktionieren, wenn ein Ja genau so wie ein Nein möglich ist. Nur nichtdemokratische Ordnungen sind von Zwangsläufigkeiten und Vorgegebenem beherrscht. Es geht in der direkten Demokratie nicht an, dass die Vertreter der angeblich «falschen» Meinung von den Regierenden als moralisch minderwertig, unverantwortlich, böse, dumm, stillos oder unanständig bezeichnet werden.

Machen wir uns nichts vor: Auch die politische Linke steht der direkten Demokratie traditionsgemäss skeptisch bis feindlich gegenüber. Da die Bevölkerung deren ruinösen Gesellschafts- und Wirtschaftsentwürfen mehrheitlich die Gefolgschaft versagt, will die Linke die heute dezentrale politische Macht von den Schweizerbürgern weitest möglich bei international tätigen Politikern, Funktionären, Gewerkschaftern und Berufsgutmenschen zentralisieren. Darum bevorzugt die Linke den Beitritt zur Brüssler EU-Bürokratie gegenüber unserer staatlichen Eigenständigkeit und unserer Volkssouveränität. Aber auch die klassischen Freisinnigen oder ihnen nahe stehende Wirtschaftsverbände haben oft ihre liebe Mühe mit der direkten Demokratie und bevorzugten im neunzehnten Jahrhundert jedenfalls den reinen Parlamentarismus, während führende CVP-Exponenten – früher als Katholisch-Konservative – noch weit im zwanzigsten Jahrhundert seltsamen, undemokratischen ständestaatlichen Ideen huldigten.

Wollen sich die Bürger entlasten?

Die allergrösste Gefahr für die direkte Demokratie droht aber von den Bürgerinnen und Bürgern selber. Nämlich dann, wenn sie sich vermeintlich frei machen wollen von den Sorgen und der Verantwortung des politischen Mitwirkens, wenn sie die Besorgung des Staates, das «Politische», aus der Hand geben und den Politikern allein anvertrauen. Einzelne Urnengänge der jüngsten Vergangenheit geben leider Anlass zu diesbezüglicher Sorge. Unsere Vorfahren haben schwere Kämpfe ausgefochten und mitunter das Leben aufs Spiel gesetzt, um politische Mitwirkungsrechte zu erlangen; sie würden sich wundern, wenn wir Nachgeborenen heute wieder eine Refeudalisierung zuliessen, indem erneut Wenige über Viele herrschen sollen.

Solche Tendenzen wollen wir gemeinsam bekämpfen in der Überzeugung, dass die direkte Demokratie für unser Land auch im 21. Jahrhundert jene Staatsform ist, mit der wir Wohlstand, Freiheit, Zufriedenheit und Glück am ehesten erreichen können. Mögen uns demokratiemüde Parteien und Medien noch so heftig bekämpfen. Wir kennen unseren Auftrag.

Christoph Mörgeli

Grundsatzreferat, gehalten an der Delegiertenversammlung der SVP Schweiz am 5. Juli 2008 in Brig/VS.

Donnerstag, 14. August 2008

Die WTO im Griff transnationaler Konzerne

Die WTO im Griff transnationaler Konzerne
von Reinhard Koradi, Dietlikon

Juan Evo Morales Ayma, Präsident der Republik Bolivien, deckt in seinem offenen Brief «Schlacht um die Märkte» die einseitige Interessenvertretung durch die WTO während der Verhandlungen der in Genf gescheiterten «Doha-Runde» auf. An die westlichen Industrieländer stellt er die berechtigte Forderung, ihre exklusiven Zusammenkünfte zukünftig zu unterlassen und die Entwicklungsländer als gleichwertige Partner zu akzeptieren. Dabei zeigt er eine folgerichtige Perspektive auf, indem er fordert, «die Länder müssen dem Konsum der lokalen Produktion Priorität einräumen», um «dem Verbrauch dessen den Vorrang zu geben, was vor Ort produziert wird».
WTO – ein Relikt der Freihandelsdoktrin

