(Überarbeitete Fassung des Vortrags "Ordnungsmacht Psychiatrie", den Marc Rufer am 10. September 2005 an der Tagung des BPE in Kassel hielt.) Das Tabu Die Psychiatriekritik ist seit längerer Zeit immer leiser geworden, ja nahezu verstummt. Es ist der Psychiatrie in den letzten Jahren gelungen, mit ihren wissenschaftlichen "Erfolgen" die Medien zu besetzen und damit ihr "image", das in den 1970er und 1980er Jahren doch schwer beschädigt war, ganz wesentlich zu verbessern. Heute ist die Rede vor allem von den biologischen Ursachen der psychischen Störungen und deren Behandlung mit Psychopharmaka. Die Balance der Neurotransmitter sei es, die die psychische Befindlichkeit des "gesunden, wie auch des "kranken" Menschen bestimmt. Durch ihre fortwährende Wiederholung wurden derartige Aussagen gleichsam zu gesellschaftlichen "Wahrheiten". Verschwiegen wird dabei, dass es sich dabei um schlecht belegte Hypothesen handelt. Obschon diese "Wahrheiten" auf tönernen Füssen stehen, haben sie eine deutliche Wirkung: Sie lenken von den nach wie vor verheerenden Praktiken des psychiatrischen Alltags ab. Nach wie vor sind und bleiben Zwang und Gewalt das bestimmende Element der heutigen Psychiatrie. Es ist noch kein Jahr vergangen, seitdem im Deutschen Ärzteblatt von einem drastischen Anstieg der Zwangseinweisungen berichtet wurde. (Müller, 2004, A-2794) Dabei gab es in Deutschland bereits 2000 ca. 140 000 Zwangsunterbringungen (175 pro 100 000 Einwohner.) (Dressing, 2004, 89) Besonders oft trifft es jüngere Männer, ältere Frauen, ferner arbeitslose und bereits mehrfach hospitalisierte Menschen; überrepräsentiert ist auch die Diagnose Schizophrenie. (Bruns, 1997, 62) Nach wie vor gelten Psychiaterinnen als Respektspersonen. Es herrscht Unsicherheit und Angst, schließlich ist potentiell jede und jeder in Gefahr, irgendwann als psychisch "krank" diagnostiziert zu werden. Die Psychiater gelten als die Experten, die den "Wahnsinn", beziehungsweise die "Geisteskrankheiten" sogar dann, wenn sie noch nicht ausgebrochen sind, diagnostizieren können. Ein Tabu verhindert den ungetrübten Blick auf die Psychiatrie: "Wo man nicht weiter zu fragen wagt oder nicht einmal auf den Gedanken kommt, hat man es mit einem Tabu zu tun." (Mitscherlich 1977, 111) Das Tabu reguliert die Einstellung zu einem Sachverhalt, wie das eine sehr mächtige Autorität, die keinen Widerspruch duldet, zu halten pflegt und führt damit zu einer Denkhemmung. Damit wird Erkenntnis verhindert. Der Gehorchende bleibt in der Position eines Kindes, das nicht fragen darf. So bewegt sich psychiatrisches Handeln seit jeher in einem gesellschaftlichen Schonraum. Gleichzeitig erklärt sich die Selbstsicherheit der Psychiater: Wer sie kritisiert, gerät schnell ins gesellschaftliche Abseits. Das gilt für die Psychiatriekritik ganz allgemein. Doch die Macht des Tabus, die Wirkung des "du sollst und darfst es nicht aussprechen, nicht benennen, nicht anprangern", ist an einer ganz bestimmten Stelle noch wesentlich größer, praktisch unüberwindlich: Es handelt sich um die Benennung der Schädigungen, die durch psychiatrische Zwangsmassnahmen ausgelöst werden können. Es fällt den Psychiaterinnen leicht, auf Grund einer willkürlichen Zusammenstellung von Symptomlisten fragwürdige und wissenschaftlich nicht gesicherte "Krankheiten" wie die "Schizophrenie" zu diagnostizieren. (Rufer, 2004, 112ff) Sie tun sich jedoch sehr schwer damit zuzugeben, dass ihre eigenen Handlungen für die Betroffenen hochgradig schädlich sein können. Vielmehr ziehen sie es vor, diese Schädigungen als Symptome der "Krankheit" zu bezeichnen, die ihrer Ansicht nach Grund für die Unterbringung war. Als ich von einer Studie zum Thema Aggression und Zwang in der Psychiatrie hörte, schöpfte ich Hoffnung. Doch Ernüchterung, als ich zu lesen begann: "Die Wahrscheinlichkeit, dass eine Pflegerin oder ein Pfleger der Akutpsychiatrie im Laufe der Berufskarriere von einem Patienten tätlich angegriffen wird, liegt bei über 70 Prozent."