Neue Züricher Zeitung (NZZ), Juli 1997:
Lucien Criblez, Institut für Pädagogik, Uni Bern
Wie autonom dürfen Schulen sein?
Demokratische Wege der Schulentwicklung
Das Reden über Schulentwicklung ist eine breit akzeptierte "Modeerscheinung" geworden. Darauf deutet nicht nur ein entsprechendes Lehrerfortbildungsangebot für die Lehrkräfte alle Schulstufen hin, sondern auch die in vielen Kantonen etablierte schulhausinterne Lehrerfortbildung als einer der Stützpfeiler der Schulentwicklung. Schulentwicklung meint dabei mehr als die Notwendigkeit, dass sich Schule weiterentwickeln muss, meint mehr als einfach Schulreform im traditionellen Sinne. Wenn von Schulentwicklung gesprochen wird, ist damit die Organisationsentwicklung der Einzelschule gemeint.
Schulautonomie
Wichtiger Ausgangspunkt der Schulentwicklungsdiskussion ist eine Kritik an der bisherigen Schulreformpraxis. Die Schulreformdebatte der siebziger und achtziger Jahre habe die Schule nicht wirklich verändert, weil sie eine Reform von "oben" gewesen sei. Sie sei gescheitert, weil sie gar nie "unten" angekommen sei. Deshalb müsse eine Schulreform heute "unten" ansetzen nicht auf bildungspolitischer Ebene, sondern in den Schulhäusern. Eine Schule könne sich aber nur entwickeln, wenn sie in hohem Masse autonom sei. Konkret betrifft diese Autonomieforderung zumindest vier Bereiche: Autonomie hinsichtlich der Umsetzung der Rahmenlehrpläne in lokale Lehrpläne, Autonomie hinsichtlich Stundentafel und Schulorganisation, Autonomie hinsichtlich personeller Fragen (Lehrerwahlen und Schulleitung) sowie Autonomie hinsichtlich der finanziellen Ressourcenverwendung (sogenannte Globalbudgets). Von der Autonomieforderung ausgeschlossen bleibt die Schülerselektion.
Hinsichtlich der Schulorganisation sind die Schulen und deren lokale Aufsichtsbehörden (Schulkommissionen, Schulpflegen) in der Schweiz heute schon weitgehend autonom. Sie legen ihre Stundenpläne - im Rahmen kantonaler Lehrplanvorgaben - selber fest und sie bestimmen über die internen und organisatorischen Belange weitgehend autonom. Hinsichtlich der Budgets sind die Schulen insofern autonom, als sie über Anschaffungen zumindest teilweise selber entscheiden können. Grössere Ausgaben sind jedoch budgetpflichtig, die Lehrerlöhne unterstehen kantonalen Regelungen. Hier gibt es mindestens vier Möglichkeiten, dies zu ändern: Das gesamte Budget kann der einzelnen Schule ohne Rechenschaftspflicht unterstellt werden. Dies würde einer Art Privatisierung entsprechen, wobei allerdings die öffentliche Hand (Gemeinden und Kantone) trotzdem einen hohen Anteil der Kosten in Form von Subventionen übernehmen müsste - die Verwendung der Mittel jedoch nicht beeinflussen könnte. Die andern Möglichkeiten bestehen darin, den Schulen eine Art Globalbudget zur Verfügung zu stellen, für das die Schule zwar Rechenschaft schuldet, aber autonom darüber verfügen kann. Im einen Fall würden sämtliche Kosten (Investitions- und Betriebskosten) dem Globalbudget unterstellt, im zweiten nur die Betriebskosten (Lehrerlöhne und übrige Betriebskosten), im dritten nur die Betriebskosten ohne Lohnkosten.
Will man die Schullandschaft nicht sozial schichten, ist nur die letzte Möglichkeit wirklich sinnvoll - und die entspricht weitgehend den heutigen Verhältnissen. Alle andern Möglichkeiten führen zu unterschiedlichen Lehrerlöhnen in unterschiedlichen Schulen und Gemeinden, ein Zustand, der erst im 20. Jahrhundert von den Lehrergewerkschaften zum Glück beendet werden konnte. In jedem Fall aber bleibt ein Globalbudget und bleiben auch öffentliche Subventionen von Budgetentscheiden der Öffentlichkeit, in den meisten Kantonen der Parlamente, da und dort auch von Volksentscheiden abhängig. Man kann also nicht so tun, als ob eine einzelne Schule ein Privatbetrieb wäre, der marktwirtschaftlich kalkulieren und investieren kann. Will man dies, ist das gesamte öffentliche Schulsystem zu privatisieren - mit entsprechenden Folgen. Können Schulen hinsichtlich der Lehrpläne autonomer werden? Hält man an einem allgemeinverbindlichen Lehrplan fest, können Schulen innerhalb dieses Lehrplans nur eigene Schwerpunkte entwickeln. Nur: Das können sie auch heute schon. Grössere Lehrplanautonomie als heute ist deshalb nur durch die Preisgabe eines allgemeinverbindlichen Lehrplans möglich. Dies ist aus kultur- und staatspolitischen Gründen jedoch weder wünschenswert noch sinnvoll.