Die transnationalen Konzerne haben es in den vergangenen Jahren verstanden, die WTO für ihre Zwecke und Ziele einzuspannen. Nationale Regelwerke und der Grenzschutz behinderten den grenzenlosen Warenhandel. Dabei waren die meisten dieser Handelsvorschriften, Zulassungsbestimmungen und Schutzmechanismen auf nationale Interessen und Bedürfnisse abgestützt und dienten primär der Bevölkerung der einzelnen Nationen. Dazu gehören: eigenständige Wirtschafts- und Ordnungspolitik (zum Beispiel Soziale Marktwirtschaft), soziale Sicherheit, Sicherung der Grundversorgung (Ernährungssouveränität, Energie, Bildung, Gesundheitswesen usw.) sowie die Wahrung der politischen Unabhängigkeit. Die moderne Wirtschaftstheorie spricht in bezug auf diesen berechtigten Schutz der eigenen Bevölkerung von Handelshemmnis und Wettbewerbsverhinderung und fordert deren Beseitigung. Die auf den Binnenmarkt ausgerichteten ordnungspolitischen Bestimmungen sind aber das Spiegelbild nationaler Werthaltungen und des politischen Willens der Bevölkerung und müssten daher von sämtlichen Marktakteuren respektiert werden. Sie schliessen einen grenzüberschreitenden Güter-, Zahlungs- und Personenverkehr auch nicht aus. Die Gestaltung dieses grenzüberschreitenden Handels- und Personenverkehrs war jedoch eine bilaterale Angelegenheit souveräner Staaten. Für die weltweit agierenden Konzerne setzen unterschiedliche Bestimmungen der einzelnen Binnenmärkte Grenzen, die ein differenziertes Geschäftsgebaren abverlangen. Die damit verbundenen Mehrkosten führen zu Gewinneinbussen, die im Rahmen einer Maximierungsstrategie ausgeräumt werden sollen. Daher fordern sie den Abbau aller Handelshemmnisse. Mit der WTO wurde ein Instrument geschaffen, die einzelnen Staaten in internationale Verträge einzubinden und deren Autonomie vorerst im Bereich ihrer Wirtschafts- und Handelspolitik zu brechen.
Da die Märkte der meisten westlichen Industrieländer bereits eine hohe Marktsättigung aufweisen (das mögliche Potential des Marktes ist weitgehend ausgeschöpft), versuchen diese nun, ihre Exporte in die noch weniger entwickelten Länder zu forcieren. Gleichzeitig stellt sich durch den Wettbewerbsdruck – oder genauer durch die Strategie der Gewinnmaximierung – die Frage nach den Produktionsstandorten neu. Die hohen Produktionskosten (Löhne, Umweltschutz, Arbeits- und Produktsicherheit usw.) in den Industrieländern veranlassen die Konzerne, ihre Produktionsstätten in Billiglohnländer zu verlagern. Diese Neuausrichtung der Beschaffungs- und Produktionsstrategie kann aber nur im Rahmen einer globalen, absolut liberalen Wirtschaftsordnung maximale Gewinne abwerfen – da auch ein hindernisloser Export der Produkte aus den Billiglohnländern in die Industrieländer gewährleistet sein muss. Die global ausgerichteten Konzerne haben daher ein enormes Interesse, sämtliche Handelsbarrieren niederzureissen, und spannen die WTO ein, den Widerstand der Nationalstaaten gegen eine globale Wirtschaftsordnung zu brechen.
Die global ausgerichtete Wirtschafts- und Handelspolitik verdrängt die Realität

Die Bilanz der Folgen durch die Globalisierung wird immer umstritten bleiben. Tatsache ist jedoch, dass Armut und Hunger auch mit der Globalisierung weiter Milliarden von Menschen plagen. Wir stellen auch fest, dass in den Industrieländern die soziale Not tendenziell steigt, die Arbeitslosigkeit weiterhin sehr hoch ist und die soziale Ungerechtigkeit sich weltweit ausbreitet. Die Verknappung der natürlichen Ressourcen, die Bedrohung der Umwelt sind weitere Fakten, die uns an die Grenzen der Ausbeutung unseres Planeten erinnern. Wir werden uns früher oder später den natürlichen Rahmenbedingungen beugen müssen, indem wir akzeptieren, dass es keine globale Einheitswelt gibt. Geographie, Klima und Kulturen geben der Welt eine Vielfalt, die sich unter anderem auch in einer unterschiedlichen Ausgestaltung der Wirtschafts-, Handels- und Versorgungspolitik niederschlagen muss. Boliviens Präsident formuliert das so: Die Welthandelsorganisation «müsste die Interessen der Entwicklungsländer respektieren, indem deren Fähigkeit zur Definition und Umsetzung nationaler Politik auf den Gebieten Landwirtschaft, Industrie und Dienstleistungen nicht eingeschränkt wird». Ich würde sogar weiter gehen und bei der WTO die Respektierung der Interessen aller Nationen einfordern.
Schweiz könnte vermitteln

Die Schweiz wäre für eine Vermittlerrolle geradezu prädestiniert. Die politische Kultur, unsere Werte und die Wirtschaftsgeschichte der Schweiz könnten der Schweizer Delegation als Verhandlungsleitfaden dienen. Die vielfältige Branchenstruktur, das feingliederige Netz mit einer guten Durchmischung von grösseren, mittleren und kleineren Unternehmen mit einem hohen Anteil an gewerblichen Betrieben bilden die Grundlage für eine sehr robuste, auf die kleinräumige und regionale Versorgung ausgerichtete Wirtschaft. Eine Wirtschaft, die gerade wegen ihrer Stärke auf dem Heimmarkt die Fähigkeit entwickelte, auch auf den internationalen Exportmärkten erfolgreich zu bestehen. Diese ausgeprägten Stärken der Schweizer Wirtschaft könnten – abgestimmt auf die nationalen Bedürfnisse – anderen Volkswirtschaften als Modell dienen.
Bundesrätin Doris Leuthard bedauerte das Scheitern der WTO-Verhandlungen in Genf und möchte die «Doha-Runde» wiederbeleben und doch noch zu einem Erfolg führen. Dies wird ihr gelingen, wenn sie sich von der Freihandels-Doktrin löst und differenzierte, auf die Bedürfnisse der Länder abgestimmte Lösungsalternativen entwickelt. In seinem offenen Brief zeigt Juan Evo Morales Ayma die Richtung zukünftiger Verhandlungsrunden auf. Warum seine Ideen nicht aufgreifen und nach Lösungen suchen, die letztlich für alle Völker von grossem Nutzen sind? •
Schutz der Menschen statt des Profits
Nutzen wir die Chance der gescheiterten WTO-Verhandlungen!