(Heusser, 2005,15) Also noch immer wird dieses üble Bild vermittelt: Es sind die Patientinnen, die die Pfleger und Schwestern angreifen. Zwang und Gewalt dann von Seiten der Pfleger und Ärzte Isolierung, Fixierung, Medikation ohne Einwilligung , wird, wenn überhaupt davon die Rede ist, als Antwort der Institution auf aggressives Verhalten der Insassen verstanden, als eine die krankhafte Aggression begrenzende Behandlungsmaßnahme. Dabei ist die Aggressivität der Betroffenen in der Psychiatrie praktisch immer eine provozierte, eine durch die Situation bewirkte Aggressivität. Sie ist keineswegs einfach als Symptom zu betrachten, als krankhafte Besonderheit, die nun einmal zu diesen Menschen gehört. Einfühlung wäre nötig: Wenn jemand sich gegen die Einweisung an einen Ort, den er fürchtet, sich gegen Einsperrung und Isolation, gegen die Einschränkung elementarster Menschenrechte, gegen die zwangsweise Trennung von den Menschen, die er liebt oder gegen die Einnahme von Medikamenten wehrt, kann das doch nicht als Krankheitssymptom bezeichnet werden. Es handelt sich hier mit größter Wahrscheinlichkeit um eine einfühlbare, gesunde und selbstverständliche Reaktion eines Menschen, der seine Freiheit braucht und liebt. Die Psychiatrie - kein medizinisches Spezialfach wie die andern Die Psychiatrie hat eindeutig und offensichtlich eine Doppelfunktion. Nicht nur soll sie psychisch leidenden Menschen helfen und sie möglichst heilen (was ihr übrigens auch im besten Fall kaum gelingt), sondern sie hat auch eine Ordnungsfunktion, bisweilen auch soziale Kontrolle genannt. Am deutlichsten zeigt sich dies darin, dass Psychiaterinnen befugt sind, Zwang und Gewalt anzuwenden. Es handelt sich dabei um Gewalt, die im staatlichen Auftrag ausgeübt wird; sie rückt die Psychiatrie in die Nähe der Polizei, deren Wirken sie ergänzt. Wo staatlich sanktionierte Eingriffe notwendig erscheinen, ohne dass Delikte begangen wurden, tritt die Ordnungsmacht Psychiatrie in Aktion: "Psychisch Kranke sind in rechtsstaatlichen Demokratien die einzigen Menschen, denen die Freiheit entzogen werden darf, ohne dass sie eine Straftat begangen haben." (Finzen 1993, 13) Die Ordnungsfunktion der Psychiatrie wird kaum wahrgenommen, kann die Anwendung von Gewalt doch leicht als Hilfe und bestmögliche Behandlung ausgegeben und damit verschleiert werden. Die Verbindung mit der Medizin veredelt diese Eingriffe. Sanktionen werden so zu Maßnahmen der Hilfe und Menschlichkeit, was sie fälschlicherweise legitimiert. Kritik wird dadurch massiv erschwert, ja praktisch verunmöglicht. Allenfalls können gewalttätige Exzesse kritisiert werden, nicht aber die Tatsache, dass die Psychiatrie als Ganzes diese Aufgabe willig und klaglos übernommen hat. Dabei ist es doch ein riesengroßer Unterschied, ob eine Behandlung durchgeführt wird, um dem betreffenden Menschen bestmöglich zu helfen, oder ob es schlicht und einfach darum geht, die gefährdete Ruhe und Ordnung wiederherzustellen. Was wird denn eigentlich sanktioniert? Was ist sie denn die schlimme Tat der Betroffenen, der Grund, wieso