Donnerstag, 23. April 2009

Völkerrecht vs. Landesrecht

Das Gutachten Robert Nefs
Soll Völkerrecht Landesrecht brechen?
Von Hermann Lei, Rechtsanwalt, Frauenfeld

«Blocher reitet Attacke auf das Völkerrecht!» titelten die Medien nach einer Rede zum Nationalfeiertag 2007. Reiner Wahlkampf sei das, redeten Staatsrechtsprofessoren den magistralen Angriff auf ihre Deutungshoheit klein. Es ist anders gekommen, die Debatte um das Völkerrecht ist immer noch da.

Und das zu Recht, meint Robert Nef, Jurist und Präsident des Stiftungsrates des Liberalen Instituts. Nef hat ein staatspolitisches Gutachten zum Völkerrecht verfasst, das am 10. Februar 2009 anlässlich einer Pressekonferenz der SVP vorgestellt wurde. Das über zwanzig Seiten umfassende Thesenpapier stellt bereits im Titel die Frage: «Soll Völkerrecht Landesrecht brechen?» Die Antwort fällt differenziert aus: Völkerrecht ja, aber nicht unbegrenzt und nicht im Widerspruch zu unserer historisch gewachsenen, freiheitlichen und demokratisch legitimierten rechtlichen und politischen Grundordnung.

Robert Nef äussert sich unter einem politischen Blickwinkel als Publizist und als Vertreter einer liberalen Grundhaltung. Er bestreitet nicht den hohen Stellenwert des humanitären Völkerrechts für die Schweiz und die bedeutenden Beiträge dieses Landes zu seiner Weiterentwicklung. Es geht ihm vielmehr darum, die Kerngedanken in Erinnerung zu rufen und auf die Gefahren einer unbegrenzten Ausweitung zu Lasten der demokratisch verankerten Landesgesetzgebung aufmerksam zu machen. Wie in der Schweiz immer mehr Aufgaben – aus Bequemlichkeit, aus dem Wunsch nach Klarheit und Hierarchien oder vielleicht auch aus diffusen psychologisch-ästhetischen Gründen – von den Kantonen an den Bund übertragen werden, so fördern unsere höchsten Gerichte die Zentralisierung und Etatisierung durch den von ihnen statuierten Primat des Völkerrechts.

Politik durch die Hintertür

Eine solche Vorrangstellung des Völkerrechts gegenüber dem Landesrecht gibt es indes gar nicht, wie Nef – mit liberalen, aber auch mit juristischen Argumenten – nachweist. «Weil grundlegende Reformen als solche nicht konsensfähig sind, tut man so, wie wenn sich nichts ändern würde, schafft aber in kleinen Schritten jene vollendeten Tatsachen, bei denen es dann kein Zurück mehr gibt. Dass der EU-Beitritt trotz gegenteiliger Volksentscheide bei vielen Bundesinstanzen immer noch als Hauptszenario ohne glaubwürdige Alternativen traktandiert bleibt, ist nur das augenfälligste Exempel.»

Das Gutachten räumt aber auch mit anderen Klischees auf: Welthandel braucht keinen Weltstaat. «Das Gegenteil ist plausibler. Der Welthandel bleibt auf eine Vielzahl von friedlich konkurrierenden Problemlösungsmodellen angewiesen (...). Zentrale Macht macht dumm, weil sie den Verzicht auf jenes Lernen ermöglicht, das sich vorzugsweise an der Peripherie der Problembereiche abspielt.»

Und: Man kann sich kaum mehr eine staatliche Aktivität oder Intervention vorstellen, die nicht irgendwie mit einem Kampf gegen sogenannte «Menschenrechtsverletzungen» dieser Art gerechtfertigt werden könnte. Durch die Hintertür der «aktiven Menschenrechtspolitik» marschiert der Etatismus mit dem Motto des «Primats der Politik» wieder auf die politische Bühne.

Nefs Forderung: Nur zwingendes Völkerrecht soll Vorrang vor dem Landesrecht haben. Der als «zwingend» zu betrachtende Kern ist so begrenzt und so hart wie möglich zu definieren. Damit dürfte das Verbot des Angriffskrieges, das Verbot der Folter, das Verbot des Völkermords, und das Verbot der Sklaverei gemeint sein.

Bewährte Maximen

Nef ortet auch eine zunehmende Bedeutung des Völkerrechts in der Aussenpolitik: Völkerrechtliche Verträge und Mitgliedschaften engen unser Handeln ein – Verträge sind schliesslich einzuhalten. Aussenpolitik sollte sich aber, so Nef, an bewährten Maximen orientieren. Völkerrechtliche Verträge seien nur abzuschliessen, wenn sie an einer Art Checkliste der aussenpolitischen Maximen Neutralität, Solidarität, Disponibilitätund Universalitätgemessen worden seien.

Anstelle der Fixierung auf den EU-Beitritt und kniefallendem Bilateralismus sollte Universalismus, also allgemeine, globale Orientierung, gepflegt werden. Angesichts der Küsschen-und Kopftuchpolitik und sonstiger Grenzüberschreitungen unserer Aussenministerin wünscht man sich sodann auch, dass sich die Schweiz wieder auf ihr Prinzip der guten Dienste (Disponibilitätnennt das Nef) beschränken würde. Und mit Solidarität meint Nef nicht Ablasszahlungen an internationale Gremien, «um nicht aufzufallen», sondern durch bewusstes Anders-Sein. Solidarität heisst: «Wir machen da nicht mit!», könnte man die Haltung vielleicht nennen. Neutralität schliesslich ist eine weitere aussenpolitische Maxime, die den Kleinstaat schützt.

