Sonntag, 10. Februar 2008

Propaganda - Das Mittel zur Abschaffung der Demokratie

Von Peter Glotz

Diese Studie untersucht die Entwicklung der Propagandaforschung im 20. Jahrhundert aus wissenschaftsgeschichtlicher Perspektive. Das ist ein neuer Ansatz in der Erforschung eines alten Themas, denn die vorliegenden Überblickswerke systematisieren Propaganda in Anlehnung an die sie betreibenden Institutionen - wie etwas das berüchtigte Reichsministerium für Volksaufklärung und Propaganda - oder erheben einzelne Kriege und Propagandakampagnen zu ihrem Gegenstand. Das Ziel von Thymian Bussemer geht darüber hinaus. Er will von der Geschichte der Propaganda zu ihrem inneren Kern vordringen, will herausarbeiten, was Propaganda als kommunikative Technik im politischen Raum ausmacht, und unter welchen Bedingungen sie Wirkungsmacht entfaltet.

Gleichzeitig verfolgt Thymian Bussemer einen wissenssoziologischen Ansatz. Er betreibt Kommunikationsgeschichte als Theoriegeschichte und analysiert auf der Basis einer großen Materialfülle die verschiedenen Versuche im letzten Jahrhundert, Propaganda zu beschreiben und zu erklären. Der Weg führt ihn vom amerikanischen Publizisten Walter Lippman über die deutsche Publizistikwissenschaft mit ihrem Protagonisten Emil Dovifat bis zur amerikanischen Persuasionsforschung von Paul F. Lazarsfeld und Harold D. Lasswell, den Yale-Studies Carl Hovlands und der Propagandapsychologie von Leonard Doob. Legt man diese Autoren und ihre Äußerungen zur Propaganda aneinander, wird deutlich, wie sehr die Geschichte der Kommunikationswissenschaft eine Geschichte der Propagandaforschung ist: Fast alle vor 1970 im Fach wichtigen Theoretiker haben sich mit persuasiver politischer Kommunikation auseinandergesetzt, viele dieses Problem zu ihrem zentralen Thema erhoben. Die Ausdifferenzierung der Kommunikationswissenschaft als akademische Disziplin hing - das macht Bussemer deutlich - eng mit dem Bedürfnis von Regierungen zusammen, Propaganda zu betreiben oder abzuwehren und demgemäß die "Gesetze" der Propaganda systematisch erforschen zu lassen. Dies gilt für demokratische wie totalitäre Systeme gleichermaßen. Die Fachwelt sollte diesen Befund zur Kenntnis nehmen.

Auf seiner Spurensuche durch die kommunikationswissenschaftliche Theoriegeschichte gelingt es Bussemer, die jeweils dominanten Hypothesen und Prämissen der Propagandaforschung in einen Zusammenhang mit der Zeitsituation und den Herrschaftsstrukturen zu bringen. Wissenschaftliche Theoriebildung wird so an Ereignis- und Gesellschaftsgeschichte rückgebunden. Es wird zum Beispiel deutlich, warum Hitler in dem berühmten Propaganda-Kapitel von Mein Kampf auf die Massenpsychologie von Gustave Le Bon rekurriert oder warum Publizistikwissenschaftler wie Emil Dovifat das Medienpublikum als amorphe Masse missverstehen und eine implizite Elitetheorie (der große Redner, der große Publizist) kultivieren konnten. Insofern kann man Bussemers Arbeit neben das vergleichbare Vorhaben Lutz Hachmeisters von 1987 stellen.

Die Arbeit gliedert sich in drei große Teile. In einem ersten wissenschaftsgeschichtlichen Block wird das "Massenparadigma der Propagandaforschung" untersucht. Vom Material her geht es hier vor allem um jene Kommunikationspraktiker, die im ersten Drittel des 20. Jahrhunderts versuchten, die im 19. Jahrhundert entstandene populäre Massenpsychologie auf das Phänomen Propaganda zu übertragen. Beispiele sind etwa der Pionier der Zeitungswissenschaft Edgar Stern-Rubarth oder der Werbepraktiker Hans Domizlaff. Es folgt dann eine aus den Quellen gearbeitete Darstellung der Entwicklung der Propagandaforschung aus Zeitungskunde, Zeitungswissenschaft und Publizistikwissenschaft. Im Zentrum steht hierbei die Frage nach der Ausübung sozialer Kontrolle durch politische Eliten. Propaganda fungierte zu dieser Zeit aus Sicht vieler Herrscher und ihrer wissenschaftlichen Zuträger als eine Art Geheimwaffe zur Manipulation der unmündigen und verführbaren Massen. Bussemer führt einen dezidierten Nachweis darüber, dass Prämissen und Theorien der Massentheorie nicht nur die frühe Kommunikationswissenschaft (die Menschen meiner Generation noch als Zeitungswissenschaft studierten) prägten, sondern bis weit in die moderne Kommunikationsforschung hineinreichen. Die Massenpsychologie bildet dem Autor zufolge eine Art verstecktes Basistheorem der Kommunikationsforschung, die viele Jahrzehnte brauchte, um sich von den ideologischen Einflüssen dieses Ansatzes frei zu machen.

