Schoah-Dokumente: Siegt der Zeitgeist über die historische Wahrheit?
Geht es nach dem Willen des WJC, des World Jewish Congress, dann sollen alle Dokumente, die mit dem Mord an den europäischen Juden in Verbindung stehen (Holocaust-related documents), in die zentrale israelische Gedenk- und Forschungsstätte Jad Vaschem überführt werden. Deren Direktor, David Bankier, findet den ehrgeizigen Plan großartig, zumal seine Realisierung künftig die Holocaust-Forscher davon befreie, „von Land zu Land reisen zu müssen“. Sei der „unglaubliche Schatz“ erst einmal in Jerusalem, dann ließe sich, so verspricht man sich beim WJC, ein detailliertes „Bild des jüdischen Lebens vor dem, während des und nach dem Holocaust“ zeichnen. Nach einem Beschluss, der kürzlich auf der Konferenz Confronting history fiel, soll Jad Vaschem nun an die einzelnen Regierungen, insbesondere an die europäischen, mit zielgerichteten „förmlichen Anfragen“ herantreten.
Das Vorhaben ist abwegig. Wollte man es tatsächlich verwirklichen, würden die geschichtlichen Zusammenhänge, die zum Holocaust führten und die Dynamik des Mordens bestimmten, nicht etwa deutlicher, sondern vernebelt werden. Aus guten Gründen sind heute fast sämtliche historischen Archive nach dem so genannten Provenienzprinzip aufgebaut. Das bedeutet, die einzelnen Urkunden, Schriftstücke oder Fotos werden nach Möglichkeit in dem Zusammenhang belassen, in dem sie entstanden sind. Nur so behalten sie ihre Aussagekraft, nur so bleiben sie auf Dauer glaubwürdig. Nur wenn weiterhin untersucht werden kann, wie, wann und warum wer einen Brief an welchen Adressaten unter Berücksichtigung welcher Interessen geschrieben hat, lassen sich die Fragen wechselnder Forscher und Generationen beantworten.
Einzig das zu Beginn des 19. Jahrhunderts in England und Frankreich eingeführte Provenienzprinzip bewahrt den Entstehungszusammenhang und den Respekt vor den vielschichtigen Vergangenheiten. Es erhält die gewachsenen organisatorischen Strukturen, in denen Menschen dachten, handelten, sich irrten oder zu Unmenschen wurden – ihre Institutionen, Hierarchien und Ordnungsvorstellungen. Es verzichtet darauf, die historische Überlieferung nach den Maßstäben der Gegenwart zuzurichten. Die Überlieferung würde unweigerlich der Wechselhaftigkeit und der Willkür unterworfen.
Das Gegenteil des Provenienzprinzips ist das „Pertinenzprinzip“. In diesem Fall legt der Archivar ein aus den Launen und den in seiner Gegenwart gerade modischen Fragen gewonnenes Schema von Sachbegriffen über die Bestände des Vergangenen. Er sortiert sie neu und sortiert aus, er presst das Vergangene ins Raster des herrschenden Zeitgeists. So verfuhr zum Beispiel die Archivverwaltung der DDR. Sie pickte die Akten zur Arbeiterbewegung aus allen Einzelüberlieferungen heraus und übergab sie dem Institut für Marxismus-Leninismus, das sie zu einer Quelle der Staatsmythologie umformte. Ein solches Verfahren nützt der Kanonisierung, schneidet kritische Fragen ab und zerstört die alte Verwaltungsüberlieferung. Die Überlieferung wird dem politischen Opportunismus und dem Gutdünken einer Zeit unterworfen.
Ein Beispiel: Um den historischen Kontext zu bewahren, müssen die Sonderfahrpläne der Reichsbahn zur Deportation von Juden weiterhin neben den Fahrplänen für die Heranschaffung von polnischen Zwangsarbeitern, zur Verteilung von Saatkartoffeln und zur Beförderung von Soldaten liegen. Nur so lassen sich Prioritäten ermessen, lassen sich politische Entscheidungsbildungen nachvollziehen. Nur so kann der spätere Betrachter ein Bild von den verantwortlichen Beamten im Reichsverkehrsministerium gewinnen.
Wie soll die „Arisierung“ von Professorenstellen, Geschäften und Liegenschaften beispielsweise in Göttingen noch verstanden werden, wenn sie von der Geschichte der Stadt abgelöst wird? Wie soll jemand den Raub des Zahngoldes der ermordeten Geisteskranken und Juden begreifen, wenn er nicht vorher klärt, welche Bedeutung die Reichsbank jeder Art von Gold für die Kriegsführung beimaß?
Wie alle anderen historischen Dokumente können auch die über den Holocaust allein aus den kulturellen und den lokalen Zusammenhängen ihrer Entstehung interpretiert und historisch eingeordnet werden. Wer sie davon isolieren und unter dem Pertinenzgesichtspunkt „Schoah“ in Jad Vaschem sammeln möchte, der vermindert die Möglichkeiten der Aufklärung, anstatt sie zu fördern. Die führenden Politiker der Interessenorganisation WJC haben sich in dieser Frage verrannt. Das mag noch hingehen. Wenn aber der Leitende Historiker in Jad Vaschem die Grundprinzipien des Faches missachtet, erscheint das bedenklich.
Dahinter steckt ein allgemeineres Problem: Eine Holocaust-Forschung, die sich immer weiter spezialisiert und mit der Zeit das Verständnis für komplexe geschichtliche Zusammenhänge verliert, die gibt auf die Dauer auch ihre wissenschaftliche Überzeugungskraft preis.
Der Autor ist Historiker und lebt in Berlin
(c) DIE ZEIT 05/2003
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