Mittwoch, 26. Dezember 2007

Der christlich-jüdische Dialog - Aufklärung oder Verzerrung?

BASEL/INTERVIEW - B'nai B'rith ehrt Professor Ekkehard Stegemann für seine Verdienste
«Aufklärung bleibt das einzige Mittel gegen eine verzerrte Wahrnehmung»

Dem Basler Theologieprofessor Ekkehard Stegemann wurde in einer öffentlichen Zeremonie die Goldmedaille «For Distinguished Leadership and Service for Humanity» des europäischen B'nai B'rith überreicht. Stegemann wird für seinen unermüdlichen Einsatz im christlichen-jüdischen Dialog, sein Bemühen um die Aufarbeitung und das Bekämpfen des Antisemitismus sowie für die Verankerung judaistischer Studien an den Schweizer Universitäten geehrt. Mit Professor Ekkehard Stegemann unterhielt sich Chefredaktor Simon Erlanger.

JÜDISCHE RUNDSCHAU: Sie sind aktiv im christlich-jüdischen Dialog und der Aufarbeitung des kirchlichen Antisemitismus tätig. Worin sehen Sie Ihre Aufgabe?

EKKEHARD STEGEMANN: Da ich ja Theologe bin, ist es für mich entscheidend, dass ich mich mit der antijüdischen Tradition des Christentums auseinandersetze. Da ich aber zugleich historisch informiert bin, weiss ich, dass es einen Zusammenhang gibt zwischen dem modernen, politischen, rassistischen und eliminatorischen Antisemitismus der Nazis und eben denselben Wurzeln in der antijudaistischen Tradition des Christentums. Meine Aufgabe sehe ich darin, nicht nur gegen Antisemitismus in wissenschaftlichen Zusammenhängen in der Öffentlichkeit Stellung zu nehmen, sondern auch an der Aufklärung dieses Phänomens zu arbeiten. Ich denke, Antisemitismus stellt nicht nur die Frage nach dem Verhältnis von Nichtjuden zu Juden, sondern hat mit der westlichen Kultur überhaupt zu tun.

Sie kommen von der neutestamentlichen Lehre und Forschung her. Wie sind Sie auf das Thema des Antisemitismus gekommen? Ist er gewissen kirchlichen Lehren inhärent?

Ja, das denke ich. Früh habe ich angefangen, mich damit zu beschäftigen. Ich bin sechs Monate nach Ende des Zweiten Weltkrieges in Deutschland geboren und in einer Welt sozialisiert worden, in welcher der Faschismus ideologisch noch gar nicht überwunden war. Bis in die Schule hinein bin ich immer wieder auf antijüdische Stereotypen gestossen und habe dann immer stärker gesehen, dass es da eine gar nicht so unterirdische Verbindung zum Christentum gab. Ich habe auch schon zu Beginn meines Theologiestudiums versucht, über das Judentum zu lernen. Ich hatte in Heidelberg einen jüdischen Lehrer, bei dem ich Talmud und Midrasch gelernt habe. Er war ein Überlebender von Auschwitz, und ich habe dann eine sehr enge Beziehung zu ihm gehabt. Dank ihm habe ich immer deutlicher die Differenz zwischen der Wirklichkeit und der verzerrten Perspektive kirchlicher Traditionen wahrgenommen. So hat er, als meine erste Talmudstunde über den Traktat «Nesikin» begann, zu mir gesagt: «Wissen Sie, Herr Stegemann, Sie beschäftigen sich ja mit dem Neuen Testament, ich bin eben ein Pharisäer, damit Sie's klar wissen», das war eine ganz wichtige Erfahrung. Ich habe gemerkt, da stimmt etwas nicht! Durch diese persönliche Bekanntschaft konnte ich die Verzerrungen des Neuen Testaments bezüglich der Pharisäer nicht mehr glauben, und so habe ich dann begonnen, mich mit diesen Dingen auch wissenschaftlich auseinanderzusetzen.

Sie haben den Ausdruck von der «antisemitischen Grundierung» der Gesellschaft geprägt. Können Sie das etwas erläutern? Es ist ja so, dass die Gesellschaft heutzutage nur noch bedingt christlich ist.

Ja, das ist so. Aber in der europäischen, durch das Christentum geprägten Zivilisation sind die Feindbilder weiter tradiert worden. Neue Ideologien können ohne Kontakt mit traditionellen Vorstellungen ein Feindbild ohnehin nicht erzeugen. Ich glaube, das Ganze ist eine europäische Krankheit, wobei durch Verlagerung ins Säkulare die gesamte Problematik verschoben wird. «Säkulare» sollte man allerdings in Anführungszeichen setzen.