gegen sie oft richtiggehend erbarmungslos vorgegangen wird? Es geht um die Verweigerung dieser Menschen gegenüber der Zuverlässigkeit, Regelmäßigkeit, Planbarkeit, Verfügbarkeit, wie sie heute im durchstrukturierten Arbeitsprozess gefordert und vorausgesetzt wird. (Bruns, 1993, 18) Doch nicht nur dort: Auch außerhalb der Arbeit, im privaten Bereich, sind diese Eigenschaften in unserer durchgeplanten Gesellschaft unverzichtbar und selbstverständlich geworden. Wer sie nicht aufweist, wird bald einmal ausgegrenzt, sein Platz in der Gemeinschaft der Angepassten ist hochgradig gefährdet. Und -das darf an dieser Stelle nicht vergessen werden - in der psychiatrischen Klinik sind Behandlungen, insbesondere Zwangsbehandlungen, in vielen Fällen ganz klar und auf kaum durchschaubare Weise mit Motiven der Disziplinierung und Strafe für ungebührliches Verhalten verwoben. Das Gefährlichkeitskriterium In vielen Ländern, u.a. auch in Deutschland, ist die Gefährlichkeit - Selbst- oder Fremdgefährlichkeit - der Betroffenen eine wichtige, gesetzlich festgehaltene Voraussetzung für eine Zwangsunterbringung. Es wird vom Gefährlichkeitskriterium gesprochen. Doch das Gefährlichkeitskriterium wird in der Praxis nicht überall gleich umgesetzt. Was ist denn Gefährlichkeit? Da kann bereits das Werfen einer Bananenschale, eine rein verbale Drohung ohne Tätlichkeit, die erhobene Hand, die möglicherweise schlagen oder etwas werfen könnte, hinreichender Grund für eine Zwangsunterbringung sein. Miteingeschlossen in den vagen Begriff der Gefährlichkeit wird oft sogar die Gefährdung von eigenem oder fremdem, materiellem Besitz. Meiner Erfahrung nach wird der Befund Fremd- oder Selbstgefährlichkeit vom Arzt oft ohne zu zögern und ohne längere Abklärungen geradezu leichtfertig auf Einweisungszeugnisse geschrieben. Und dieser Befund ist keine klare und eindeutige Feststellung, vielmehr eine Vermutung, eine höchst unsichere Vorhersage. Nach amerikanischen Untersuchungen liegt die Zuverlässigkeit der klinischen Vorhersage (dazu gehört die Gefahrenvermutung allemal) nicht über derjenigen der Zufallswahrscheinlichkeit. (Bruns, 1993, 40) Die tatbestandslose Unterstellung einer Gefahr und die darauffolgende Unterbringung kann aus juristischer Sicht bei nachsichtiger Interpretation nur als eine gesetzlich fragwürdige präventive Maßnahme, bei strenger Interpretation als Freiheitsberaubung betrachtet werden. (Bruns, 1993, 42) Im Grunde müsste von präventiver Zwangsunterbringung, psychiatrischer Präventionshaft, beziehungsweise Vorbeugehaft für psychisch Kranke gesprochen werden. Ganz klar werden Zwangsunterbringungen nicht selten durchgeführt, um eine von der Betroffenen abgelehnte Behandlung zu erzwingen. Ambulante Zwangsbehandlung In den meisten Staaten der USA ist die bedingte Entlassung von Psychiatriepatientinnen und die ambulante Zwangsbehandlung im Laufe der 80er- und 90er-Jahre des letzten Jahrhunderts gesetzlich etabliert worden. Die Gesetze Belgiens, Schwedens, Portugals und Luxemburgs erlauben die ambulanten Zwangsbehandlung für Patientinnen, die zuvor untergebracht waren, verbunden mit der Möglichkeit einer stationären Wiederaufnahme bei Verstößen gegen Behandlungsauflagen. (Dressing, 2004, 138/153). In Deutschland, Großbritannien und der Schweiz wird über die Möglichkeit der ambulanten Zwangsbehandlung intensiv diskutiert. Großbritannien kennt Entlassungen unter Aufsicht (discharge under supervision), Frankreich die bedingte Entlassung. Bedingte Entlassungen, bzw. Entlassungen unter Aufsicht, schaffen