Freitag, 1. Februar 2008

Mobbing in der katholischen Kirche

Pater Sabo
In der Sündenfalle
Alex Baur und Helmut Wachter (Bild)

Pater Sabo hat ein Wunder vollbracht: Dank ihm weiss das ganze Land, wo das unglaublich katholische Röschenz liegt. Seit Monaten geistert der nun definitiv suspendierte Seelsorger durch die weltliche Presse, und selbst Heiden fragen sich: Ist er ein Rebell oder ein Wichtigtuer?

Morgenmesse in Röschenz. Neben 38 Gläubigen sind zwei Reporter sowie ein Fotograf erschienen. Was in anderen Kirchgemeinden dieser Grösse für einen kommunen Donnerstag als Publikumserfolg zu feiern wäre, ist in Röschenz unteres Mittelmass. Am Sonntag ist die schlichte Kirche, die seit Monaten unter nationaler Beobachtung steht, jeweils übervoll. In stiller Spannung wartet man auf den nächsten Eklat im Gotteshaus.

Priester Franz Sabo enttäuschte die Erwartungen nicht und eröffnete seine Predigt mit einer Hommage an Teresa von Avila, die «grosse Reformatorin» aus dem 16. Jahrhundert, zu der er eine tiefe Seelenverwandtschaft empfinde: Auch Teresa sei zu Lebzeiten als Ketzerin verfemt – und später sogar heilig gesprochen worden. Hinter der scheinbar unverfänglichen Huldigung steckt natürlich ein Seitenhieb mehr an die Adresse von Bischof Kurt Koch und seine Entourage. «Sollen die doch ihre Schweizergarde nach Röschenz schicken», flüstert jemand in den hinteren Reihen.

Pater Sabo ist ein Meister der indirekten Rede. Wenn er vor versammelter Fest- und Fangemeinde über «Feiglinge, Duckmäuser, Heuchler, Angsthasen, Neider und Schleimer» herzieht, über «verbitterte, verbohrte und fanatische Zeitgenossen» sinniert, «von denen ich in den letzten Monaten ein paar mehr als sonst kennen gelernt habe», und gar «eine ganze Reihe von Päpsten und Bischöfen» als «Diktatoren, Moralapostel, ja Volksverhetzer» abkanzelt – dann versteht jedes Kind, wer gemeint ist. Er braucht keine Namen zu nennen.

Der 52-jährige Priester hat in den letzten Monaten ziemlich alles in Frage gestellt, was die katholische Kirche von der protestantischen unterscheidet: Dogma, Hierarchie, Moral. Viel erstaunlicher ist aber, dass sich ein stockkatholisches, abgelegenes 1700-Seelen-Dorf hinter einen solchen Revoluzzer stellt. Gewiss, es gibt Kritiker, die Sabo vorwerfen, die heilige Messe für Politik zu missbrauchen. Doch gegen aussen herrscht Einigkeit.

Die Witwen, die sich jeweils nach der Messe im Kirchenkeller zum Kafichränzli treffen, gehören zu den eifrigsten Anhängern des rebellischen Paters. Vielen von ihnen hat er über schwere Zeiten hinweggeholfen. Die Frauen interessieren sich denn auch nur mässig für die medial breitgewalzte ideologische Debatte, die Sabo ausgelöst hat. Die Witwen geben sich zwar durchaus kampflustig, denn sie wissen, dass es hinter den Kulissen um viel profanere Dinge geht: um Macht, Intrigen, Doppelmoral. Franz Sabo stammt aus Bayern, wohnt in Basel und arbeitet seit sieben Jahren in Teilzeit als Pfarradministrator von Röschenz. Er war schon immer ein progressiver Priester, der sich namentlich für die Gleichberechtigung von Frauen und Homosexuellen in der Kirche engagiert. Sein Clinch mit den Vorgesetzten eskalierte aber erst im Jahr 2003, just als Papst Johannes Paul II. die Order erliess, die «Schwulenehe» auf allen Ebenen zu bekämpfen. Das war wohl kein Zufall. Doch der Auslöser für Sabos Kreuzritt gegen die «Kirchenfürsten» ennet dem Jura im solothurnischen Bischofssitz war ein ganz anderer.

Im Frühjahr 2002 meldet sich ein vorerst anonymer Denunziant bei der Beratungsstelle gegen sexuelle Übergriffe der Diözese in Solothurn. Der Mann war einst mit Sabo befreundet, hatte sich aber mit ihm zerstritten. Nun behauptet er, der Priester habe ihm gebeichtet, auf Sex mit Minderjährigen zu stehen. Die Leitung des Bistums beschliesst, die pauschalen und vagen Vorwürfe abzuklären. Ein auf sexuelle Übergriffe spezialisierter Psychiater in Basel wird mit der Begutachtung des Priesters betraut. Sabo, der die Anschuldigung in Abrede stellt, willigt ein – was er bald bereuen wird.

