Ein Witz zu viel
Von Beatrice Schlag
Die Hälfte der Schweizerinnen und Schweizer wittert am Arbeitsplatz sexuelle Belästigung. Das zumindest behauptet eine neue Studie.
Florierender Bewusstseinsmarkt: sexuelle Belästigung am Arbeitsplatz.
«Jeder zweite Arbeitnehmer sexuell belästigt». Mit diesem und ähnlichen Titeln verstörten sämtliche Schweizer Zeitungen letzte Woche die Berufstätigen unter ihren Lesern. Eine Studie war erschienen, bestellt vom Staatssekretariat für Wirtschaft (Seco) und dem Eidgenössischen Büro für die Gleichstellung von Frau und Mann (EGB), und sie besagt in der Tat Aufsehenerregendes: Mehr als die Hälfte der berufstätigen Schweizerinnen und Schweizer haben am Arbeitsplatz sexuell Ungehöriges oder Diskriminierendes beobachtet oder mitangehört und glauben deswegen, in ihrem Betrieb drohe das Risiko sexueller Belästigungen.
Die Studie erregt die Gemüter quer durch alle Berufe. Die vorherrschende Reaktion ist ungläubiges Kopfschütteln. Man versucht, sich an einen Fall von sexueller Belästigung am Arbeitsplatz zu erinnern; es fällt einem nur ein Film mit Demi Moore ein. «Bin ich ein Depp, dass ich nichts merke?», fragt ein Bekannter aus der Elektrizitätsbranche, «vor kurzem beugte sich eine Kollegin mit ziemlich heftigem Ausschnitt am Pult über mich. Mein einziger Reflex war: ‹Jetzt ja nur kein Wort sagen.› Ist es das, was sie mit Risiko meinen? Und, wenn ja, bin ich der Belästigte, oder wäre sie es, falls ich etwas gesagt hätte?» Ein Ladenbesitzer sagt, er wisse, dass Belästigungen vorkommen, «aber Florierender Bewusstseinsmarkt: sexuelle Belästigung am Arbeitsplatz. Geschlechter Ein Witz zu viel Von Beatrice Schlag _ Die Hälfte der Schweizerinnen und Schweizer wittert am Arbeitsplatz sexuelle Belästigung. Das zumindest behauptet eine neue Studie.uns weiszumachen, die halbe Belegschaft aller Betriebe sei möglicherweise gefährdet, ist hysterisch. » Die NZZ formulierte ihre Zweifel vorsichtiger: «Eine Hinterfragung des Ausmasses weckt gleich den Verdacht, das Problem werde nicht ernst genommen. Doch lassen sich diese Schlüsse aus der telefonischen Befragung von gut 2000 Personen tatsächlich ziehen?»
Fast jeder ein Opfer
Telefoninterviews mit rund 1300 Frauen und 700 Männern aus der Deutschschweiz und der Romandie – erfahrungsgemäss werden Frauen am Arbeitsplatz weitaus häufiger belästigt als Männer – dienten der Psychologin Marianne Schär Moser und der Ökonomin Silvia Strub als Grundlage für ihre Studie. Gefragt hatten sie nach zwölf Verhaltensweisen, die laut Gleichstellungsgesetz als belästigend gelten: Sie reichen von allgemein abwertenden Sprüchen und Witzen über abfällige Bemerkungen an eine gezielte Person, obszöne E-Mails, Anrufe und Anstarren bis hin zum Begrapschen, zu sexueller Erpressung und Vergewaltigung. Die Interviewer wollten wissen, ob die Befragten sich je persönlich als Ziel solcher Verhaltensweisen belästigt oder gestört gefühlt hatten. Eine zweite Frage lautete, ob sie solch potenziell belästigendes Verhalten je18an ihrem Arbeitsplatz beobachtet hätten, ohne selber davon betroffen zu sein. Wer bejahte, im Büro schon einmal abfällige Sprüche über Blondinen, Schwule oder Dicke gehört oder ein lästiges E-Mail bekommen zu haben, fiel unter die 51 Prozent, die ihren Arbeitsplatz als Ort potenzieller sexueller Belästigung wahrnehmen.
«Ich bin erstaunt», spottete der Theologe und Sexualberater Pius Widmer in den St. Galler Nachrichten, «dass es bei dieser umfassenden Definition von sexueller Belästigung nicht 100 Prozent sind.» Wie Wimder weiss jeder Berufstätige, wovon die Rede ist: vom verbal korrekten und immer freundlichen Kollegen, dessen offensichtlich wehrloser Blick sich an jedem vorbeiwippenden Busen festsaugt; von Chefs, die in Sitzungen nach weiblichen Wortmeldungen aufjaulen, Frauen sollten sachlich bleiben und sie mit emotionalem Plunder verschonen; von Frauen, die Kollegen nicht ohne Bosheit ermuntern, doch einmal Jeans zu kaufen, in denen ihr Hintern nicht in der Nähe der Kniekehlen vermutet wird. So gefragt, wird fast jede und jeder am Arbeitsplatz zum potenziellen Belästigungsopfer. Oder zum potenziellen Belästiger. Oder beides.In den siebziger Jahren schrieb die amerikanische Feministin Susan Brownmiller in dem Bestseller «Gegen unseren Willen», dass jeder Mann ein potenzieller Vergewaltiger sei. Die Frauenbewegung rammte den Satz in den folgenden zwei Jahrzehnten in jedes Manifest und in jedes Männerhirn. Selbstkritische Feministinnen entschuldigen sich heute bei ihren Söhnen dafür. Seither misstraut man dem Wort potenziell im Zusammenhang mit Kategorisierungen. Ein potenziell belästigendes Arbeitsklima, weil jemand einen geschmacklosen Witz zu viel mitgehört hat? Solche Alltäglichkeit schreit nach mehr Augenmass und notfalls nach einem beherzten Anschiss, nicht nach einer Heerschar von Beratern, die Seco und EBG nun nach Zusatzausbildungen in den florierenden Bewusstseinsmarkt zu integrieren hoffen. In der Schweiz flächendeckenden Handlungsbedarf in Belästigungsprävention auszumachen, ist Hohn all jenen gegenüber, die realer Belästigung am Arbeitsplatz ausgesetzt sind.