eine Situation, die faktisch derjenigen einer ambulanten Zwangsbehandlung entspricht, auch wenn sie im Gesetz nicht ausdrücklich vorgesehen ist. Im Übrigen wird damit die nahe Verwandtschaft mit der Strafjustiz nur allzu deutlich. Auch dort gibt es bekanntlich bedingte Entlassungen. Dass in vielen Ländern Zwangsbehandlungen auch außerhalb der Klinikmauern möglich wurden, bedeutet eine dramatische Ausweitung der Ordnungsfunktion der Psychiatrie, die sie noch weiter von der körperlichen Medizin hinwegführt: Die Sonderstellung der Psychiatrie innerhalb der Medizin wird immer offensichtlicher. Die Psychiatrie auf der ganzen Welt ist daran, ihre Aufgaben auszuweiten. Der Übergang zur Strafjustiz wird immer fließender. Das Netz, das der Überwachungsstaat flechtet, wird immer dichter: Und die Psychiatrie macht mit. Die traumatische Reaktion Die psychischen Folgen von Traumatisierungen - Vergewaltigung, Geiselnahme, brutaler Raubüberfall, politisch oder religiös motivierte Verfolgung, verschiedenste Formen der Folter - sind gut bekannt und sorgfältig aufgezeichnet: Die Grundlage all dieser Traumatisierungen ist ein radikales Macht-/Ohnmachtgefälle: Absolute Übermacht auf der einen, klar ersichtliche Ohnmacht auf der andern Seite. Die Betroffene befindet sich in der Gewalt des/der ihm gegenüberstehenden Menschen. Wie immer sie sich wehrt, sie hat absolut keine Chance, sich durchzusetzen. Je mehr sie sich wehrt, desto brutaler wird sie traktiert, geschlagen, gequält. Die traumatisierende Situation erzwingt eine umfassende Reinfantilisierung des Opfers. (Ehlert, 1988, 505) Die absolute Hilflosigkeit, die existentielle Abhängigkeit von den Absichten eines anderen versetzen das Opfer gefühlsmäßig in seine früheste Kindheit zurück; elementarste Kindheitsängste werden wiederbelebt. Die Grenze zwischen Realität und Phantasie verschwimmt. Das traumatisierte Ich versucht so lange als möglich, verzweifelt daran festzuhalten, dass die aktuelle Wahrnehmung der Realität nur ein böser Traum sei, aus dem es bald wieder erwachen werde. (Ehlert, 1988, 506) Dieser Zustand ist heikel, die Verkennung der Realität einerseits hilfreich, andererseits äußerst gefährlich; es kann zur totalen Verwirrung kommen. Das Selbstbild des Opfers gleicht sich dem Fremdbild des Täters an (Ehlert, 1988, 520), wird damit identisch. Damit setzt sich in seinem Innern das vom Verfolger propagierte Feindbild fest: Eine Unterwerfung also, eine Übernahme der Ansicht des Täters; sie ist mit dem Eingeständnis, so wie frau/man ist, nicht richtig "böse" oder "schlecht" zu sein, verbunden. Das geht so weit, dass die Täter gleichsam als Vertreter des Rechts wahrgenommen werden, währenddem sich die Opfer schuldig und verachtenswert fühlen. Bekannt ist insbesondere das auf Grund der objektiven Gegebenheiten unverständliche Schuldgefühl von ehemaligen KZ-Insassen und von missbrauchten Kindern. So beweist denn allein die Tatsache, dass eine bestimmte Frau vergewaltigt wurde, in den Augen des Täters und damit via Introjektion auch oft in denjenigen des Opfers, dass sie es verdient hat, macht sie zur Hure: "Nur Huren werden vergewaltigt", das ist die unausgesprochene Argumentation der Vergewaltiger. Der Hauptabwehrmechanismus, mit dem das Ich versucht, die Traumatisierung zu bewältigen, ist die Abspaltung, beziehungsweise die Dissoziation. Weder fehlt den Opfern die Erinnerung an das traumatische Ereignis (sie können sich in der Regel überdeutlich daran erinnern), noch ist die traumatische Erinnerung von ihren zugehörigen