Man kann sich über das Scheitern der WTO-Verhandlungen in Genf nur freuen. Die Vertreter der USA hatten auf Grund der aktuellen Kampagne zu den Präsidentschaftswahlen nur wenig Spielraum, und das labile Gleichgewicht zwischen den Profiteuren des Nordens und den vielen Verlierern aus den Ländern des Südens haben erfreulicherweise zum Scheitern dieser Verhandlungen geführt.
Trotzdem können wir uns nicht ausruhen, denn wie allgemein bekannt ist, wird die Öffnung der Märkte in grossem Tempo über bilaterale Verträge weitergeführt. Es ist Zeit, eine breite Diskussion über die Mechanismen des Freihandels und ihre Auswirkungen auf die Gesellschaft zu führen. Es ist Zeit, Transparenz zu schaffen und der Bevölkerung mitzuteilen, wer die Gewinner des Freihandels sind. Ich staune immer wieder, wie wenig Kenntnisse über das, was man «Öffnung» der Märkte und der Grenzen nennt, vorhanden sind.
Die Auseinandersetzungen sind so hart, weil es um den Abbau von Zollschranken geht und die Länder des Nordens dafür einen hohen Preis bezahlen müssen und die Länder des Südens einen noch viel höheren. Dieser Zollabbau ist der Motor für die Standortverlegung von Firmen. Die negativen Folgen zeigen sich unter anderem auf dem Arbeitsmarkt und im Finanzsektor. Die wichtigste Auswirkung ist aber die damit verbundene Auflösung des sozialen und wirtschaftlichen Zusammenhaltes im Land. Für ein harmonisches gesellschaftliches Leben braucht es ein soziales und wirtschaftliches Netzwerk, das unserem Leben in der Gemeinschaft einen Sinn gibt. Der freie Markt mit seiner Verlagerung von Firmen in andere Länder zerstört dieses Netzwerk mehr und mehr.
Hoffen wir, dass der Misserfolg der aktuellen «Doha-Runde» dieser gefährlichen Entwicklung einen nachhaltigen Schlag versetzt und eine dem Menschen gerechte wirtschaftliche Entwicklung ermöglichen wird. Hören wir auf, hohe Preise zu kritisieren, ohne uns zuvor zu fragen, wie diese zustande kommen. Niemand stört sich an zu tiefen Preisen, obwohl viele die Sklavenhaltung der Arbeiter in den spanischen Treibhäusern verurteilen. Man kann keine Tiefstpreise erwarten und gleichzeitig ethisch tadellose Produkte fordern. Zollschranken sind nichts Ungerechtes. Sie wurden eingeführt, um die Gesellschaft zu schützen. Vergessen wir nicht, dass hinter jedem Produkt Männer und Frauen stehen, ein Leben, eine Kultur, eine Umwelt – mit Protektionismus schützen wir all dies. Unsere WTO-Vertreter öffnen nicht die Grenzen, sondern sie deregulieren.
Wenn man die Bevölkerung zuvor korrekt informiert hätte, wenn man beim Erklären der wirtschaftlichen Mechanismen von Deregulierung und Zollabbau sprechen würde, wenn man die Wahrheit gesagt hätte, wären wir nicht in diesem Schlamassel gelandet.
So wichtig wie der Rücktritt von Samuel Schmid wäre der Rücktritt von Doris Leuthard. Die Bundesratsfunktion darf nicht einer Person übergeben werden, die bereit ist, die Landwirtschaft und das ganze Land zu verhökern, um spezielle wirtschaftliche Interessen zu befriedigen.
Willy Cretegny, Satigny

PS: Im Nachgang des Referendums gegen die Agrarpolitik 2011 ist nun eine eidgenössische Volksinitiative in Vorbereitung, die auf eine Änderung der Verfassungsartikel zur Wirtschaftspolitik abzielt. Sie stellt den Freihandel in Frage und soll diesen Herbst lanciert werden.
Pressecommuniqué von «La Vrille»
vom 30. Juli 2008

Montag, 11. August 2008

Psychische Krankheit - ein Phantom

Kate Millett
Psychische Krankheit – ein Phantom (1)

