Donnerstag, 9. April 2009

Bildungspolitik in der Schweiz

Meine sehr verehrten Damen und Herren

Es ist mir eine Freude und eine Ehre, dass ich heute vor Ihnen zum Thema „Bildung“ sprechen darf. Ich habe in der Weltwoche verschiedene Artikel geschrieben, die sich kritisch mit aktuellen Tendenzen der Schweizer Bildungspolitik auseinander setzen. Um den Kanton Aargau kommt man da – fast hätte ich gesagt: leider – nicht herum. Es hiesse allerdings, Eulen nach Athen zu tragen, wenn ich mit einem Strauss Kleeblätter zu Ihnen käme – Sie wissen, welche Art Kleeblatt ich meine. Mit dem Ihnen wohlbekannten „Bildungskleeblatt“ prescht der Aargau zwar weiter vor als andere Kantone, aber die ambitionierten Reformprojekte sind durchaus typisch für den bildungspolitischen Zeitgeist.

Manches läuft schief, wie Sie im Alltag und in Ihren Unternehmen auch schon erlebt haben werden. Ich möchte Ihnen im Folgenden fünf Problembereiche oder populäre Irrtümer skizzieren, die derzeit im Bildungsbereich auszumachen sind.

Irrtum 1: Reformwahn
Politik und Bildungsbürokratie gehen davon aus, dass die Probleme der Schule durch ständige institutionelle Reformen zu bewältigen sind. Neue Lehrpläne, neue Fächer, neue Leitbilder, ein neues Beurteilungssystem, ein neue Einschulung und vor allem eine völlige Neugestaltung der Klassentypen (Stichwort: integrative Schulung) sollen es richten. Spricht man mit Praktikern, also mit Lehrerinnen und Lehrern, wird schnell deutlich, dass die endlose Reformflut mehr Problem schafft, als sie löst. Den Leuten an der Front, sagt Max Müller, langjähriger und kürzlich zurückgetretener Präsident des Lehrervereins Baselland, gingen die permanenten Änderungen auf den Geist. Es sei nicht zu erkennen, wo der „Nutzeffekt“ liege. Zahlen bestätigen diese Einschätzung. Laut einer Umfrage des Lehrer-Dachverbandes bei 4200 Lehrpersonen bezweifeln drei Viertel der Befragten, dass die laufenden Reformvorhaben – vor allem das Projekt „Harmonisierung der obligatorischen Schule“ (HarmoS) – zu einem guten Ende kommen.

Besonders kritisch beurteilen viele Lehrer die „Integration“, sprich: die weit gehende Abschaffung der Sonderschulen und die Reduktion von drei auf zwei Oberstufenlevels. Erstes Ziel jeder Schulpolitik sollte es doch wohl sein, das Niveau der Ausbildung zu erhöhen. Genau das Gegenteil ist jedoch vom schön klingenden Slogan „Integrieren statt Separieren“ zu befürchten. Urs Loosli, Präsident der Sekundärlehrkräfte des Kantons Zürich (Sek ZH), sagt: „Die Sonderklassen aufzulösen und das Niveau in den normalen Klassen zu halten oder zu steigern – diese Rechnung geht nicht auf.“ Es ist leicht vorauszusehen: Das Potenzial für Unruhe wächst durch die schwierigen Schüler, zu erwarten ist eine Angleichung der Leistungen nach unten.

Irrtum 2: Bürokratisierung
Hand in Hand mit der permanenten Umgestaltung des Bildungswesens geht eine zunehmende Bürokratisierung. Der Koordinationsaufwand steigt durch das Fachlehrersystem, das verbreitete Jobsharing und den modischen Teamgedanken (während die starke Lehrerpersönlichkeit unter Generalverdacht gerät). Es gibt immer mehr Formulare, Sitzungen und Vorgaben. Ein Beispiel sind die neuen Zeugnisse. Die Sprachnoten sind in vier Unterkategorien aufgeteilt, und dazu kommt ein ausgebauter Katalog weicher Beurteilungsfaktoren: „Erscheint pünktlich und ordnungsgemäss zum Unterricht“, „beteiligt sich aktiv am Unterricht“, „arbeitet konzentriert und ausdauernd“, „gestaltet Arbeiten sorgfältig und zuverlässig“, „kann mit anderen zusammenarbeiten“, „schätzt die eigene Leistungsfähigkeit realistisch ein“, „akzeptiert die Regeln des schulischen Zusammenlebens“, „begegnet den Lehrpersonen und Mitschülerinnen und Mitschülern respektvoll“. Für jeden einzelnen dieser Punkte gibt es vier verschiedene Werte auf einer Skala.