Pädagogisches Profil
Die Einführung grösserer Schulautonomie müsste zumindest an bestimmte Bedingungen geknüpft werden. Solche Bedingungen sind etwa: Das Problem der staatlichen oder staatlich beauftragten Kontrolle muss gelöst werden, alle Schulen müssen für alle Schüler wählbar und alle Schüler für sie interessant sein, ein hinreichendes Reservoir an autonomiefähigen Lehrkräften muss gewährleistet sein, und die Kompetenzen hinsichtlich der erwähnten Autonomiebereiche müssen so neu verteilt werden, dass die Schule nicht sozial und regional stratifiziert wird. Dies sind sehr schwierig einzulösende Voraussetzungen für eine Autonomisierung. Vielleicht wird deshalb der Autonomieanspruch meist relativiert und von "teilautonomen Schulen" gesprochen.
Auf dem Hintergrund der Autonomieforderung und in Koppelung mit dem Postulat nach einer vermehrten Marktorientierung der Schule ist als weiteres Merkmal der Schulentwicklung die Forderung nach der Entwicklung eines eigenen pädagogischen Profils zu nennen. Die Ausbildung eines eigenen Profils kann nur aus der einzelnen Schule heraus geschehen, kann nur von den am Schulleben Beteiligten geleistet werden. Hier wäre zunächst zu klären, was denn mit pädagogischem Profil gemeint ist. Meint dies einfach, dass die eine Schule erweiterte Lehr-/Lernformen (ELF) anwendet, die andere nur auf Frontalunterricht setzt? Oder dass in der einen Schule Unterricht vor allem in Form von Projekten stattfindet, in der anderen nicht? Aber um solche Unterscheidungen, die heute auch schon möglich sind und real existieren, geht es offensichtlich nicht. Viel eher ist zu vermuten, dass es nicht mehr um öffentliche Bildung, sondern um Weltanschauung, Religion oder neue Formen von Pseudo- beziehungsweise Ersatzreligionen geht. Jedenfalls liegt eine solche Interpretation nahe, wenn die Identität der Schule mit "Mission" einer Organisation" umschrieben wird oder wenn der Schule eigene Identität zugesprochen wird, in der "ein einheitlicher Geist" spürbar wird. Ist dies gemeint, kommt die Einführung pädagogischer Profile einer Verweltanschaulichung der Schule gleich. Und was geschieht mit den Lehrkräften, die ein solches Programm nicht akzeptieren wollen? Werden sie isoliert, durch Gruppendruck auf die "richtige" Linie verpflichtet oder gar entlassen? Und wie wählt man profilkonforme Lehrkräfte aus? Die Schule hat einen staatlichen Lehrplan einzuhalten. Wie sie dies tut, ist eine Sache der Lehr- und Methodenfreiheit, die zunächst der einzelnen Lehrperson und nicht dem Kollegium als Korporation zukommt. Wer etwas anderes will, gibt zwei zentrale Errungenschaften der modernen Schule auf, die Lehr- und Methodenfreiheit einerseits, die Säkularisierung andererseits.
Schulleitung
Schulautonomie und Schulprofilierung sind darauf angewiesen, dass Verantwortungsträger sowohl gegenüber dem Publikum (den Eltern) wie auch gegenüber der Verwaltung und der staatlichen Aufsicht erkennbar sind. Die Schulleitung wird aber nicht in Kategorien des langen Armes der Schulverwaltung vorgestellt, sondern in Gestalt eines pädagogisch versierten, kreativen und trotzdem entscheidungsfreudigen modernen Managers bzw. einer solchen Managerin. Während man in Betrieben Konzepte von flacher Hierarchie einführt, soll in der Schule als einem traditionell flach strukturierten Betrieb die Hierarchie verstärkt werden. Dies wird von Lehrkräften offensichtlich nur akzeptiert, weil immer ein harmonisches Bild der Schulleitung dargeboten wird. In keiner Darstellung zur Schulentwicklung sind Schulleiter oder Schulleiterinnen autokratische Machtmenschen, in keiner Darstellung lösen sie Konflikte auf Kosten der einen Partei, und in keiner Darstellung sind sie unfähige Schulleiter oder Schulleiterinnen. Die Praxis wird nicht so harmonisch sein. Zudem ist zu fragen was anderes mit der Einsetzung der Schulleitungen bewirkt wird als eine teure Aufblähung der Verwaltungsaufgaben vor Ort.