Sie weisen immer wieder darauf hin, dass der kirchliche Antijudaismus aus dem Bedürfnis des Christentums nach Abgrenzung vom Judentum zur Herausbildung einer eigenen Identität entstand.

Ich habe den Eindruck gewonnen, dass der neutestamentliche Antijudaismus, die Feindbilder, sehr stark aus sozialen und ideologischen Konflikten stammen. Hier war durchaus eine Konfliktsituation vorhanden. Deshalb habe ich die Arbeiten von Heinemann zum antiken Antisemitismus immer geschätzt, weil die zeigen, dass vor der Tradierung der Stereotype immer soziale Konflikte standen. Das Unglück ist, dass durch die Kanonisierung eben auch solche Konflikte, Abgrenzungen und negativen Bilder mitkanonisiert wurden, obschon sich die Verhältnisse zwischen Christen und Juden im Laufe der Zeit sozial völlig verändert haben. Einerseits gab es in den späteren Jahrhunderten in den Kirchen keine Juden mehr, und andererseits wurde die Stellung der Kirche zu einer Machtstellung. Aus der verfolgten Kirche wurde eine verfolgende. Da erhielten die aus den frühen Konflikten stammenden negativen Schablonen des Neuen Testamentes eine ganz andere Qualität und eine ganz andere Funktion. Da scheint mir im Kern auch ein Identitätsproblem des Christentums zu liegen.

Wenn Abgrenzung mittels negativer Stereotype zur Definition einer eigenen Identität gebraucht wird, wie weit kann dann Christentum in der Aufarbeitung des Antisemitismus eigentlich gehen, ohne sich selbst in Frage zu stellen?

Man muss so weit gehen, wie es Gerechtigkeit und Wahrheit gebietet. Der ethische Anspruch ist höher zu werten als das Festhalten an theologischen Überzeugungen. Ich glaube, dass dies auch durchaus in Übereinstimmung mit der urchristlichen Tradition steht. Insofern habe ich da keine Probleme. Aber es ist natürlich wichtig, auch auf der theologischen Ebene Geschichte und Realität des Christentums ernst zu nehmen. Ich glaube, das ist insofern ein entscheidender Punkt, als man sich klarmachen muss, dass der christliche Anspruch auch nicht eingelöst ist. Daher muss man theologisch einen neuen Zugang finden, indem man sagt, es gibt Träume und Vorstellungen von einer erlösten Welt. Es ist auch wichtig, dass man solche hat. Sie sind Gegenwelt, von der aus man das, was in der Realität nicht stimmt, als falsch feststellen kann. Aber es ist entscheidend, dass man die Gegenwelt nicht mit Realität verwechselt.

Besteht aber nicht auch die Gefahr der Vereinnahmung? Wie kann Christentum sich von antijudaistischen Traditionen lösen?

Das eigentümliche der christlichen Tradition ist ja, dass das Fundament ihres Selbst- und Weltverständnisses in der jüdischen Überlieferung ruht. Wenn man sich von der jüdischen religiösen Tradition trennen würde, dann bliebe eigentlich fast gar nichts mehr. Das heisst, dass eine permanente Selbstreflexion des Christentums über das Verhältnis zum Judentum eingebaut sein muss. Innerhalb der christlichen Tradition ist deshalb immer eine hohe Ambivalenz vorhanden. Entweder man vereinnahmt das Judentum, oder man versucht, es loszuwerden und sich vom Judentum ganz loszusagen. Beides ist nicht möglich. Man muss dankbar sein für die Überlieferung und sich damit auseinandersetzen, dass ein wesentlicher Teil des christlichen Welt- und Selbstverständnisses sich dem Judentum verdankt. Andererseits muss man aber auch deutlich sehen, dass hier eine bestimmte Adoption dieser jüdischen Überlieferung vorhanden ist, die ein eigenständiges Profil hat. Die einfache Formel, dass es Gemeinsamkeiten gibt zwischen dem Christentum und dem Judentum und daneben jeder etwas Besonderes hat, stimmt so nicht. Man muss deutlich sehen, dass sich hier eine andere Auslegungstradition herausgebildet hat, die sicher auch ihre jüdischen Wurzeln hat, aber doch eigenständig ist. Ich habe immer das Wort geschätzt, dass die Thora siebzig Gesichter, d.h. Auslegungen, hat. Religionen sind immer nur etwas Partikulares. Das Christentum ist in unserem Jahrhundert vor die Aufgabe gestellt, seine eigene Partikularität und die Platzansprüche anderer anzuerkennen, nicht nur in bezug auf das Judentum. Das ist die Grundlage für jeglichen interreligiösen Dialog.