Wie kann es so weit kommen, dass ein menschliches Wesen mit Ledermanschetten an einen Tisch geschnallt wird und diese Qual und Demütigung stundenlang ertragen muss? Welches Gesetz kann das jemals rechtfertigen? Wo gibt es in unserem hochgeschätzten System von bürgerlichen Rechten und Freiheiten etwas, das einen solchen Vorgang zulassen würde? Wie ist es möglich, dass Menschen durch ein Unterbringungsverfahren all ihre Rechte verlieren? Wieso werden sie durch Gerichtsverfahren unter Psychopharmaka gesetzt, wo für sie doch alles auf dem Spiel steht, sogar ihre Freiheit? Die Gesetzgebung hat kläglich versagt, Anwälte verraten ihre Klienten. Es sind PflichtverteidigerInnen; sie arbeiten – zumindest in den USA – für einen Hungerlohn, kennen ihre KlientInnen nicht und geleiten sie durch Scheinverfahren, in denen alles gegen die Opfer gerichtet ist. In solchen Verfahren beugt sich das Gesetz der Medizin; all das, wofür Rechtsprechung steht – verfassungsmäßige Garantien, Anzweiflung bloßer Behauptungen, Forderung nach Fakten und Beweisen –, wird den Ansprüchen der psychiatrischen Medizin preisgegeben. AnwältInnen verneigen sich vor den PsychiaterInnen, die einzelne Menschen »wahnsinnig« nennen. Der Verzicht auf die traditionelle gesetzliche Verpflichtung zum Beistand ist umfassend.
Bedenken Sie, wie lange Strafverfahren dauern, wie ausführlich dort Beweismaterial eingebracht wird. Denken Sie an die Schwurgerichtsbarkeit, daran, wie lange es gedauert hat, das Prinzip der zwei widerstreitenden Parteien zu etablieren, wie langsam und schrittweise verfassungsmäßige Garantien und Bürgerrechte im 18. und 19. Jahrhundert errungen wurden, die sich im 20. Jahrhundert über die ganze Welt verbreiteten. Alles wird in den paar unkontrollierten Augenblicken eines Unterbringungsverfahrens hinweggefegt.
Wie kommt es, dass der Staat über bestimmte Individuen eine solch außergewöhnliche Macht besitzt? Wo und weshalb hat unser Schutzsystem versagt? Es heißt, diese Personen seien von einer seltsamen, schrecklichen Krankheit befallen, weshalb sie gewaltsam zu behandeln seien. Daher müsse das Gesetz denen dienen, die sich mit dieser Krankheit auskennen. Gesetzliche Bestimmungen seien erforderlich, um Zwang ausüben zu können. Doch die Befugnis, diese Bestimmungen umzusetzen, liegt nicht beim Gesetz oder bei den JuristInnen, sondern bei einer anderen Gruppe von Fachleuten, denen das Gesetz zu dienen habe. Diese müssten ihre PatientInnen einsperren und ihrer Entscheidungsfreiheit berauben, was den ersten Schritt zu ihrer Heilung darstelle.
Lassen Sie uns den Begriff der Zwangsbehandlung einmal näher betrachten. Warum wird behandelt? Wegen merkwürdiger Handlungsweisen, zu lauten Redens, wegen Wut, Stress oder irrationalen Verhaltens, wegen Anstößigkeiten? Offensichtlich beziehen wir uns hier auf das Gesetz, nicht auf die Medizin. Hat diese Person einer anderen etwas zuleide getan, den Frieden gestört, jemanden gewaltsam angegriffen? Zuständig hierfür ist die Justiz. Wie kam die Medizin ins Spiel? Man sagt uns dann, es wurde zwar gegen kein Gesetz verstoßen, aber die Nachbarn beschwerten sich, die Familie sei aufgebracht. Es könnte ein Verbrechen geschehen. Unsere Gesetze erlauben es nicht, jemanden vorsorglich zu verhaften oder einzusperren. Es könnte ein Verbrechen geschehen ... aber tatsächlich wurde keines begangen. Stattdessen geht es um anstößiges Verhalten, lediglich allgemein beschrieben, nicht einmal mit eigenen Augen gesehen. Die Person ist nicht kriminell, sondern Opfer einer seltsamen Krankheit, die nur gegen den eigenen Willen geheilt werden kann. Welche Krankheit könnte es je mit sich bringen, dass die betroffene Person nicht selbst den Wunsch hat, behandelt zu werden? Im Bereich der somatischen Medizin ist Zwangsbehandlung nicht zulässig; das übliche Verhältnis zwischen Arzt und Patient basiert auf Übereinkunft, Kooperation, Unterstützung und Trost. Wesentliches Merkmal einer solchen Behandlung ist die Freiwilligkeit. Die Idee der Zwangsbehandlung ist derart absurd, ist medizinisch, juristisch und moralisch derart schwer zu rechtfertigen, dass man sich auf geheimnisvolle Umstände berufen muss.
Dem Übeltäter bzw. der Übeltäterin soll ein Behandlungsplan aufgezwungen werden. Es gibt ›interessierte Parteien‹ und Angehörige, die ein persönliches Interesse an Kontrolle haben und die für ihr feindseliges Vorgehen gegen den einzelnen auffälligen Menschen sozialen Konsens sowie Billigung und Beistand anstreben. Sie brauchen nur zum Telefon zu greifen. Die Gesellschaft ist dafür gerüstet, einen Menschen zu ergreifen und einzusperren, zu bestrafen und all seiner Rechte zu berauben. Aber noch bedarf es einer ›vernünftigen‹ Erklärung, eines Etiketts, einer Anklage, die ins Gewicht fällt. Verrücktheit genügt all diesen Anforderungen, ebenso wie Ketzerei oder politische Subversion. Gedankenverbrechen.
Zuständig hierfür ist heutzutage die Psychiatrie; sie ist der ausführende Arm sozialer Gewalt, ausgestattet mit staatlichen und polizeilichen Machtmitteln, mit Schloss und Riegel, Psychopharmaka und Folterinstrumenten. Sie verkörpert eine bestimmte Vorstellung, nämlich die Annahme, das Individuum sei Träger einer unsichtbaren Krankheit oder erblichen Belastung, die zwar pathologisch nicht nachweisbar ist, aber von ExpertInnen aufgespürt und unter Anwendung von Zwang geheilt werden kann. Durch allgemeine Zustimmung, Werbung und Propaganda gewinnt diese Vorstellung Oberhand; das Ansehen der Wissenschaft lässt sie glaubwürdig erscheinen, und die Staatsgewalt mit der überwältigenden Fülle ihrer Zwangsmittel legitimiert sie.