Der zweite Block beschäftigt sich mit einer in den 1930er Jahren einsetzenden Entwicklung, nämlich der Entstehung einer empirischen Propagandaforschung, die vornehmlich in den USA bald zur dominanten Form der Kommunikationsforschung aufsteigen sollte. Propaganda wurde in diesem Kontext nicht mehr als geheime Verführung begriffen, sondern als wissenschaftlich planbare Sozialtechnik, die - richtig in der Gesellschaft appliziert - zur systematischen Steuerung sozialer und politischer Prozesse eingesetzt werden konnte. Verbunden ist diese Forschungsrichtung mit Namen, die auch heute noch mit der Gründungsphase der Kommunikationswissenschaft assoziiert werden, allen voran Paul F. Lazarsfeld und Harold D. Lasswell. Die Inhumanität der überkommenen Massentheorie wurde hier durch ein Menschenbild abgelöst, das den Medienrezipienten nicht mehr pauschal als Reflexamöbe diskreditierte. Allerdings blieb die Vorstellung, man könne Menschen durch Propaganda erziehen und anleiten, lebendig. Bussemer untersucht detailliert diesen wissenschaftstheoretischen Szientismus und zeigt auf, wie sehr die damals kultivierten Wissenschaftsmodelle auch die heutige Kommunikationswissenschaft noch prägen.

Der dritte Teil der Arbeit setzt sich mit den Ansätzen der Propagandaforschung nach 1968 auseinander, wobei hier insbesondere die große Studie Jacques Elluls in den Mittelpunkt gestellt wird. Nachgezeichnet wird, wie sich die wissenschaftliche Beschäftigung mit Propaganda unter dem Einfluss des Kalten Krieges und veränderter wissenschaftstheoretischer Vorzeichen einerseits in eine vermeintlich ideologiekritische, in Wahrheit aber hochideologische Richtung (für die heute etwa prototypisch Noam Chomsky steht), und eine stärker am Mainstream der Kommunikationswissenschaft orientierte systemtheoretische Forschung aufspaltete. Sein vorläufiges Ende findet die beinahe zweihundertjährige Geschichte des Propagandabegriffs in den 1980er und 1990er Jahren, als die PR- und Politische-Kommunikationsforschung den Forschungsgegenstand absorbiert, den Begriff aber abstreift.

Dabei will der Autor es aber keineswegs bei einer rein begriffsgeschichtlichen Betrachtung belassen. Ihm geht es vielmehr darum, die hinter dem Konzept von Propaganda stehenden gesellschaftlichen, ideengeschichtlichen und politischen Einflüsse sichtbar zu machen und aufzuzeigen, wie diese zu verschiedenen Zeiten in wissenschaftliche Theoriebildung überführt wurden. Wahrscheinlich gehört dies zu den stärksten Momenten der Studie: Wenn plötzlich sichtbar wird, welche ungeheuren Ressourcen in realen oder vermeintlichen Krisensituationen von politischen Eliten auf die Optimierung von politischen Strategien verwandt worden sind. Hier wird dann deutlich, dass die Propagandaforschung nie als l'art pour l'art betrieben wurde, sondern stets ein Wissenschaftszweig war, der im Mittelpunkt des Interesses von Herrschenden wie Revolutionären gleichermaßen stand.

Um so mehr muss verwundern, dass Thymian Bussemer im Resümee seiner Arbeit, die er lakonisch "Schlussbetrachtung" nennt, zu dem Fazit kommt, dass Propaganda gerade wegen ihrer Totalisierung und wegen ihres beispiellosen Siegeszuges durch die moderne Gesellschaft mittlerweile zu einem Normalphänomen öffentlicher Kommunikation geworden ist, das unter den Kommunikationsbedingungen der freiheitlichen Demokratien kein existenzielles Problem mehr darzustellen scheint. Bussemer glaubt an die Medienkompetenz des breiten Publikums und an die Abwehrkräfte des kritischen Journalismus. Zwar hält auch er es für möglich, dass Machthaber und Militärs die Öffentlichkeit - wie zuletzt im Irak-Krieg - kurzzeitig gründlich in die Irre führen. Gleichzeitig führt er aber Belege an, die aufzeigen, dass die kritische Öffentlichkeit solche Attacken der Public Diplomacy regelmäßig enthüllt und skandalisiert hat, so dass sich letztlich ein Gleichgewicht zwischen "Verführern" und "Aufklärern" herstellte. Die Schlussfolgerungen des Autors sind empirisch untermauert und realistisch, wenn man auch hoffen muss, dass sie nicht von zu viel Optimismus über den Zustand unserer Demokratie geleitet werden.

Den Hauptteil der Studie aber macht die theoriegeschichtliche Auseinandersetzung mit bedeutenden, heute jedoch oft vergessenen klassischen Texten der Kommunikationswissenschaft aus. Gerade für Leser meiner Generation macht es Freude, Autoren wieder zu entdecken, die wir noch als Studenten persönlich gekannt haben. Genüsslich seziert Thymian Bussemer etwa das entschiedene "Sowohl-als-auch" des Berliner Publizistikwissenschaftlers Emil Dovifat in der NS-Zeit. Hier bleibt der Autor stets hart, aber fair: Emil Dovifat war einerseits unbestreitbar ein engagierter Katholik und damit ein Gegner der Nationalsozialisten, andererseits hat er dem Regime zahlreiche Konzessionen gemacht, deren Notwendigkeit hinterfragt werden kann. Ich erinnere mich, wie wir uns als junge Leute ein Vergnügen daraus machten, die vor und nach 1945 erschienenen Fassungen seiner "Zeitungslehre", insbesondere die Vorworte, miteinander zu vergleichen. Hier wird deutlich, wie nützlich es ist, Kommunikationsgeschichte zu betreiben und sich so der eigenen erkenntnistheoretischen Grundlagen zu versichern.

Die vorliegende Arbeit ist ein substantieller Beitrag zur Geschichte der Kommunikationswissenschaft und eine ernstzunehmende wissenssoziologische Analyse der unterschiedlichen Theorieansätze der Propagandaforschung. Sie stellt die erste systematische Arbeit über Propagandatheorien in deutscher Sprache dar, und man kann ihr nur wünschen, dass sie breit rezipiert wird.

St. Gallen, im September 2004

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