Denn natürlich gibt es sexuelle Belästigung. Und wer zur Kündigung keine Alternative hat, sich dagegen zu wehren, ist elend dran. In einem leeren Lokal hinter dem Bahnhof in Zürich, es war ein kalter Nachmittag, wollte ein Grüppchen Journalisten Kaffee fertig bestellen. Die Kellnerin brachte die Karte.
Unter der Rubrik «Kaffee Schnaps» war ein «Kafi Tischhöchi» aufgelistet. Einer fragte, was das sei. Die Kellnerin stand immer noch am Tisch. Sie schwieg. «Jetzt schauen Sie doch einmal, was bei Ihnen grad auf Tischhöhe ist», rief der Wirt hinter der Bar hervor, «dasch en Kafi mit Pflümli.» Die Kellnerin schaute mit erfrorenem Gesicht über die Gäste hinweg. Sie hatte den Scherz schon hundert Mal ertragen. Aber sie war etwa sechzig. In ihrem Alter bekommt man keine Jobangebote mehr.
11,3 Prozent der im Rahmen der Studie Befragten gaben an, sich seit Beginn ihres Erwerbslebens schon einmal sexuell belästigt gefühlt zu haben. Bei der Frage, ob sie in den letzten zwölf Monaten am Arbeitsplatz sexuell belästigt worden seien, sank die Quote auf 1,2 Prozent; weitere 5,4 Prozent hatten sich im letzten Jahr durch Verhaltensweisen weniger belästigt als gestört gefühlt. Die Unterscheidung zwischen belästigt und gestört ist juristisch irrelevant: «Im Alltag versteht man unter sexueller Belästigung häufig eine direkt auf eine Person bezogene körperliche Verhaltensweise wie Betatschen oder sexuelle Erpressung», sagt Marianne Schär Moser, «aber der Gesetzesbegriff sieht anders aus. Als sexuelle Belästigung gilt, was von der belästigten Person als solche empfunden wird. Aber jemand kann sich auch sonst gestört fühlen, und es hat rechtliche Gültigkeit.»
Die Zahl real belästigter oder auch nur unangenehm irritierter Arbeitnehmer – 28,3 Prozent Frauen und 10 Prozent Männer – rechtfertigt zweifellos die Forderung nach geschäftsexternen Ansprechpartnern, an die sich Belästigte wenden können, ohne negative berufliche Konsequenzen fürchten zu müssen. Aber notwendig sind weder betriebseigene Anlaufstellen noch neue Verhaltens- und Bekleidungsvorschriften. Dass Chefs bei Gesprächen mit weiblichen Angestellten die Bürotür nicht mehr schliessen und in vielen Betrieben den Lift nur allein benutzen, darf gerne auch weiterhin ein US-Auswuchs sexueller Betriebskorrektheit bleiben. Entscheidend sind Vorgesetzte, die klarmachen, dass sie sexuelle Belästigung in ihrem Betrieb nicht hinnehmen und jede Beschwerde verfolgen werden. Im Übrigen ist es gut, daran zu erinnern, dass unter den Gründen, die Belästigte für ihr Malaise anführen, vor allem allgemeine, nicht an sie gerichtete Sprüche, Gesten und Blicke sind. Sexuelle Erpressung, Übergriffe und Vergewaltigung werden von 0,6 Prozent der Belästigten genannt. Nur hundert Fälle von sexueller Belästigung am Arbeitsplatz wurden seit Inkrafttreten des Gleichstellungsgesetzes 1996 von Gerichten oder Schlichtungsstellen behandelt. Das ergibt ein deutlich anderes Signal als der 51-Prozent-Fanfarenstoss, der die Studie in die Medien blies. Studien-Mitverfasserin Marianne Schär Moser findet es dennoch richtig, der fragwürdigen Zahl Gewicht zu geben: «Es sind Verhaltensweisen, die das Risiko bergen, sexuelle Belästigungen zu werden. Man darf nicht sagen, nur gravierende Dinge wie Vergewaltigung oder sexuelle Erpressung seien schlimm. Ein sexuell belästigendes Arbeitsklima, in dem ‹nur› Sprüche, Witze, Gesten und Blicke stattfinden, kann sehr gravierend sein. Es hat Auswirkungen auf das Arbeitsklima und damit auf die Produktivität des Unternehmens. Man hat hier nicht etwas herzureden versucht, das es nicht gibt.»
Pascal Couchepin war ganz ihrer Meinung. Sexuelle Belästigung, sagte er, als er die Studie den Medien vorstellte, vergifte nicht nur das Leben Zehntausender Arbeitnehmer, es wirke sich auch negativ auf die Wirtschaft aus. Der Bundespräsident wusste nicht, wovon er redete. Er habe, sagte der 65-Jährige, persönlich in seinem ganzen Arbeitsleben nie einen Fall von sexueller Belästigung miterlebt.
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