Die Psychiatrie, die sich selbst als Teilbereich der Medizin bezeichnet, wird zwangsläufig zum Mittel außergesetzlicher sozialer Kontrolle und staatlicher Macht, mit Befugnissen, die das Recht und all seine Garantien für das Individuum außer Kraft setzen, vielleicht sogar dem Gesetz widersprechen. Die garantierten Rechte, Ergebnis einer Jahrhunderte währenden Entwicklung, werden in bestimmten Fällen aufgehoben. Der Staat erlaubt der Familie, ihr Objekt der Unterdrückung selbst zu wählen. Als Bevollmächtigte des Staates bedient sich die Familie wiederum der Psychiatrie, denn das letzte Wort hat der Psychiater. Wollen Sie eine Verwandte einsperren, so müssen Sie immer noch einen gefälligen Arzt finden – letztlich entscheidet er. Die Tatsache jedoch, dass Familien ein Opfer präsentieren können, ist allein schon erstaunlich, eine informelle soziale Kontrolle.
Wir alle glauben doch an diese geheimnisvolle Macht, diese Krankheit, diese psychische Störung. Es kann passieren, dass Ihr Verstand einfach aufgibt, Ihre Gefühle Sie überwältigen, Sie einer konstitutionellen Schwäche unterliegen. Unsichtbare Kräfte zwingen Sie in die Knie. Und der Glaube ist alles. Glaube versetzt Berge. Man muss ihn nur ausweiten und propagieren, institutionalisieren, finanzieren, bürokratisieren, in einen blühenden Industriezweig verwandeln – Spender von Hunderttausenden von Arbeitsplätzen und ›Diensten‹.
Das System würde ohne Zwang nicht funktionieren. Wie jedes System sozialer Kontrolle basiert es letztlich auf roher Gewalt. Es gründet auch auf einer Ideologie. Hier ist die Ideologie – das medizinische Modell psychischer Krankheit – eine Perversion von Vernunft und Wissenschaft. Viele PsychologInnen und PsychoanalytikerInnen stimmen vermutlich der Auffassung zu, dass es sich beim medizinischen Krankheitsmodell um eine irreführende Analogie handelt, denn sie gehen davon aus, dass psychisches Leiden von Konflikten des Individuums mit seinem Umfeld herrührt, ob sie nun durch die persönliche Geschichte oder die gesellschaftlichen Verhältnisse bedingt sind. Mit anderen Worten, das Leben ist nicht leicht. Der Tod ist nur schwer zu verkraften, ebenso Trauerfälle, das Ende einer Liebe, vergebliche Liebesmüh, schwere wirtschaftliche Zeiten, Verlust des Arbeitsplatzes, verpasste Chancen, die verbitternde Anhäufung von Enttäuschungen aller Art. Dies ist ein Wirklichkeitsmodell, welches von Tatsachen ausgeht.
Das medizinische Modell dagegen hat keinerlei Bezug zu irgendeiner Realität, es ist nicht einmal medizinisch, obwohl es vom Ansehen der Körpermedizin profitiert und die Existenz physischen Leidens nutzt, um uns an der Nase herumzuführen und einen allgemeinen gesellschaftlichen Konsens zu erzwingen, legal oder am Gesetz vorbei. Letzten Endes handelt es sich um einen gesellschaftlichen Mythos, der über den Akt des Unterbringungsverfahrens sowohl dem Staat als auch der Psychiatrie enorme Macht überträgt.
Es gibt kaum Länder, in denen nicht formell oder informell, öffentlich oder privat die Vorstellung von der Existenz psychischer Krankheit und deren Pendant der psychischen Gesundheit Bausteine des Glaubenssystems geworden sind. Psychische Krankheit ist ein Haushaltstitel der Regierung, ein Ministerium, eine Verwaltungsabteilung, eine Unterabteilung jeder Bürokratie auf bundesstaatlicher, Länder-, Kreis- und kommunaler Ebene.
Einige Menschen stellen sich vor, dass psychische Krankheit wie eine Lungenentzündung diagnostiziert werden kann, epidemisch wie AIDS auftritt und wie Krebs potentiell erkennbar und irgendwann auch heilbar sein wird. Unsere gemeinsame Überzeugung von der Existenz psychischer Krankheit ist mysteriös und wunderlich. Zu Beginn des 21. Jahrhunderts und nach mehreren Jahrhunderten wissenschaftlicher Entdeckungen und dem Triumph wissenschaftlicher Erkenntnisse bleibt sie durch und durch glaubensbedingt und unwissenschaftlich. Wir glauben einfach daran, ohne jeden Beweis für das, was wissenschaftlich unter Krankheit zu verstehen ist. Damit meine ich die Pathologie. In der Medizin gibt es keine Störung oder Erkrankung ohne Pathologie, und pathologische Veränderungen sind etwas, was beobachtet und nachgewiesen werden kann. Körpermedizin und Wissenschaft überhaupt beruhen größtenteils auf Beweisen. Es gibt Erreger, es gibt Bluttests, es gibt Antikörper, es gibt Schwellungen und Körperflüssigkeit, es gibt Ödeme und Zelldeformation. Es gibt Erkrankungen des Gehirns und des Nervensystems, deren Existenz nachgewiesen werden kann: Tumore, Lähmungen, Alzheimerkrankheit, Chorea Huntington. Dies sind wirkliche Krankheiten, tatsächlich nachweisbar.
Wenn wir jedoch von psychischer Krankheit sprechen, meinen wir eine Vielzahl sogenannter Krankheiten, für die keine pathologischen Vorgänge nachgewiesen sind, auch wenn man schon über hundert Jahre an sie glaubt. Schizophrenie ist die bedeutendste psychische Krankheit, gefolgt von manisch-depressivem Irresein. Gleichzeitig ist man sich selbst unter Psychiatern über deren eigentliche Existenz nicht immer einig. Und innerhalb der klassischen Psychologie fällt der Nachweis von Krankheiten oder Störungen auch nicht leichter, denn es gibt in der Psychologie kein Verfahren, mit dem man Krankheiten nachweisen kann. Es gibt nur das Verhalten.
Jemanden für psychisch krank zu erklären, weil er bzw. sie auf eine bestimmte Art handelt oder sich verhält, ist etwas völlig anderes, als eine Krankheit festzustellen, für die es physiologische Anhaltspunkte gibt. Verhalten als Indiz für eine Krankheit ist kein objektiver Tatbestand – es ist darüber hinaus auch deswegen subjektiv, weil Verhalten eine Sache von Beobachtung und Interpretation ist. Kurz gesagt, was für den einen Menschen verrückt ist, ist für den anderen erklärbar, ja sogar vernünftig. Was dem einen abscheulich ist, hält der andere lediglich für schlechte Manieren, und ein Dritter mag das Verhalten sogar witzig finden. Das Urteil hängt davon ab, wer beobachtet, mehr noch von der Haltung, die der Beobachtung zugrunde liegt: Eigennutz, Boshaftigkeit, ein Hang zur Zwangsausübung, Wut, Missbilligung, das Bedürfnis andere zu kontrollieren, zu strafen, zu erniedrigen.