Affekten entblösst - das Entsetzen über die erlittene Tat ist den Opfern meist Jahre und Jahrzehnte später noch unmittelbar anzusehen. Ihre Abwehr besteht vielmehr in dem Versuch, das traumatische Erlebnis und die mit ihm verbundenen Affekte nicht in Kontakt mit dem sonstigen Leben kommen zu lassen. Der traumatische Komplex - Erinnerung und Affekt - bleibt also unverändert erhalten, aber er wird vom gesamten restlichen Erleben abgespalten. (Ehlert, 1988, 524) Die Ichspaltung kann sich als "flashback" manifestieren: Das Opfer sieht sich bisweilen urplötzlich und unvermittelt in die traumatische Situation zurückversetzt. Es handelt sich um kurze Anfälle, die meist nur einige Sekunden dauern. In dieser Zeit ist der Kontakt zur Außenwelt gestört. Was bleibt bei vielen Traumatisierten, ist vor allem ein Gefühl der Schuld. Sie schämen sich, verachten sich selbst, leiden wegen ihrer Abhängigkeit vom Täter. In dieser verzweifelten Situation ertragen sie sich selbst nicht mehr, möchten sich endgültig auslöschen, von dieser Welt verschwinden. So ist denn bei vielen Traumatisierten eine deutliche Tendenz, Selbstmord zu begehen, zu beobachten. Im Grunde ist nun der äußere Verfolger, der die Betroffenen quälte und zu vernichten drohte, durch einen inneren ersetzt worden, der das Werk seines Vorgängers fortsetzt. Traumatisierung in der psychiatrischen Klinik BIOLOGISCH AUSGELÖSTE, PSYCHISCHE FOLGEN DER HOCHDOSIERTEN INJEKTION EINES NEUROLEPTIKUMS: Es können delirante Syndrome, bzw. toxische Delire auftreten: Verwirrung, Desorientierung, Halluzinationen also auf Grund der Medikamentenwirkung. Genau die Symptome, die die PsychiaterInnen um jeden Preis wegbehandeln wollen, provozieren sie demnach nicht selten, rein biologisch ausgelöst, mit ihren Psychopharmaka. Weitere psychische Wirkung der Neuroleptika: Dämpfung, Schlaf, Schläfrigkeit, Beeinträchtigung des intellektuellen Leistungsvermögens, des Gedächtnisses, der Kreativität, der Gefühlswahrnehmung, Depressivität, Resignation, suizidale Tendenzen, Störungen des sexuellen Erlebens. Nicht vergessen werden darf, dass auch tödliche Komplikationen zu den Wirkungen dieser Medikamente gehören. DIE TRAUMATISCHE REAKTION IN DER KLINIK Für eine Zwangsbehandlung wird wenn nötig das sogenannte "Aufgebot" herbeigerufen: Bis zu acht, zu körperlicher Gewalt bereite Pfleger, stehen einem Betroffenen gegenüber. Doch auch Zwangsunterbringungen, nicht selten von gewaltbereiten Polizisten durchgeführt, sind oft ein dramatisches Geschehen. So sind denn diese Konfrontationen durchaus vergleichbar mit einer Vergewaltigung oder Folter. Im Milieu der psychiatrischen Klinik erhalten Traumatisierungen eine besonders ungünstige Prägung: Zu beachten ist, dass die Betroffenen bereits im Vorfeld der Einweisung in schwerwiegende Konflikte mit ihren Angehörigen, Arbeitgeber oder Lehrer usw. verwickelt sind, auf Grund derer sie sich in einer Krisensituation befinden. Andererseits werden sie sogleich den Wirkungen der Neuroleptika ausgesetzt. Ihre Fähigkeit, die Folgen der Traumatisierung bewusst zu verarbeiten, ist damit ganz wesentlich beeinträchtigt dazu bräuchte es vor allem ein möglichst klares Bewusstsein und intakte Gefühle. Die zu Beginn auftretende Verwirrung kann durch die Wirkung der Neuroleptika massiv verstärkt werden. Mit der unfreiwilligen Unterbringung, insbesondere wenn es sich um den ersten Kontakt mit der Psychiatrie handelt, ist die Betroffene meistens unvorbereitet dem Schock ihrer ersten Diagnose ausgesetzt. Psychiatrische Diagnosen, insbesondere