Damit tun sich aber viele sehr schwer. Auch der christlich-jüdische Dialog geht oft nur bis zu einem gewissen Punkt und um die Kernfragen wird ein grosser Bogen gemacht.

Das Problem sehr vieler Menschen besteht darin, dass sie nicht anerkennen können, dass andere die eigene Identität nicht übernehmen wollen. Pluralismus ist für sie schwierig. Für mich hingegen hat Pluralismus dagegen aber etwas sehr Bereicherndes.

Welche Bedeutung hat der christlich-jüdische Dialog in einer säkularisierten Welt?

Wir kommen alle nicht um die Tatsache herum, dass wir in einer säkularen Welt leben. Als Theologe würde ich sagen, das Säkulare ist nicht alles. Die Säkularisierung begreife ich auch als eine hilfreiche Rahmenbedingung, durch die bestimmte ethische Massstäbe gesetzt und Wege zur Kommunikation zwischen verschiedenen Identitäten garantiert werden. Der Vorteil in einer säkularen Welt zu leben besteht darin, dass keine absoluten «Letzt»-Ansprüche gegenüber anderen geltend gemacht werden können. In der säkularen Welt gehört es zur Kultur, dass man sich seiner relativen Identität bewusst ist.

Wie schätzen Sie das vatikanische Dokument «Reflexionen zur Schoa» ein?

Zunächst würde ich sagen, dass es schon bedauerlich ist, dass nach elf Jahren Arbeit bloss so etwas sehr Gemischtes herausgekommen ist. Ich würde freilich sagen, dass man nicht nur das Negative sehen sollte, sondern auch das Positive. Aber es ist eben doch auch Kritik daran zu üben. Insbesondere finde ich unverständlich, dass nun die Kirche als eine Grösse bezeichnet wird, die als solche nicht sündigen kann. Ich halte das in der theologischen Tradition, in der ich mich bewege, für merkwürdig. Ich finde, wer sich zur katholischen Kirche bekennt, muss sich auch zu den Sünden dieser Kirche bekennen. Die Kirche besteht aus Menschen. Es waren Christen, die nicht nur bei den Verbrechen weggesehen haben, sondern diese auch unterstützt haben, bis hin zur Fluchthilfe für Nazis. Das Schweigen oder das Versagen des Papstes Pius XII. ist auch etwas, wo ich sagen muss, es gehört zur Würde der Schuldkultur, die wir aus der Bibel haben, dass man die eigene Schuld und Verantwortung auch anerkennen sollte.

Was würden Sie sich für die Zukunft wünschen?

Für die Zukunft würde ich mir natürlich wünschen, dass die Arbeit, die ich tue, überflüssig wird. Aber ich bin Realist und werde immer skeptischer. Ich sehe, dass wir eher in eine Phase von unverfrorenem Antisemitismus hineingekommen sind, nicht nur in der Schweiz, auch andernorts. Ich wünsche mir aber, dass die Möglichkeiten des Dialogs, der Verständigung und des Vertrauens, die erreicht worden sind, einigermassen Bestand halten.

Was meinen Sie mit unverfrorenem Antisemitismus?

Ich beobachte in meinem Arbeitsgebiet eine gewisse Stagnation in dem Bemühen der Aufarbeitung dieser schlimmen Tradition. Ich sehe eigentlich immer weniger die Bereitschaft in der Theologie, sich damit auseinanderzusetzen. Das macht mir schon Mühe. Es ist heute schon schwierig, für wissenschaftliche Veranstaltungen aus bestimmten Fächern, Leute zu finden, von denen man annehmen darf, dass sie darin übereinstimmen, dass Antisemitismus und antijüdische Traditionen kritisiert werden müssen. Vielleicht ist es aber bloss Gleichgültigkeit. Vor zwanzig Jahren hat es das so nicht gegeben, dass man so indifferent ist gegenüber dieser für die Christen selber so wichtigen Aufgabe.

Sie setzen sich auch sehr für die Verankerung judaistischer Studien an der Universität ein.

Es ist die Pflicht einer Universität, sich mit den jüdischen Traditionen und der jüdischen Kultur breit auseinanderzusetzen. Zur Kultur Europas gehört zentral auch die jüdische. Das hat nun in Basel sehr erfreuliche Perspektiven. Die Offenheit an der Universität ist wirklich gross. Ich hoffe aber darüber hinaus, dass nicht nur ein Institut für jüdische Studien entstehen wird, sondern dass wir auch im Bereich der Erwachsenenbildung auch in der allgemeinen Öffentlichkeit tätig werden können. Aufklärung bleibt das einzige Mittel gegen eine verzerrte Wahrnehmung des Judentums. Antisemiten wird man keine bekehren können, aber man kann andere davor bewahren, in antisemitische Fallen hineinzulaufen.

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