Mit der Lungenentzündung ist es anders: Wir haben sie oder wir haben sie nicht. Und wenn wir sie haben, wollen wir eine Behandlung. Wenn wir beschuldigt werden, psychisch krank zu sein, stehen wir unter Anklage, sind Opfer einer Verleumdung, sind in Verteidigungsposition und unfähig, uns selbst zu verteidigen gegen einen Vorwurf, dessen pure Existenz unsere Schuld beweist. Anders bei der Lungenentzündung: niemand wird vorgeladen, um die Erkrankten vor Gericht anzuklagen und einen Richter davon zu überzeugen, dass die PatientInnen schuldig sind, da sie voller Keime stecken. Wir werden nicht isoliert und vor FreundInnen gedemütigt, verlieren nicht die Arbeit und das Sorgerecht für die Kinder. Lungenentzündung tut keinem Menschen so etwas an.
Die Vorstellung von psychischer Krankheit ist simpel: Man nehme psychisches Leid als Beweis für eine Krankheit, auf die nur eine hochspezialisierte und gutbezahlte Gruppe von Heilern – fast schon eine Priesterschaft – einwirken kann. Und man sei nicht sparsam mit drastischen Maßnahmen. Man benutze Psychopharmaka, Grausamkeit und Schrecken, Einkerkerung und elektrischen Strom für das Gehirn. Bloße Gesprächstherapie ist zu einfach, so wie auch Gespräche, Freundschaft oder Beratung zu primitiv sind, braucht man dazu doch weder Rezept noch Lizenz.
Menschliches Elend, Ungewissheit, Lebenskrisen, die schmerzhaften Prozesse, durch die wir uns voneinander trennen, wachsen, Neues schaffen, uns verändern oder Entscheidungen treffen ... all das sind Zeiten der Verwundbarkeit. Von Seiten unserer Umwelt oder aus unserem Inneren regt sich Widerstand. Wir sind uns unserer selbst unsicher, als Mann oder als Frau, als Liebende, Bruder oder Schwester, Kinder oder Eltern; wir können verwirrt sein, überwältigt, beschämt, eingeschüchtert, geschwächt oder erniedrigt. Ganz besonders dann, wenn wir davon überzeugt wurden, die eigenen Gefühle, Reaktionen und Beweggründe nicht zu kennen, die eigene Urteilskraft unzuverlässig und unsere psychischen Prozesse falsch zu finden. Dann erkläre man das Menschsein an sich zum medizinischen Problem, definiere die Psyche als eine Abfolge von mysteriösen Unwägbarkeiten und behaupte, es handle sich um ein chemisches Konstrukt von unsicherem Gleichgewicht, um ein Rätsel, dem wir ausgeliefert sind. Nur die Psychiatrie kann diese instabile Mixtur in Ordnung bringen – mit Psychopharmaka, deren Wirkungsweise nicht einmal die Doktoren verstehen, von denen sie aber behaupten, dass sie uns nicht schaden.
Wir haben es hier mit Stigmatisierung und Zwang zu tun, mit Staatsgewalt und Kontrolle und mit multinationalen Pharmakonzernen, die bereitstehen, ihre Profite aus der Zwangsverabreichung psychiatrischer Psychopharmaka an die Opfer dieser mysteriösen Krankheiten zu ziehen, und zwar sowohl wenn diese gegen ihren Willen eingesperrt sind als auch nach deren Entlassung, die in Wahrheit nur vorübergehend und auf Probe ist. Freiheit, Leben, Nahrung, Obdach und Beschäftigung hängen allesamt davon ab, ob sich ein Mensch unterwirft und durch die Psychopharmaka stigmatisieren und zu einem Behinderten machen lässt.
Mit diesen Psychopharmaka ist weniger Medizin gemeint, eher Medikation. Diese stellt ruhig, stumpft ab, macht träge oder hektisch, vermindert oder erzeugt Stress, stört die Konzentrationsfähigkeit und verzerrt die Wahrnehmung, verhindert vernünftiges Denken. Sie tut das, was Psychopharmaka eben tun: sie entstellen, aber sie heilen nicht, wie auch, wenn gar keine Krankheit vorliegt. Psychische und emotionale Belastungen und Beschwerden sind nun mal natürliche Bestandteile des menschlichen Lebens und keine Krankheitssymptome.
Peter Breggin (1990) hat eine umfassende Darstellung von Forschungsarbeiten über Schädigungen publiziert, die durch Neuroleptika wie Haloperidol (im Handel u. a. als Haldol, Haloper, Sigaperidol), Chlorpromazin (im Handel u. a. als Chlorazin, Propaphenin), Thioridazin (im Handel u. a. als Melleril) oder Fluphenazin (im Handel u. a. als Dapotum, Lyogen, Lyorodin) verursacht werden – Psychopharmaka, die PatientInnen ›freiwillig‹ nehmen sollen, wenn sie ihre Sozialunterstützung nicht verlieren wollen. Breggin beschäftigte sich mit den Auswirkungen solcher Substanzen auf die höheren Hirnfunktionen, außerdem fasste er Untersuchungen des Hirngewebes sowie Tierstudien zusammen. Er fand heraus, dass neuroleptikabedingte Hirnschäden häufig durch die Wirkung der Psychopharmaka selbst kaschiert werden und daher erst während des Entzugs, wenn der Schaden bereits irreversibel ist, zum Vorschein kommen. Das kann zu lebenslanger Neuroleptika-Einnahme führen. Breggin beschreibt auch, wie psychiatrische Psychopharmaka das Gehirn gewissermaßen schrumpfen lassen und über die kurzfristige Ruhigstellung und Behinderung intellektueller Prozesse hinaus bleibende kognitive (die Denkfähigkeit betreffende) Defizite verursachen. Er nennt die seuchenartige Ausbreitung der neuroleptikabedingten tardiven Dyskinesien (oft irreversible Bewegungsstörungen) eine physisch bedingte »iatrogene (vom Arzt verursachte) Tragödie« und appelliert an die Ärzteschaft, die Verantwortung für die Schädigungen zu übernehmen, die Millionen von Menschen in der ganzen Welt erleiden. Neben Stoffwechsel- und Herz-Kreislauf-Erkrankungen ist bei neu entwickelten Clozapin (im Handel u. a. als Clopin, Elcrit, Lanolept, Leponex)-artigen (›atypischen‹) Neuroleptika wie Zyprexa (Wirkstoff Olanzapin) oder Sertolect (Wirkstoff Sertindol) insbesondere mit tardiven Psychosen zu rechnen: der Verschlechterung oder Chronifizierung von psychotischen Zuständen als Resultat behandlungsbedingter Rezeptorenveränderungen – ein Schaden, auf den Robert Whitaker (2002, S. 253 – 286) und Peter Lehmann (1996, S. 99 – 104; 2003) aufmerksam machen.
Im Gegensatz zum medizinischen Modell respektiert das humanistische und psychologische Modell die Menschenrechte, insbesondere im Hinblick auf Einweisung und Zwangsbehandlung. Aber dieses Modell ist in unserer Gesellschaft nicht gebräuchlich.