Inquisition im Jahre des Herrn 2005

Pater Sabo öffnet sich vorerst gegenüber dem Gutachter und vertraute diesem an, dass es vor über zwei Jahrzehnten, unmittelbar nach seiner Weihe zum Priester, im privaten Rahmen zu einer verfänglichen Situation mit einer volljährigen Person gekommen sei, die ihn zuvor um Rat ersucht hatte. Er habe sich nachträglich Vorwürfe gemacht. Das sei für ihn eine heilsame Lehre gewesen, zumal man ihn später habe erpressen wollen. Für Sabo ist diese uralte Sünde längst abgehakt und vergeben, doch der Psychiater insistiert, will mehr wissen. Sabo ahnt, dass er sich in eine Falle manövriert hat. Er verweigert jede weitere Auskunft und engagiert den bekannten Basler Anwalt und SP-Nationalrat Claude Janiak.

Im Sommer 2003 überstürzen sich die Ereignisse. Am 8. August lanciert Pater Sabo in der Basler Zeitung einen grösseren Forumsbeitrag über Gott und die Welt. Nachdem er den Feldherren Bush, Blair und Berlusconi die Leviten gelesen hat, bläst er zum Angriff gegen den «herzlosen Funktionär» Bischof Kurt Koch. Die «Überwachungskirche», so der Tenor des Artikels, habe nicht nur den Bezug zu Gott, sondern auch zu ihren Schäfchen verloren. Eine Woche später tritt Sabos Anwalt Claude Janiak mit Getöse aus der Kirche aus. Begründung: die harte Linie von Bischof Kurt Koch gegen die gleichgeschlechtliche Partnerschaft. Koch seinerseits droht dem unbequemen Pater mit Entzug der Missio canonica beziehungsweise der Lizenz zum Predigen. Sabo entschuldigt sich nach einer Aussprache mit dem Bischof halbherzig, und Koch belässt ihn vorläufig im Amt.

Im September 2003 liegt das Gutachten vor, das freilich eher an die Inquisition erinnert denn an eine psychiatrische Abhandlung. Die bruchstückhaften Angaben zum Priester und zu seinen angeblichen Vergehen, die dem Arzt vorliegen, werden mit vagen Spekulationen und einem umso ausführlicheren Diskurs über das Wesen des Zölibats und die Verwerflichkeit von sexuellen Übergriffen aufgemotzt. Dabei ist völlig offen, ob solche überhaupt je stattgefunden haben. Entsprechend nebulös sind denn auch die Schlussfolgerungen: Der Gutachter äussert zwar Bedenken, hat aber grundsätzlich nichts gegen Sabos seelsorgerische Tätigkeit einzuwenden. Letztlich kann jeder aus dem Papier herauslesen, was er will. Ein vorzügliches Instrument also, um dem Priester sein Lästermaul zu stopfen, ohne ihn gleich definitiv aus dem Verkehr zu ziehen.

Doch statt zu schweigen, tritt der Priester die Flucht nach vorne an und prangert nun in aller Öffentlichkeit den Zölibat und die «lebensfeindliche Sexualmoral» der Kirche an. Zudem lässt er von einem ausgewiesenen Experten für sexuelle Fragen ein Gegengutachten erstellen. Der zweite Facharzt, der die Untersuchung mit einer Reihe von psychiatrischen Tests zu objektivieren versucht, zerfetzt das Gutachten seines Kollegen in der Luft. Fazit: Sabo sei psychisch völlig gesund, es gebe keine Anhaltspunkte für Übergriffe.

Das Jahr 2004 verläuft relativ ruhig, bis im Oktober der Denunziant Strafanzeige bei der Basler Staatsanwaltschaft erstattet. Die Polizei nimmt die Ermittlungen umgehend auf, durchsucht Sabos Wohnung und seinen Computer, ohne aber etwas Belastendes zu finden. Nach der Einvernahme des «Kronzeugen» ist die Sache ziemlich klar: Im Verhör relativierte dieser seine ohnehin vagen Vorwürfe «gemäss Hörensagen» bis zur Unkenntlichkeit. Die Staatsanwaltschaft stellt das Verfahren mangels konkreter Hinweise auf eine Straftat ein.

