Donnerstag, 8. September 2011

Wie in der Schweiz mit Dissidenten umgegangen wird

«Meine Zukunft liegt auf dem Friedhof»

Von Isabelle Graber, Rosi Widmer.

Sein Kampf gegen die Behörden geht selbst im Gefängnis weiter: Er befinde sich «in einem Krieg», sagt Peter Hans Kneubühl in einem Exklusivinterview des «Journal du Jura».

Der Fall Peter Hans Kneubühl
Die Kantonspolizei Bern suchte während Tagen nach dem Rentner Peter Hans Kneubühl, der einem Polizisten ins Gesicht schoss.

Wie denken Sie im Nachhinein über die Geschehnisse am 8.September 2010?

Peter Hans Kneubühl: Das Erste, was man bei dieser Affäre verstehen muss, ist die Tatsache, dass die Polizeiaktion vom 8.September 2010 nur ein Ereignis in einer langen Kette von Ereignissen war. Ich habe mindestens zwei Jahre vorher schon gewusst, dass dies geschehen wird, und meine Voraussagen waren fast alle richtig. Dass so viele Polizisten aufgeboten würden, konnte ich allerdings nicht erraten. Am 8.September 2010 hatte die schweizerische Polizei die Gelegenheit, ihr neues Arsenal vorzuführen: Maschinenpistolen, Scharfschützengewehre, Nachtsichtgeräte, Panzerwagen, Helikopter, Videoüberwachung, fahrbare elektronische Kommandozentralen und Superhunde. Weiter hat die Polizei gezeigt, dass sie inzwischen über zahlreiche andere Möglichkeiten verfügt. Sie darf nun, ohne zu fragen, jede Wohnung konfiszieren, in jedes neue Haus einbrechen, jedes Quartier räumen und ohne Erklärung jeden beliebigen Gegenstand jedes Menschen beschlagnahmen. Weiter darf sie jedes Telefon abhören und jedes Bank-, Steuer- und Arztgeheimnis aufheben. Auch die Rechtfertigung für eine offenbar tausend Polizisten umfassende Aktion ist für den Staat kein Problem mehr. Die ursprüngliche Begründung, dass ich ein verwirrter Rentner sei, ist von der Presse und vom Volk zum grössten Teil akzeptiert worden. Inzwischen hat die forensische Psychiatrie eine noch bessere Begründung gefunden. Mit der Diagnose «wahnhafte Störung» hätte die Justiz sogar Nato-Truppen aufbieten dürfen.

Haben Sie Bedauern? Insbesondere mit dem Polizisten, den Sie verletzt haben?

Warum sollte ich etwas bedauern? Die Geschichte mit dem verletzten Polizisten habe ich am 1.Oktober 2010 zum ersten Mal gelesen – in einer Zeitung. Vorher wusste ich nichts davon, ich konnte ja keine Zeitungen lesen. Ich bin am 8.September 2010 von 200 schwerbewaffneten Elitesoldaten angegriffen worden. Ich war allein und den Angriffen hoffnungslos unterlegen. Wenn aber jemand mit Waffengewalt andere Menschen angreift, so soll er sich nicht beklagen, wenn er selber eine Beule abkriegt. Was soll das Volk denken, wenn unsere Elitesoldaten solche Heulsusen sind? Ich habe den Angriff überlebt, weil ich alles richtig gemacht habe. Hätte ich nur eine Minute lang etwas anders gemacht, so wäre ich jetzt tot. Aber natürlich war auch viel Glück dabei. Es stört die Justiz ungemein, dass ich diesen Angriff überlebt habe. Das war ganz offensichtlich nicht vorgesehen. Jetzt versucht sie, mit einem riesigen Propagandaaufwand die Wahrheit umzudrehen. Sollte man nicht eher die Polizisten fragen, ob sie es bereuen, mich angegriffen zu haben?

Wie reagieren Sie auf die Ergebnisse des psychiatrischen Gutachtens?

Nun, das ist nicht neu: Ich habe dieses Gutachten schon am 8.Juli 2011 gekriegt, hatte aber noch keine Zeit, es zu studieren. Um alles zu sagen, die Diagnose kenne ich. Ich kriegte sie schon am 17.September 2010, am Tag meiner Verhaftung, also vor jeder psychiatrischen Untersuchung. Die Diagnose selber stammt nicht von der forensischen Psychiatrie, sondern von meiner Schwester und ihrem Anwalt – dies bereits seit 2005. Nun, ich sehe, dass die 1968er-Jahre vorbei sind. Die Psychiatrie verfügt heute über eine Macht, die sich vor wenigen Jahren niemand hätte vorstellen können. Ich bin mit dem Roman von Ken Kesey «Einer flog über das Kuckucksnest» als Lieblingsbuch aufgewachsen. Bei uns gab es noch den Eid des Hippokrates. Der bedeutete noch etwas und sagte insbesondere, dass Ärzte ihr Wissen nicht für die Zerstörung von Menschen einsetzen dürfen. Diese Welt ist vollständig verschwunden, der Faschismus hat überall gesiegt. Ich bin ein sehr gewöhnlicher Mensch, und was ich getan habe, ist lächerlich banal. Trotzdem versucht der Staat, mich mit einem riesigen psychiatrischen Aufwand zum Schweigen zu bringen!