die Diagnose "Schizophrenie", von der jede und jeder in unserer Gesellschaft eine Vorstellung haben, verändern auf einen Schlag das Selbstverständnis eines Menschen. Fast unmöglich, sich dieser Wirkung zu entziehen. Dies vor allem auch, weil sämtliche Bezugspersonen, sowohl in der Klinik wie die Angehörigen der Betroffenen außerhalb, von der Diagnose hören und sie als Expertenmeinung akzeptieren. Zudem werden Betroffene nach der Zwangsbehandlung isoliert. Isolation, bzw. der damit verbundene Wegfall der gewohnten Sinnesreize (sensorische Deprivation), führt zum Auftreten von außergewöhnlichen Bewusstseinszuständen (ABZ), zu deren Erscheinungsbild unter anderem Wahrnehmungsverzerrungen, Halluzinationen, Veränderungen der Emotionalität und auch Hypersuggestibilität gehören. Die Betroffenen können leicht beeinflusst werden. Wer zwangsbehandet wurde, dem kann die Diagnose und das mit ihr verbundene Wissen besonders leicht als neue Identität übergestülpt werden. Und zur Diagnose, zur neuen "kranke" Identität, gehört fast zwingend zunehmend "krankhaftes" Verhalten. Die Einverleibung des Fremdbildes, das der Täter vom Opfer hat bedeutet in der psychiatrischen Situation die Übernahme der Krankenrolle. Nur indem die Betroffene die Krankenrolle den Vorstellungen der Psychiaterinnen entsprechend zu spielen vermag mit anderen Worten krankheitseinsichtig ist , vermag sie in gewissem Ausmaß Zuwendung und Anerkennung von denjenigen, denen sie ausgeliefert ist, zu erlangen. So erschaffen den Zwangsbehandlungen gleichsam bis heute den "echten Geisteskranken", genauso wie früher Vergewaltigungen Frauen zu Huren machten: "Dieser Mensch muss "echt schizophren" sein, "echt gefährlich"; die vollzogene Zwangsbehandlung beweist es." So lautet die unausgesprochene Argumentation der Menschen, die in psychiatrischen Kliniken und ihrem Umfeld beruflich tätig sind. Zwangbehandlungen stigmatisieren, brennen den Betroffenen das Kainsmal auf die Stirne. Die geschilderten Verschmelzungswünsche, die Sehnsucht nach Liebe, schaffen eine existenzielle Bindung an und Abhängigkeit der Betroffenen von der Psychiatrie und den dort tätigen Menschen. Äußerst schwierig, sich diesem Sog zu entziehen. Zu alldem kommt die mit der Traumatisierung verbundene gesteigerte Tendenz, Selbstmord zu begehen, hinzu, die wiederum von der entsprechenden Wirkung der Neuroleptika potenziert wird. Nicht nur geht es Betroffenen, die Zwangmaßnahmen erlebten sehr schlecht, ihr Zustand kann zudem von den Psychiaterinnen mit Leichtigkeit als schwer "krank", "psychotisch" oder "schizophren" bezeichnet werden. Genau die Symptome also, die die Psychiaterinnen zu behandeln vorgeben - Verwirrungen, Halluzinationen, die Neigung, Selbstmord zu begehen sowie die Hilflosigkeit der Betroffenen - können durch ihre Eingriffe potenziert, verfestigt, ja sogar neu erschaffen werden. Mit ihren Behandlungen rechtfertigen sie im Grunde ihre eigene Existenz. Die Abspaltung des traumatischen Komplexes verhindert auf lange Zeit hinaus die bewusste Auseinandersetzung mit den Ereignissen, die in der Klinik stattgefunden haben, was den Betroffenen daran hindert, sein Leben wieder autonom organisieren und bewältigen zu können. Wer je mit traumatisierten Menschen Kontakt hatte, weiß, wie wichtig es ist, ihnen sorgfältig, einfühlend und zurückhaltend zu begegnen. Schon nur den Ort der Traumatisierung wiederzusehen, bedeutet für sie oft eine riesengroße Belastung. Besonders schlimm für sie ist das Wiederleben des Traumas, die Retraumatisierung. Genauso