Zur Adventszeit 2004 meldet sich der streitbare Pater wieder zu Wort. Jetzt nimmt er den Generalvikar Bernhard Trauffer ins Visier und tituliert diesen öffentlich als «gefühlsarmen Dr. Apparatschik». Trauffer, der engste Berater von Bischof Kurt Koch, steht im Ruf eines Hardliners. Er gilt als graue Eminenz, die in Solothurn hinter seinem eher blass wirkenden Chef die Fäden zieht. Trauffer, ein temperamentvoller und wortgewandter Macher, lässt keine Zweifel am Dogma der Universalkirche zu und nimmt im persönlichen Gespräch kein Blatt vor den Mund. Der «progressive Haufen» drüben im Baselbiet ist ihm schon lange ein Dorn im Auge. Und erst recht der «Tankwart aus Röschenz», von dem später noch die Rede sein wird.

Die Kombination von Eigensinn und Pragmatismus zieht sich wie ein roter Faden durch die Geschichte von Röschenz. Das Dorf am Rande des Laufentals nahe der französischen Grenze gehört zum Bistum Basel, seit der Burgunderkönig Rudolf III. im Jahr 999 unter dem Eindruck des zur ersten Jahrtausendwende prophezeiten Weltuntergangs seinen ganzen Besitz der Kirche vermachte. Im Zuge der Reformation vertrieben die Basler den Bischof, der bis heute in seinem Solothurner Exil residiert. Doch die Laufentaler blieben dem Katholizismus treu, daran konnten auch die protestantischen Berner nichts ändern, denen das Gebiet beim Wiener Kongress 1815 zugeschlagen wurde. Trotzdem brauchte es mehrere Anläufe, bis das Laufental 1989 einem Wechsel zurück zum Kanton Baselland zustimmte.

Ultimatum kurz vor Schluss

Auf den Januar 2005 bestellen die Röschenzer zwei neue Mitglieder in ihren Kirchenrat, die die Federführung im Clinch mit der Diözese übernehmen: den Ingenieur Holger Wahl und den Automechaniker Bernhard Cueni. Wahl, ein gebürtiger Deutscher, gibt sich gerne als glühender Verfechter von direkter Demokratie und Föderalismus. Cueni, ein Röschenzer von Fleisch und Blut mit dem Herzen auf dem rechten Fleck, in Solothurn auch als «Tankwart» apostrophiert, ist eher der bodenständige Typ. Zusammen sind die beiden ein effizientes Gespann, das die Kirchenoberen seit Monaten in Atem hält.

Gleichwohl scheint Anfang Jahr wieder einmal alles auf einen versöhnlichen Ausgang hinzudeuten. Die renommierte Gerichtsgutachterin Anneliese Ermer liefert ein Obergutachten zum «Fall Sabo» ab, das den Priester definitiv entlastet. Die Diözese lässt den Kirchenrat wissen, dass fachlich nichts gegen seine seelsorgerische Tätigkeit einzuwenden sei. Der Priester seinerseits verkündet, es sei nie seine Absicht gewesen, jemanden zu verletzen – eine Formel, die alle Beteiligten das Gesicht wahren lässt.

Umso grösser ist die Konsternation in Röschenz, als Bischof Koch am 17. März 2005 der Kirchgemeinde mitteilt, dass er Franz Sabo voraussichtlich auf den 30. September (unter Einhaltung der Kündigungsfrist von sechs Monaten) die «Missio» entziehen werde. Von nun an ist in der Kirche der Teufel los.

Der eskalierende Streit zwischen Röschenz und Solothurn ist in zahllosen Medienberichten dokumentiert und kommentiert: Brandreden von Pater Sabo gegen die «älteste Diktatur der Welt», empörte Entgegnungen aus der Diözese, kirchen- und staatsrechtliche Gutachten, fruchtlose Aussprachen, Solidaritätsaktionen hüben wie drüben. Die Positionen scheinen unvereinbar: Die eine Seite pocht auf ihre demokratischen Rechte, die andere auf die Gesetze des Vatikans. Nur die entscheidende Frage blieb bis anhin unbeantwortet: Warum stellt die Kirche Sabo das Ultimatum just, als sich alles in Minne aufzulösen scheint?

Eine Erklärung liefert ein Artikel, der am Tag nach dem Entzug der «Missio» unter dem Titel «Ein Flair für Homos und Ketzer» im Kirchenorgan «kreuz.net» publiziert wird. Neben Sabos Kirchenkritik wird hier vor allem sein Engagement für die gleichgeschlechtliche Partnerschaft gewürdigt. Das Thema ist heiss, die nationale Abstimmung steht unmittelbar bevor. Daneben findet sich aber auch ein deutlicher Wink mit dem Zaunpfahl an die Adresse von Sabo: Man habe aus Gründen des «Persönlichkeitsschutzes» auf weitere Details verzichtet.

