Montag, 10. Dezember 2007

Das Trauma der Palästinenser

Das Trauma der Palästinenser

Es gibt zwei Arten von Geschichtsschreibung. Die eine ist mit Idealisierung und Heldenverehrung befasst, die andere mit der Aufklärung unterdrückter oder vergessener Ereignisse. Zur zweiten Klasse gehört der israelische Historiker Ilan Pappe, der die Vertreibung von 800'000 Palästinensern in der Zeit zwischen September 1947 und Sommer 1949 durch Israel untersucht hat. Verbunden damit waren Massaker, Mordanschläge, Vergewaltigungen, Plünderungen, Enteignung von palästinensischem Besitz und Aneignung durch Juden. Pappe spricht von einer "ethnischen Säuberung".

Den Ereignissen vor und nach der Gründung des Staates Israel lag die Absicht zugrund, rein jüdische Mehrheitsverhältnisse herzustellen. Jede Erinnerung an die arabische Vergangenheit sollte gelöscht werden. Pappe gebraucht dafür den Begriff "Memorizid".

In der jüdischen Historiografie ist dieser schwarze Fleck in der Geschichte des Landes kaum ein Thema. Israel ist es auf erfolgreiche Weise gelungen, sich als Opfer des palästinensichen Terrors darzustellen, ohne die begangenen "Gräueltaten" (Pappe) zu erwähnen und auf das von den Palästinensern erlittene Trauma ("Nakba") einzugehen. Juden sollten dieses Schicksal in Erinnerung an den Holocaust verstehen können. Aber die Geschichte geht bis in unsere Tage weiter, wie die fortschreitende Besiedlung Westjordanlands oder die Aussagen des israelischen Politikers Avigdor Liberman zeigen.

Das erklärte Ziel scheint dabei die Rückkehr der Juden in das biblische Gelobte Land (Eretz Israel) und die Beseitigung der alten (arabischen) "Fremdherrschaft" zu sein. Unberücksichtigt bleibt jedoch, dass die biblische Besitzergreifung des Landes durch die Juden nach der Gefangenschaft in Ägypten auf der Grundlage eines Genozids an Hethitern, Amoritern, Kanaanitern, Pheresitern, Hevitern, Jebusitern, die bis dahin dort ansässig waren, erfolgt ist (Fünftes Buch Moses, Buch Josua).

Man muss die Vertreibung der Palästinenser, in der Pappe ein Verbrechen an der Menschlichkeit sieht, in seiner Tragweite kennen und in Betracht ziehen, um die Ursachen des israelo-palästinensischen Konflikts zu verstehen.

Das ist Pappes Absicht. Israel muss sich seiner Vergangenheit stellen, fordert er. Neben der Rückgabe des besetzten Landes besteht für ihn die Hauptfrage im Recht der Vertriebenen auf Rückkehr. Solange das nicht erfüllt ist, wird es keinen Frieden im Nahen Osten geben, sondern nur Anläufe von Friedensrhetorik ohne Folgen.

Pappe sieht noch ein "Fenster der Chance" geöffnet, aber er spricht auch von einer tickenden Zeitbombe. Wenn es keine Lösung gibt, wird sich ein Sturm erheben, der auch, so sagt er, in Grossbritannien und den Vereinigten Staaten wüten wird, "jenen Mächten, die den Sturm schüren, der uns alle zu verderben droht".

P
appes Buch "Die ethnische Säuberung Palästinas" (erschienen bei Zweitausendeins) ist sein "J‘accuse!" Es ist ebenso persönlich aufrichtig wie ideologisch unabhängig. Die Quellen scheinen vertrauenswürdig zu sein (unter anderem wird aus den Tagebücher von David Ben Gurion zitiert). Mit seinen aneckenden Meinungen geriet Pappe in Konflikt mit der Universität Haifa. Er lehrt heute Geschichte in Exeter in Grossbritannien.


Aurel Schmid, 3. Dezember 2007

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