Früher gab es Zensuren für „Fleiss“, „Ordnung“ und „Betragen“, und jeder – ob Lehrmeister oder Eltern – wusste, was gemeint war. Die heutigen Soft-Kriterien sind derart kompliziert, dass die Bildungsdirektionen sich gezwungen sahen, mehrseitige Erläuterungen – eine Art Lesehilfen – für die Zeugnisse herauszugeben. Für Eltern, Schüler – und sogar die Lehrer.

Ein deutliches Indiz für die Bürokratisierung des Betriebs ist der steigende Anteil an administrativem und technischem Personal. Im gesamten Bildungsbereich sind die Ausgaben für die Lehrkräfte von 1990 bis 2004 um 22 Prozent gestiegen, diejenigen für die Kategorie „Übriges Personal“ (Technik und Administration) dagegen um satte 75 Prozent. Absolut stiegen die Kosten für Verwaltungsjobs und Ähnliches von 1,9 auf 4,2 Milliarden Franken.

Irrtum 3: Feminisierung
Weit gehend tabuisiert ist die Feminisierung des Schulbetriebs. Auf der Primarschulstufe sind in der Schweiz drei Viertel aller Lehrkräfte Frauen. Im Kanton Zürich beträgt der Frauenanteil in der Unterstufe (1. bis 3. Klasse) gar 90 Prozent. Die Verweiblichung des Berufs hat Folgen. Lilo Lätzsch, Präsidentin des Zürcher Lehrerverbandes (und ebenfalls eine Frau), sagt: „Viele Kinder treffen zum ersten Mal in der Berufslehre auf einen Mann. Das ist eine Katastrophe“. Der Kinderpsychologe Allan Guggenbühl urteilt: „Die heutige Pädagogik kommt den Mädchen entgegen. Buben interessieren sich für Sport, Technik, Autos. Das kommt in den Lehrmitteln wenig vor.“ Jungen messen sich gern an andern, sie lieben den Wettbewerb. Doch dies widerspricht dem pädagogischen Zeitgeist, der sich an individuellen Lernzielen orientiert und Leistungsvergleiche als „diskriminierenden“ Akt auffasst.

Die Feminisierung macht aus dem Lehrerberuf einen Teilzeitjob. Nur noch ein Drittel aller Volkschullehrer arbeitet Vollzeit. Im Kanton Luzern sind es sogar weniger als ein Viertel. Im Aargau sind 35 Prozent der Lehrer zu weniger als 50 Prozent angestellt. In einem Schulhaus im zürcherischen Uster hat von 20 Lehrkräften eine einzige Lehrerin eine volle Stelle inne. Gerade für schwächere und schwierige Schüler (zum Beispiel solche mit Konzentrationsproblemen) ist diese Zersplitterung des Lehrkörpers ein Problem. Sie bräuchten eine stabile Bezugsperson, sehen sich aber laufend wechselnden Lehrerinnen gegenüber.

Irrtum 4: Akademisierung
Ein weiterer populärer Irrtum der Bildungsbranche betrifft die Akademisierung. Alle möglichen und unmöglichen Ausbildungsgänge werden auf die Hochschulstufe verlegt. Ob das wirklich und in jedem Fall sinnvoll ist, fragt man nicht. Die traditionellen Lehrerseminare (ich selbst habe im luzernischen Hitzkirch ein solches besucht) werden durch pädagogische Hochschulen ersetzt. Statt Allrounder bildet man dort Fachlehrkräfte aus. Es ist aber nicht einzusehen, warum Volkschullehrer Spezialisten sein müssen. Nicht Fachwissen und Stoffbeherrschung sind auf dieser Stufe eine Herausforderung, sondern die erzieherischen Fähigkeiten. Doch gerade hier wirkt die akademisierte Ausbildung kontraproduktiv: Das Fachlehrersystem unterhöhlt die Autorität des Klassenlehrers. Die zentrale Instanz – Voraussetzung für einen geordneten Unterrichtsablauf – löst sich auf. Im Kanton Zürich gibt es eine 2. Primarklasse, an der neun verschiedene Lehrkräfte unterrichten.

