Kinder sollen Holocaust gedenken
Initiativen des französischen Präsidenten lösen Unmut aus
Rudolf Balmer, Paris
Nicolas Sarkozy schlägt vor, dass jedes zehnjährige Schulkind die moralische Verantwortung für die Deportation aus Frankreich und Ermordung eines jüdischen Kindes im Zweiten Weltkrieg übernimmt.
Es wird in Frankreich langsam, aber sicher zum allgemeinen Ärgernis, dass der Staatschef die Öffentlichkeit dauernd mit Vorschlägen überrumpelt, die zwar attraktiv klingen, aber auch den Eindruck erwecken, dass über ihre Umsetzung und Konsequenzen noch nicht nachgedacht wurde. So ist etwa noch völlig offen, wie das öffentlich-rechtliche Fernsehen finanziert werden soll, das auf Sarkozys Wunsch hin ohne Werbung auskommen muss.
Das jüngste Beispiel einer solch unvermittelt präsentierten Initiative ist Sarkozys Vorschlag, dass «jedem Primarschüler der zweiten Klasse das Gedenken an eines der
11 000 Kinder, die Opfer der Judenverfolgung wurden, anvertraut wird». Die Zehnjährigen sollen also über eine persönliche Identifizierung sehr früh mit der Aufarbeitung des Zweiten Weltkriegs beginnen und dafür sorgen, dass die Deportation der französischen Juden in die Nazi-Vernichtungslager weder vergessen noch geleugnet wird. Seine Idee äusserte Sarkozy an einer Veranstaltung des Repräsentativrats der Jüdischen Institutionen Frankreichs (Crif), der so etwas weder gewünscht noch angeregt hatte. Bei derselben Gelegenheit kündigte der Präsident auch an, er werde keinem Staatsvertreter mehr die Hand schütteln, der Israels Existenzrecht bestreite.
Das Vorhaben, Schüler im Rahmen des Unterrichts zu «Paten» von deportierten und ermordeten Kindern zu ernennen, stiess in Frankreich auf wenig Verständnis. Einer Umfrage von gestern zufolge sind 85 Prozent der Befragten gegen die Idee einer persönlichen Patenschaft. Wenig verwunderlich, löste Sarkozys Ankündigung eine anhaltende Kontroverse aus.
Nach der ersten Überraschung beglückwünschte der Crif-Vorsitzende Richard Prasquier den Präsidenten zwar zu dessen unerwarteter Initiative. Doch Frankreichs jüdische Gemeinschaft ist geteilter Meinung über die Initiative. Die frühere Ministerin Simone Veil, die als Jugendliche selber in ein Konzentrationslager deportiert worden war, ist schockiert. Bisher hatte sie Sarkozy immer unterstützt, seinen jüngsten Vorschlag zum Holocaust-Gedenken aber findet Veil «unerträglich»: «Man kann doch von einem Zehnjährigen nicht verlangen, dass er sich mit einem toten Kind identifiziert. Das ist als Erinnerung viel zu schwer.»
Ähnlich ablehnend reagierten Pädagogen und Elternorganisationen, die von einem Risiko «traumatischer» Folgen sprechen. Die Historikerin Barbara Lefebvre, die sich speziell mit dem Thema Genozid im Unterricht befasst, wendet ein: «Die emotionale Thematisierung der Judenverfolgung geht stets zu Lasten des Verständnisses für die historische und politische Einzigartigkeit dieses Phänomens.»
Ungeachtet dieser Bedenken hat Sarkozy nun eine Kommission eingesetzt, die sich um die rasche Integration seines Vorschlags in den Lehrplan kümmern soll. Erziehungsminister Xavier Darcos könnte sich den Kompromiss vorstellen, dass nicht jedes Schulkind individuell, sondern jede Klasse kollektiv eine solche Gedenk-Patenschaft für ein Opfer des Zweiten Weltkriegs übernimmt.
In einem überparteilichen Appell ersuchen Persönlichkeiten wie Jacques Delors, Régis Debray, Alain Touraine und Jean Daniel den Staatspräsidenten, diesen von «Experten der Pädiatrie und Psychoanalyse verurteilten Vorschlag» ganz zurückzunehmen. Er bringe die verschiedenen Gemeinschaften gegeneinander auf und könnte nicht zuletzt die jüdische Gemeinschaft in Frankreich spalten.
Freitag, 22. Februar 2008
Holocaust-Gedenktage als Religionsersatz?
Labels:
Die neue Weltordnung,
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