Organisationsberatung
Als unabdingbar für die Entfaltung einer autonomen Schule wird die externe Beratung erachtet, da die Schulen die Selbstorganisation erst lernen müssen. Dies ist in Form einer schulhausinternen Fortbildung möglich, aber auch durch periodische oder permanente Supervision oder Beratung des Kollegiums bzw. der Schulleitung. Ziel der Beratung ist dabei immer die Entwicklung der einzelnen Schule. Für diese Zwecke muss eine Ausbildung für Schulentwicklungsmoderatoren und -moderatorinnen etabliert werden. Schulentwicklung denkt Schule nicht als öffentliche Institution mit einem Bildungsauftrag, sondern als Organismus, der mit psychologischen Mitteln zu harmonisieren sei. So gesehen umgeht, besser: hintergeht das psychologische Beratungsmodell die öffentlich-demokratische Dimension, gibt vor, die Schule psychologisch weiterzuentwickeln, ohne die entscheidenden Probleme wirklich bearbeiten zu können. Die Institution wird mit psychotherapeutischen Mitteln zu verändern versucht. Dieses Unterfangen ist entweder naiv, weil es nicht berücksichtigt, dass der rechtlich-institutionelle Rahmen mit diesen Mitteln nicht bearbeitbar ist, ja aus demokratischen Gründen nicht bearbeitbar sein darf, oder es ist gefährlich: gefährlich, weil eine Realisierung nur in Konzepten des psychologischen Totalitarismus einer "schönen neuen Welt" oder des politischen Totalitarismus der Diktatur möglich ist. - Auf dem Hintergrund des Aufgeführten kann man fragen: Was soll eigentlich anders werden? Geht es um mehr als eine Reformrhetorik, die einverlangt, was heute praktisch schon möglich ist? Ist die Debatte nur Reformrhetorik und werden die Differenzen zwischen den einzelnen Schulen nicht grösser, als sie heute schon sind, braucht sich nichts zu ändern. Sollen sich Schulen aber tatsächlich in der vorgeschlagenen Art und Weise, einer Art Konkurrenzmodell, profilieren, wäre die logische Konsequenz die freie Schulwahl. Denn es wäre nicht mehr einsichtig, warum Kinder der einen Eltern in eine Schule des Profils A gehen müssen, während andere Kinder die Gelegenheit haben, eine Schule des Profils B zu besuchen. Dies allerdings hätte fatale Konsequenzen, von denen nur zwei erwähnt seien: die soziale und die regionale Stratifikation der Schule. Freie Schulwahl mit entsprechender Ressourcenverteilung hat zur Konsequenz, dass beide, gute und schlechte Schulen, profiliert werden, dass aber nicht alle Kinder die Möglichkeit haben, die guten zu besuchen.
Schulentwicklung ist im Kern ein korporatistisches, berufsständisches (zünftisches) Modell, das die wesentlichen Entscheide in der Schule dem Berufsstand zuordnet, mit der Schulhausorientierung einem etwas naiven "Small ist beautiful" frönt und die öffentlichrechtliche, demokratische Verfasstheit der Schule ignoriert oder, schlimmer: davon ausgeht, dass die Probleme der Schule mit psychotherapeutischen Verfahrenstechniken bearbeitbar seien. Ein solches Konzept hat im Kern die Funktion, die Schule gegenüber der Öffentlichkeit abzuschotten und sie dem öffentlichrechtlichen Zugriff zu entziehen. In den Hauptzügen ist dieses Konzept vormodern, negiert real existierende Interessenkonflikte und neigt mit der Ausrichtung auf unbedingten Konsens im Schulhaus zu unnötigen und unmöglichen Harmonisierungen. Äusserlich pluralistisch und liberal, ist das Konzept in der Konsequenz weder demokratisch im Sinne eines modernen demokratischen Rechtsstaates noch liberal im Sinne einer Toleranz gegenüber abweichenden Meinungen und Wertvorstellungen innerhalb der Schule. Zwar wird Konkurrenz zwischen den Schulen unterschiedlichen Profils gefordert, nicht aber unterschiedliche Meinungen innerhalb der Schule. Zwar befördert das Modell äusserlich eine sich liberal gebende freie Schulwahl, vergisst dabei aber, dass dies nur mit sozialer und regionaler Segregation erkauft werden kann.
Was anderes kann - nach einer solchen Kritik - getan werden, als das Alte fortzusetzen? Geht es eigentlich in der Diskussion um mehr als lukrative Jobs für Organisationsberaterinnen, für Schulevaluatoren? Das bisherige Bildungssystem war öffentlich und demokratisch organisiert und kontrolliert. Die breite Akzeptanz der öffentlichen Schule war weitgehend von dieser Öffentlichkeit abhängig. Die Schule als Institution, nicht ein einzelnes Schulhaus mit seinem individuellen Profil, muss auch in Zukunft von der Öffentlichkeit getragen werden, soll sie auch weiterhin öffentlich finanziert werden. Bedingungen dafür sind: öffentlicher Konsens über die Inhalte, öffentlicher Zugang für alle Befähigten sowie öffentliche Kontrolle.
Schulentwicklung in einem solchen Verständnis ist dann ein demokratisch-öffentlicher Prozess, der weder vom einzelnen Schulhaus noch von einem einzelnen Lehrerteam oder der Schulverwaltung allein kontrolliert werden darf, sondern von der Öffentlichkeit und deren Repräsentanten.
Lucien Criblez
Montag, 25. Februar 2008
Die Entdemokratisierung der Volksschule
Abonnieren
Kommentare zum Post (Atom)
Keine Kommentare:
Kommentar veröffentlichen