Himmelfahrtskommando

Die Konstellation erinnert an den Kalten Krieg: Beide Seiten sitzen auf einer Bombe, die keiner einzusetzen wagt, weil er sich damit selber in die Luft jagen könnte. Also belässt man es bei Scharmützeln. Obwohl an der Anschuldigung wegen Pädophilie offenkundig nichts dran ist, hat Sabo Angst, dass das Verfahren publik wird – ein solches Gerücht kann gerade für einen Priester tödlich sein, auch wenn nichts dran ist. Doch auch die Kirche hat ein Problem: Wenn sie die Vorwürfe gegen Sabo ernst nahm, hätte sie von sich aus Strafanzeige einreichen müssen – wenn nicht, gab es keinen Grund, einen Psychiater auf den ketzerischen Priester anzusetzen. Es stellt sich unwillkürlich die Frage, ob man etwas vertuschen oder Sabo gar erpressen wollte.

Unter dem gewaltigen emotionalen Druck stellt Franz Sabo so ziemlich alles in Frage, was der katholischen Kirche heilig ist – ein klerikales Himmelfahrtskommando. Gewiss, die Widersprüche zwischen Demokratie und Gehorsamspflicht, Aufklärung und Kirchendoktrin, die in Röschenz durchexerziert werden, sind nicht neu. Die katholische Kirche toleriert einen weiten Spielraum zwischen Theorie und Praxis. Verstösse gegen die Order aus Rom gehören beim Volk wie beim Klerus zur Tagesordnung. Man kann es Doppelmoral nennen – oder Pragmatismus einer Universalkirche, die ansonsten wohl längst auseinander gefallen wäre. In den Townships um Johannesburg verteilen Nonnen Präservative an Prostituierte, in Bogotá vermitteln Priester gefallenen Frauen Abtreibungen, damit sie nicht zu Kurpfuschern gehen, in Zentralamerika spielten revolutionäre Mönche und Nonnen eine ganz zentrale Rolle bei den Guerillas. Und in Baselland ermuntert die katholische Kirche mit einem diskreten Link auf ihrer Homepage nicht nur Geschiedene, sondern auch Schwule und Lesben, ihre Partnerschaft durch einen Priester absegnen zu lassen. Das alles wird so lange mehr oder weniger toleriert, als es nicht an die grosse Glocke gehängt und offiziell verkündet wird. Doch genau das tut Sabo – und ein guter Katholik tut so etwas nicht.

Nur ist es den kampflustigen Witwen von Röschenz ziemlich egal, ob Nonnen und Mönche, Schwule und Lesben sich mit oder ohne Segen von Kirche und Staat paaren. Die Zustimmung für die gleichgeschlechtliche Partnerschaft an der Urne betrug in Röschenz 67 Prozent, damit ist das Thema erledigt. Sie wollen einfach einen Priester, der eine anständige Messe, Taufe, Hochzeit oder Bestattung zelebriert, einen, der für sie da ist, wenn die Einsamkeit unerträglich wird. Und Pater Franz Sabo, das hört man allenthalben, erledige seinen Job mit Liebe und Engagement.

Eigentlich ist man schon froh, überhaupt einen Pfarrer zu haben in Röschenz. Rund die Hälfte der Pfarreien im Baselbiet sind wegen Personalmangels nicht ordentlich besetzt, die andere Hälfte ist oft hoffnungslos überaltert. Einige Röschenzer finden es im Übrigen gar nicht so schlecht, dass der Priester nicht im Dorf lebt – nach alldem, was sie in den letzten Jahrzehnten erlebt haben. Und das ist allerhand.

Röschenz war schon lange nicht mehr mit einem Dorfpfarrer gesegnet, so wie man sich einen solchen gemeinhin vorstellt. Sabos Vorgänger war ein Inder mit limitierten Deutschkenntnissen, den man im Dorf «Veloventil» nannte, weil keiner seinen Namen richtig aussprechen konnte. Andere tauften den Fremden «Money-o-wetti», weil er sich für klerikale Dienstleistungen offenbar gerne extra bezahlen liess, was den Röschenzern eher seltsam vorkam. Zwischendurch half auch mal der Pfarrer aus einem benachbarten Ort aus, bis er mit der Gattin eines Kirchgängers durchbrannte. Und einer der Vorvorgänger von Sabo soll, so heisst es im Dorf, tatsächlich Buben auf die schiefe Bahn gebracht haben, bevor er sich in seinem Auto das Leben nahm.

Derartiges ist nicht Sabos Stil. Die Witwen im Kirchenkeller haben ein Auge dafür. Und deshalb wollen sie ihren nun definitiv suspendierten Pater unbedingt behalten. Was soll der Bischof schon gegen sie unternehmen – die Schweizergarde nach Röschenz schicken?

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