»Es gibt kein jüdisches Volk«
Der israelische Historiker Shlomo Sand hält die Forderung nach einem jüdischen Staat für gefährlich. Moralisch hätten die Palästinenser ein Recht auf die Rückkehr nach Israel.
Das nachfolgende Interview, das Sybille Oetliker mit Shlomo Sand führte, erschien in der Frankfurter Rundschau:
S. Oe.: Der israelische Premierminister Benjamin Netanyahu verlangt von den Palästinensern, dass sie Israel als jüdischen Staat anerkennen. Ist die Forderung sinnvoll?
Sand: Nein. Sie ist gefährlich und führt zu einer ›Ethnokratie‹. Ein Viertel der Israelis sind nicht Juden. ›Jüdisch‹ sein, ist ein Begriff, der ausgrenzt - im Gegensatz zu ›israelisch‹. Jeder Araber in Israel ist Palästinenser und Israeli. Kommt dazu: Ein jüdisches Volk gibt es nicht. Das Judentum ist eine Religion aber keine Nation.
S. Oe.: Die meisten Juden aber sehen sich doch als Mitglied eines Volkes und einer Religion.
Sand: Zionistische Historiker haben aus der Bibel, die ein theologisches, literarisches und moralisches Meisterwerk ist, ein Geschichtsbuch gemacht und den Mythos vom jüdischen Volk erfunden. Der Exodus des jüdischen Volkes aus Palästina im ersten Jahrhundert christlicher Zeitrechnung hat aber nicht stattgefunden. Die jüdische Diaspora entstand nicht als Folge der Vertreibung von Juden, sondern durch Konversionen.
S. Oe.: Wenn es tatsächlich kein jüdisches Volk gibt, wie lässt sich Israel als Staat rechtfertigen?
Sand: Die Legitimation von Israel als Staat kommt aus der Geschichte. Es gab Zeiten, in denen es keinen Ort gab, wo Juden leben konnten. Israel wurde gegründet, um den Juden aus aller Welt eine sichere Zuflucht zu geben.
S. Oe.: Warum ist der Begriff des jüdischen Staates der israelischen Regierung so wichtig?
Sand: Sowohl die israelische Rechte wie auch die Linke insistieren darauf wegen einer tief sitzenden Angst um ihre Identität. Seit seiner Gründung sieht sich Israel aber nicht als Staat für seine Bürger, sondern als Staat für die Juden der Welt. Historisch lässt sich das erklären. 61 Jahre nach der Staatsgründung hingegen ist es eine Perversion der Demokratie, von einem jüdischen Staat zu sprechen. Israel heute aber das Existenzrecht abzusprechen, würde einen neuen Genozid vorbereiten. Der Staat wurde zwar in einem Akt der Vergewaltigung der hier lebenden arabischen Bevölkerung gegründet. Aber: Selbst ein Kind, das aus einer Vergewaltigung entsteht, hat das Recht zu leben.
S. Oe.: Wie würden Sie Israel definieren, wenn nicht als jüdischen Staat?
Sand: Israel soll ein demokratischer Staat für seine Bürger sein. Es ist in vielem ein gut funktionierender und erfolgreicher Staat, der eine eigene hebräische Kultur entwickelt hat.
S. Oe.: Viele Juden, auch säkulare, fühlen sich durch ihr ›Jüdisch-Sein‹ verbunden.
Sand: Natürlich gibt es eine Affinität unter Juden aus aller Welt. Nach der Shoa ist das selbstverständlich. Das macht aber noch kein Volk. Ich fühle mich weit mehr mit einem arabischen Kollegen an der Universität, der hier lebt und aufgewachsen ist wie ich, verbunden als mit einem Juden, der sein Leben lang in den USA gelebt hat. Es gibt keine Volkskultur der Juden auf aller Welt. Es gibt aber die gemeinsame Religion. Die Juden in Yemen, in den USA und dem Maghreb lesen nicht die gleiche Literatur, singen nicht zusammen, gehen nicht ins gleiche Theater - aber sie haben die gleichen Gebete und den gleichen Glauben.
S.Oe.: Sie sagen, die Juden seien Nachkommen von Konvertiten, insbesondere in Nordafrika und Osteuropa. Sind die hier lebenden Palästinenser im Grunde genommen die wahren Nachkommen der alten Juden?
Sand: Es gibt keine reinen Völker, es sind immer Mischungen. Aber ich bin überzeugt, dass die Wahrscheinlichkeit, dass ein Palästinenser aus Hebron ein Nachkomme eines alten Juden ist, grösser ist, als dass ich einer bin.
S.Oe.: Haben die Palästinenser folglich ein Recht auf Rückkehr?
Sand: Moralisch ja, politisch nicht. Der Traum könnte zum Albtraum werden. Israel muss aber dazu stehen, dass seine Gründung zur Nakba * (Katastrophe) für die Palästinenser führte, und wir müssen die historische, moralische und politische Verantwortung für das den Palästinensern angetane Leid übernehmen.
S.Oe.: Wird es am Ende des Konflikts einen einzigen Staat geben, in dem Palästinenser und Juden zusammenleben?
Sand: Irgendwann einmal - vielleicht. Hoffentlich! Aber im Moment bin ich für die Zwei-Staaten-Lösung. Zwei Staaten für zwei Gesellschaften, nicht für zwei Völker.
S.Oe.: Es gibt immer mehr Stimmen, die die Zwei-Staaten-Lösung angesichts der weiter wachsenden Siedlungen nicht mehr für machbar halten.
Sand: Israel kann von den USA und Europa dazu gezwungen werden, sich aus allen besetzten Gebieten zurückzuziehen. Man kann die Juden aber nicht zwingen, in einem Staat mit den Palästinensern zu leben. Es brauchte den Konsensus der Juden, und das halte ich derzeit für unrealistisch, denn die Juden würden zu einer Minderheit in diesem Staat. Ich stelle die jüdisch-nationalen Mythen radikal in Frage, aber ich bin nicht anti-zionistisch. Ich bin post-zionistisch und akzeptiere eine jüdisch-israelische Hegemonie in den Grenzen von 1967.
* http://www.politonline.ch/index.cfm?content=news&newsid=701 26. 5. 2007
Zum Gedenken an Al-Nakba
Zur Person von Shlomo Sand: dieser ist israelischer Historiker, kam in Linz zur Welt und ist Sohn von Holocaust-Überlebenden. Er ist Professor für Geschichte an der Universität Tel Aviv. Sein 2008 erschienenes Buch, ›Wie das jüdische Volk erfunden wurde‹, wurde in Israel zu einem viel diskutierten Besteller. Sand bringt darin die Säulen jüdisch-nationalen Selbstverständnisses ins Wanken. Unter anderem macht er geltend, dass es keinen Exodus der Juden aus Palästina gegeben habe und stellt fest, dass die meisten Juden Nachkommen von Personen seien, die in nachchristlicher Zeit zum Judentum konvertiert seien - unter anderen Berber in Nordafrika oder Khazaren im Kaukasus. Aus seiner Analyse der historischen Quellen leitet Sand ab, dass es nie ein jüdisches Volk, wohl aber eine jüdische Religion gegeben habe. Die Existenz eines jüdischen Volkes aber sei ein Mythos, der insbesondere von der zionistischen Geschichtsschreibung gepflegt und gefördert werde. Während liberale Historiker in Israel die Thesen von Sand mit Interesse und Wohlwollen aufnahmen, hagelt es von Historikern, die sich mit jüdischer Geschichte befassen Kritik.
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