So gesehen wirkt das medizinische Modell sowohl niederträchtig als auch töricht. Es ist eine Laienreligion, aber auch eine massive Bedrohung unserer Rechte ebenso wie unserer Fähigkeit, mit Logik und Verstand solch komplizierte Dinge wie Medizin und Krankheit zu betrachten. Das medizinische Modell lehrt die ursächliche Vorbestimmtheit allen Geschehens: Freiheit und Verantwortung, gut und böse, Wahlmöglichkeit und Vernunft werden von ihm ausgelöscht. Das hat enorme politische Auswirkungen. Wir werden geführt und kontrolliert. Wir werden auf Linie gebracht, korrigiert und geleitet von Sozialbürokratien, der gewaltigen Kreatur der Staates, Anstalten, gemeindepsychiatrischen Einrichtungen oder privaten Kliniken.
Hinter den Vorstellungen von psychischer Gesundheit und psychischer Krankheit steckt eine gigantische Industrie mit Hunderttausenden von Arbeitsplätzen, mit Zuschüssen und Ausgaben, Doktoren, Krankenschwestern und -pflegern, ein totales Überwachungssystem mit geschlossenen Abteilungen und entsprechenden Hilfsmitteln, Sicherheitspersonal und technischen Vorrichtungen, Herstellerfirmen von Gerätschaften für Fixierung, Überwachung und Elektroschocks; schließlich ist da noch die Pharmaindustrie selbst, zusammen mit der Rüstungsindustrie weltweit der größte und ertragreichste Industriezweig. Im Umfeld gibt es Tausende von Zulieferfirmen, Zeitschriften und Bildungseinrichtungen, die Anerkennungs- und Beglaubigungsbürokratie, Aktenverwalter und andere Büroangestellte, Tagungsstätten und Ausbildungszentren, Bauunternehmer und Wartungspersonal, die ganzen Ausstattungsfirmen und Geldgeber, Versicherer und schließlich Rechtsberater und Buchhalter.
Ständig ertönt der Ruf nach mehr Geld, nach mehr Forschung zu psychiatrischen Krankheiten, nach mehr Einrichtungen zur Unterbringung und Absonderung, nach größerem Spielraum bei Einweisung und geschlossener Unterbringung. Gleichzeitig wird mit erbärmlicher Heuchelei die salbungsvolle Bitte vorgetragen, doch mehr Toleranz und Verständnis aufzubringen, wobei noch weitergehende Krankheitsvorstellungen gezimmert werden, dass wir alle mehr oder weniger Keime psychischer Krankheit in uns tragen und einer immer umfassenderen und tiefgreifenderen Behandlung bedürfen.
In all dem stecken so viel Geld und Macht, Arbeitsplätze und Karrieren, dass die Kirche mit ihren sozialen Normen als mächtigste Einrichtung zur Kontrolle der Gesellschaft in den Schatten gestellt wurde. Darüber hinaus sind die psychiatrischen Kriterien gesetzlich abgesichert und juristisch durchsetzbar; das heißt im Unterbringungsverfahren geht es um Freiheit und Gefangenschaft. Dies gilt auch für die Psychiatriegesetze und die Vormundschaft, heute ›Betreuung‹, die einem Individuum die Fähigkeit abspricht, selbstständig persönliche Entscheidungen zu treffen. Alles, was sein weiteres Schicksal betrifft, wird von Dritten entschieden. Eine Person, die der psychischen Krankheit überführt wurde, existiert rechtlich nicht mehr, ihr selbstständiger Status und ihre persönliche Identität sind ausgelöscht: Das betrifft alle Bereiche der Lebensgestaltung und des Selbst.
Der Glaube an eine eingebildete, trügerische Krankheit ist fest verankert. Die sozialen Kontrollmöglichkeiten sind – zufällig oder absichtlich – derart überwältigend, dass ihr Missbrauch nicht etwa ungewollt ist, sondern bewusster Bestandteil des Konzepts. Ergebnis und tatsächlicher Zweck ist die Schaffung zwanghafter sozialer Konformität. Sogar die Inquisition verblasst neben solchen Erfindungen. Es ist nicht leicht, an den Terror heranzureichen, der von elektroschockbedingten Krampfanfällen, von Vierpunktfixierungen und massiven Spritzen verstandestötender Psychopharmaka ausgeht. Dieses System ermöglicht die Anwendung totalen Zwangs und schafft völlige Hilflosigkeit.
Natürlich ummanteln soziale Institutionen im Allgemeinen solche Aktivitäten. Normalerweise sind sie in das Alltagsleben integriert, werden als gegeben hingenommen, als unvermeidbar oder nützlich akzeptiert, als allgemeiner Bestandteil unserer Zivilisation oder gar als Erlösung. Bedenken Sie die Macht und die Struktur der staatlichen Psychiatrie, einer Einrichtung, deren Geltungsbereich, Größe und Komplexität, Ausweitung und Effizienz von internationalem Zuschnitt ist. Bedenken Sie den Einfluss der Psychiatrie in Schulen und Universitäten, in unserem gesamten Beschäftigungssystem, ihren Einfluss auf alle Fragen unserer Gesundheitsversorgung, auf das Wohlfahrtssystem, auf öffentliche Hilfe, staatliche Subventionen, auf das private Miteinander. Vor allem aber bedenken Sie die kulturelle Akzeptanz und die gesellschaftliche Anerkennung der Psychiatrie, die hehren Ziele der ›helfenden Berufe‹, laut sozialem Konsens höchst ehrenwerte und von größter Nächstenliebe geprägte Ziele. Ist deren Mission nicht göttlich, nicht heilig, dann wenigstens vornehm und edel, eine Offenbarung wissenschaftlicher Wahrhaftigkeit, unsere moderne weltliche Religion. Wenn es sich auch um eine Pseudowissenschaft handelt: der Wunsch, daran zu glauben, hat die Suche nach Fakten und Beweisen ersetzt. Behauptungen werden als Tatsachen akzeptiert.
Wie kann eine Einbildung die Macht des Faktischen erlangen? Dadurch, dass die Beherrschten an sie glauben und sie billigen. Wie jeder Aberglaube hat auch dieses System aus Gedankenkonstrukten enorme Macht. Aber da es auf Panzerglas, Schlüsseln und Polizeigewalt beruht, wäre diese Macht auch existent, wenn wir nicht an sie glaubten. Trotzdem bekommt sie durch unseren Glauben noch größeren Einfluss. Gottgleiche Macht hat sie gehabt für uns, die wir physisch und psychisch ihre Gefangenen waren.
Wir sind Überlebende eines der übelsten Unterdrückungsapparate, die je entwickelt wurden, seine Opfer ebenso wie seine KritikerInnen. Wir müssen die Wahrheit erzählen und klarstellen, dass psychische Krankheit ein Phantom ist, sowohl intellektuell als auch wissenschaftlich, aber auch ein System zur sozialen Kontrolle von noch nie da gewesener Gründlichkeit und Allgegenwart. Es ist unsere Aufgabe, dieses Phantom als solches bloßzustellen und uns alle zu befreien – denn wir alle werden vom Phantom psychische Krankheit eingeschüchtert, eingeschränkt und unterdrückt. Wir setzen Vernunft gegen Irrtum und Aberglauben, Phantasie gegen Anpassung und Unterdrückung. Was für ein Glück, an einem solchen Kampf für Freiheit und Menschenrechte teilzuhaben.