Der Trend zur Akademisierung treibt seltsame Blüten. Die Pädagogische Hochschule Bern kündigte unlängst ein Studium für Kleinkinderzieherinnen an, die heute noch eine dreijährige Berufslehre machen. Für Kindergärtnerinnen und Primarlehrerinnen soll ein „Master of Advanced Studies in Early Childhood Education“ ins Programm aufgenommen werden. Die Universität Basel meldete kürzlich, dass sie die erste Hebamme mit Doktortitel hervorgebracht habe. Ob dies ausser der Profilierungssucht der Institutionen und dem Ego der Absolventen auch den Kindern nützt, darf bezweifelt werden.

Ebenso fragwürdig ist der internationale Trend, möglichst hohe Maturitätsquoten auszuweisen. Länder wie Frankreich sind uns da um Dutzende Prozentpunkte voraus, dort macht fast jeder sein Baccalauréat. Sind die Franzosen deshalb gescheiter, und ist ihre Wirtschaft wettbewerbsfähiger? Wohl kaum. Wir sind gut beraten, wenn wir weiterhin die bewährte Tradition qualitativ hochstehender Berufslehren pflegen.

Irrtum 5: Geld bildet nicht
Die Bildungspolitiker haben ein einfaches Rezept: Von links bis rechts handeln sie nach dem Glaubensatz, dass mehr Geld mehr Geist hervorbringe. Der alle vier Jahre zu verabschiedende Bildungs- und Forschungskredit des Bundes gleicht jeweils einer Auktion auf Kosten der Staatskasse. Die Parteien überbieten sich mit Forderungen nach höheren Ausgaben. Dabei geht die entscheidende Frage leicht vergessen: diejenige nach der Qualität von Lehre und Forschung. Viele der bestehenden Missstände lassen sich mit weiteren Ausgabensteigerungen nicht beheben. Im Gegenteil: Der Druck, Fehlentwicklungen zu korrigieren und die Mittel gezielter einzusetzen, fällt durch die stets erhöhten Subventionen weg.

Die jährlichen Bildungsausgaben stiegen von 1990 bis 2004 von 16,2 auf 26,7 Milliarden Franken. Der Budgetposten Bildung und Forschung ist in diesem Zeitraum doppelt so stark gewachsen wie das Bruttoinlandprodukt (BIP). Über die Qualität ist damit aber nichts gesagt. Bereits 1997 hat eine OECD-Studie das Schweizer Bildungssystem als wenig wirksam kritisiert. Ökonomisch gesehen, weist es zwar hohe Outputs auf, braucht dafür aber unverhältnismässig hohe Inputs. Umgekehrt gilt, wie die OEDC in ihrem Ländervergleich 2006 festhält, „dass ein niedrigeres Ausgabenniveau [...] nicht zwangsläufig mit schwächeren Bildungsergebnissen einhergeht“. So waren Südkorea und die Niederlande bei der Pisa-Erhebung 2003 ganz vorn, obwohl die Aufwendungen in diesen Ländern unter dem OECD-Durchschnitt liegen.

Die Schweiz leistet sich eines der teuersten Bildungssysteme der Welt. Doch es mangelt an Effizienz. Jede Bürokratie neigt dazu, ihren Tätigkeitsbereich auszudehnen und ihre Logik auf andere zu übertragen. Die Bildungsbürokratie zeigt das exemplarisch: Sie treibt den administrativen Aufwand der Lehrer durch ständige Reformen in die Höhe und lenkt sie damit vom Kerngeschäft ab: dem Unterrichten und der Stoffvermittlung.

Lernen könnten Lehrer und Schulen von der Privatwirtschaft: Sie brauchen nicht Reformen und Reglementierungen von oben, sondern Unternehmergeist, Eigeninitiative und Führungsverantwortung. –

Kontakt: philipp.gut@weltwoche.ch

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