Sehr rasch werden heute in der internationalen Politik «good guys» zu «bad guys», man denke da z.B. an die Taliban. «Die selbsternannte neutralitätsskeptische Elite in der Schweiz muss sich sehr wohl bewusst sein, welche Verantwortung sie übernimmt und welchem Demokratieverständnis sie verpflichtet ist, wenn sie gegen den Willen einer Mehrheit und im Widerspruch zu den derzeit in Kraft stehenden verfassungsrechtlichen Grundlagen diesbezüglich deutlich andere Signale ausstrahlt.» Die Schweiz sollte sich stattdessen in viel stärkerem Ausmass – auch finanziell und diplomatisch – für die Idee des IKRK engagieren.

One man, one vote?

Ein überdehntes Völkerrecht muss davon ausgehen, dass für alle Menschen die gleichen Gesetze gelten. Letztlich müsste jeder einzelne Mensch der Welt auch das gleiche Stimmrecht haben. Eine solche Weltdemokratie nach dem Mehrheitsprinzip von «one man one vote» würde das Schicksal der Welt an die Massenstaaten (China und Indien) ausliefern. Wollen wir das?, fragt Nef. Möglicherweise ist eine pluralistische Weltordnung, die sich auf möglichst vielfältige, friedlich konkurrierende politische Systeme abstützt robuster, weniger irrtumsanfällig und lernfähiger, obwohl das Risiko von vielen suboptimalen Lösungen und von unlösbaren Konflikten zwischen den kleineren Einheiten nicht negiert werden soll.

Zu guter Letzt thematisiert das Gutachten den offenbar unaufhaltsamen Vormarsch des exekutiv-richterlichen zentralen Komplexes gegen den auf die Legislative abgestützten nonzentralen Gesetzgebungsstaat. Dieser Prozess sei auch in der Schweiz beobachten. Das Bundesgericht übt immer weniger Zurückhaltung, wenn es Entscheide zu fällen hat, die politische Grundfragen betreffen, welche auf einer politischen Interpretation von Verfassungs und Gesetzesgrundlagen beruhen.

Rezeption

Nefs fundiertes Gutachten verzichtet bewusst und ausdrücklich auf eine ausführliche juristische Abhandlung der Ergebnisse. Ich meine, zu Recht, denn die Frage, welches Recht Vorrang hat ist ja gerade eine politische Frage. Man wird immer Juristen finden, welche die gerade herrschende Ordnung argumentativ stützen werden. Das ist auch in unserem Falle geschehen. Während die Zeitungen das Gutachten kaum erwähnten (die NZZ begnügte sich mit einigen Zitaten, welche sie in Ausführungszeichen setzte – ein untrügliches Zeichen des Blatts, sein Missfallen kundzutun), fühlten sich doch einige Staatsrechtler angesprochen.

Professor Walter Kälin (Universität Bern), welcher im Gutachten zitiert wurde, verwahrte sich gegen sein Zitat («Insgesamt läuft die Entwicklung des modernen Völkerrechts heute in Richtung vermehrter Zwangsdurchsetzung von oben.»). Es sei aus dem Zusammenhang gerissen, fand er. In Tat und Wahrheit liegt das Problem darin, dass Kälin offenbar – wie viele Staatsrechtler - mit «Zwangsdurchsetzung von oben» gut leben kann, derweil freiheitlich gesinnte Menschen damit Mühe haben.

Auch Professor Walter Haller (Universität Zürich) reagierte auf das Gutachten. Er liess verlauten: «Das Beispiel mit den Gemeindeversammlungen ist ausgesprochen populistisch emotional.» Welches Beispiel er Nef vorwirft, ist indes völlig schleierhaft; Nef erwähnt in seinem Gutachten nirgends eine Gemeindeversammlung. Professor Haller kritisiert damit eine Aussage Nefs, die dieser gar nicht gemacht hat. Dies ist umso fragwürdiger, als der Professor mit dem Ausdruck «populistisch-emotional» zu einem der stärksten Vorwürfe greift, die heutzutage in der öffentlichen Diskussion gemacht werden können.

Schlussfolgerung

«Es ist ein vorrangiges politisches Anliegen, die Entwicklung des Völkerrechts im Hinblick auf seine Übereinstimmung mit der verfassungsrechtlichen Grundordnung unseres Staates scharf und kritisch zu beobachten und die Öffentlichkeit darüber kontinuierlich zu informieren. Diese kritische Beobachtung richtet sich nicht gegen das Völkerrecht als solches, sondern gegen seine Überschätzung, seine unkontrollierte Ausweitung, gegen alle Formen der nicht zwingend notwendigen Anpassung und des vorauseilenden Gehorsams, und gegen seinen Missbrauch zur Durchsetzung von Gedankengut, das nicht von einer Mehrheit getragen wird.»

Dem ist nichts hinzuzufügen.

Hermann Lei

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