Literatur
Breggin, P. R.: »Brain damage, dementia and persistent cognitive dysfunction associated with neuroleptic drugs: Evidence, etiology, implications«, in: Journal of Mind and Behavior, Bd. 11 (1990), S. 425 – 463
Lehmann, P.: »Schöne neue Psychiatrie«
Bd. 1: »Wie Chemie und Strom auf Geist und Psyche wirken«, Berlin: Antipsychiatrieverlag 1996
Lehmann, P.: » :Atypische 9 Neuroleptika, typische Unwahrheiten«
in: Pro Mente Sana Aktuell, 2003, Nr. 1, S. 16 18; online unter http://www.antipsychiatrieverlag.de/artikel/gesundheit/atypische.htm
Whitaker, R.: »Mad in America«,
Cambridge: Perseus Publishing 2002
Aus dem Amerikanischen von Ulrike Stamp und Rainer Kolenda

Fußnote
(1) Dieser Artikel basiert auf einer Vorlesung zum Thema Justiz und Medizin, die Kate Millett 1992 an der Juristischen Fakultät der Law of Queen’s University of Kingston, Ontario/Kanada, hielt. Kate Millett überarbeitete ihre Vorlesung und veröffentlichte sie unter dem Titel »Legal rights and the mental health system« im Queen’s Law Journal, Bd. 17 (1992), Nr. 1, S. 215 – 223. Diese Version ist eine gekürzte und aktualisierte Fassung.