wie das Rehospitalisationsrisiko für zwangsuntergebrachte Betroffene besonders groß ist, ist auch die Wahrscheinlichkeit groß, dass Zwangsbehandlungen im Laufe früherer Hospitalisationen Zwangsbehandlungen während weiterer Unterbringungen nach sich ziehen. Erklärt wird dadurch, wieso sich der Zustand vieler Psychiatriepatientinnen im Laufe sich folgender Hospitalisationen fortwährend verschlechtert. Zwangsmassnahmen sind also auch eine wesentliche Ursache der langfristigen Veränderungen, die von den Psychiaterinnen als Chronifizierung bezeichnet werden. Traumatisierung - auch ein soziales, beziehungsweise politisches Geschehen (Brunner, 2004, 13) Individuen sind traumatischen Ereignissen deshalb ausgesetzt, weil sie verwundbaren sozialen Gruppen angehören. Obwohl jedes Individuum traumatisiert werden kann, ist die tatsächliche gesellschaftliche Verteilung von Traumata politisch bedingt. Für Angehörige armer und benachteiligter sozialer Gruppen ist die Wahrscheinlichkeit, traumatisiert zu werden, erhöht. Diejenigen, die sich nicht Gehör zu verschaffen verstehen, die sich nicht im Rampenlicht der gesellschaftlichen Aufmerksamkeit befinden, bleiben für den Trauma-Diskurs unsichtbar. Dadurch, dass Traumatisierungen Individuen seelisch verletzten, schränken sie deren Autonomie und damit auch die Möglichkeiten ihres Handelns ein. Das Ausmass, in dem Angehörige einer sozialen Gruppe potentiell traumatischen Ereignissen ausgesetzt sind, wird somit Bestandteil der kollektiven und individuellen Identität und des Selbstverständnisses der Gruppe und ihrer Angehörigen (bei Frauen etwa dadurch, dass sie potenzielle Vergewaltigungsopfer sind). Auch diejenigen, die nicht direkt von der Anwendung von Gewalt betroffen sind, können an deren Folgen schwer leiden. Ganz besonders gilt das für Psychiatriepatientinnen, die selber nicht Opfer einer Zwangsbehandlung wurden: Jede und jeder, die in einer psychiatrischen Klinik hospitalisiert sind, wissen von der Möglichkeit der Zwangsbehandlung. Entweder waren sie zugegen, haben zugeschaut oder das unangenehme Gelärme mitgekriegt - Zwangsbehandlungen sind immer ein lautes Geschehen, es wird geschrieen, geschlagen, Stühle fallen um usw. · Brunner, José, 2004: Politik der Traumatisierung. Zur Geschichte des verletzbaren Individuums. In: WestEnd Heft 1, Frankfurt am Main, S. 7-24 · Bruns, Georg, 1993: Ordnungsmacht Psychiatrie? Opladen, 1993 · Bruns, Georg, 1997: Die psychiatrische Zwangseinweisung. In: Michael Eink (Hg.): Gewalttätige Psychiatrie. Bonn. · Dressing, Harald/ Salize, Hans Joachim, 2004: Zwangsunterbringung und Zwangsbehandlung psychisch Kranker. Bonn · Ehlert, Martin/Lorke, Beate, 1988: "Zur Psychodynamik der traumatischen Reaktion". Psyche, 42, S.502-532. · Finzen, Asmus/ Haug, Hans-Joachim/ Beck, Adrienne/ Lüthi, Daniela, 1993: Hilfe wider Willen, Bonn · Heusser, Regula, 2005: Aggression und Zwang in der Psychiatrie. Neue Zürcher Zeitung, 01.02., S. 15 · Mitscherlich, Alexander/ Mitscherlich, Margarete, 1977: Die Unfähigkeit zu trauern. München, Zürich · Müller, Peter, 2004: Psychiatrie: Zwangseinweisungen nehmen zu. In: Deutsches Ärzteblatt 101, (15.10.2004), S. A-2794 · Rufer, Marc, 2001: Psychopharmaka - fragwürdige Mittel zur Behandlung von fiktiven Störungen. In: Wollschläger, Martin (Hg.): Sozialpsychiatrie, Entwicklungen, Kontroversen, Perspektiven. Tübingen. S. 225-268 · Rufer, Marc, 2004: Ordnungsmacht Psychiatrie. In: Widerspruch Heft 46, Zürich, S. 109-124. |
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