Wie verlaufen Ihre Tage im Regionalgefängnis?

Unsere Gefängnisse funktionieren nach dem gleichen Prinzip wie die Justiz und Polizei: Ein einziges Individuum versucht, allen anderen seinen Willen aufzuzwingen. Einer, der Boss, verlangt von den anderen die totale Unterwerfung. Da sich das kaum ein Mensch freiwillig gefallen lässt, herrscht im Gefängnis ständig ein Klima von unterschwelliger Gewalt, die jederzeit offen ausbrechen kann. So ist das Leben einerseits strikt reglementiert, und auf der anderen Seite völlig unberechenbar. Von 7.15 bis 8 Uhr werden die Zellen geöffnet, und es gibt Morgenessen. Dann eine Stunde im Hof spazieren. Um 11.15 Uhr Mittagessen in der Zelle. Von 17 bis 17.45 Uhr wird die Zelle wieder geöffnet, und es gibt Abendessen. An diesen Zeitplan kann man sich gewöhnen. Viel schwerer zu ertragen ist die ständige Unsicherheit. Man muss jede Minute damit rechnen, dass ohne jede Vorwarnung die Zellentür geöffnet wird und man in ein anderes Gefängnis abtransportiert wird. Die wahren Gründe dafür erfährt man kaum jemals, es gibt meistens nur Spekulationen. Oft ist es wahrscheinlich eine Strafe, weil man einem Wärter gegenüber unhöflich gewesen ist oder weil man jemandem auf der Strasse etwas zugerufen hat. Aber auch falsche Nationalität und Religion können Grund sein sowie Überbelegung des Gefängnisses. Dazu kommt natürlich der Stress durch die ständige elektronische Überwachung. Diese ständig gegenwärtige staatliche Gewalt erzeugt sehr starke Aggressionen. Nach ein paar Monaten in einem Gefängnis hat man nur noch das Bedürfnis, jemanden zu ermorden. Ich werde jede Woche mit amtlicher Post bombardiert, die ich dann innerhalb von sehr kurzer Zeit beantworten sollte. So werde ich gezwungen, mich auf das Wesentliche, den Kampf gegen die Justiz und die Psychiatrie, zu konzentrieren. Diese Arbeit ist wichtig, und sie hilft einem, ein Stück weit den Gefängnisalltag zu vergessen.

Wie sehen Sie Ihre Zukunft?

Es ist kaum möglich, etwas über meine Zukunft zu sagen. Erstens einmal bin ich alt, und meine Zukunft liegt so oder so auf dem Friedhof. Zweitens befinde ich mich in einem Krieg, der jede Woche härter wird. Wer diesen Krieg gewinnen wird, ist sehr ungewiss. Aber wie schon am 8.September 2010 werde ich auch jetzt wieder von einer grossen Übermacht angegriffen, und ich mache mir keine Illusionen über den Ausgang der Schlacht. Die Absicht der Justiz auf jeden Fall ist klar. Sie wollen mich für den Rest meines Lebens in einer psychiatrischen Anstalt versorgen und mit Drogen zum Schweigen bringen, so wie das mit Dissidenten in China, Russland, dem Iran usw. jeden Tag geschieht.

Welche Verteidigungsstrategie werden Sie verfolgen?

Mir scheint, dass damit in der Schweiz alle juristischen Möglichkeiten ausgeschöpft sind. Was bleibt, sind jetzt nur noch die Politik, die Presse und die Menschenrechtsorganisationen. Am 25.August 2011 habe ich Herrn Regierungsrat Christoph Neuhaus einen Kommentar zum Expertenbericht der Herren Uli Friederich und Martin Buchli geschickt. Dieser Brief ist aber vom Staatsanwalt abgefangen worden. Ob er ihn weiterleiten wird, weiss ich nicht. Meine letzte Hoffnung ist China. Ich hoffe, dass die chinesische Presse ebenso viel über schweizerische Dissidenten schreibt wie die schweizerische Presse über chinesische. Wer weiss, vielleicht befindet sich der chinesische Botschafter jetzt schon auf dem Weg zum Bundesrat?

(Bieler Tagblatt)