Verrenkungen in der Turnstunde
Die Pädophilenhysterie hat dazu geführt, dass Sportlehrer ihre Schülerinnen auf dem Minitrampolin lieber mal fallen lassen, als helfend zuzupacken. Nennt man das sensibilisiert?
27.06.2008 von Birgit Schmid
Als sich die vier Mädchen bei ihrem Klassenlehrer über den strengen Turnlehrer beklagten, wie viel Konditionstraining sie machen müssten und wie wenig Spiel und dass es wegen eines vergessenen Turnzeugs immer gleich einen Strafeintrag gäbe, kam ihnen noch in den Sinn: Da war doch mal was, vor ein paar Monaten am Reck, als der Lehrer einer von ihnen beim Felgaufschwung half und die Schülerin am Ende mit runtergezogener Trainerhose dastand.
Der Beschuldigte, Stefan Elsner (Name geändert), Sportlehrer an der Oberstufe in einer grösseren Schweizer Stadt, dort in der Schulleitung tätig und mit Hochschullehrauftrag, glaubte, er sei im falschen Film. Zuerst wusste er nicht mal, wovon die Mädchen sprachen. Er erinnert sich heute, weil sich so ein Vorwurf einbrennt. «Es war beim Gerätetraining, ein Vierteljahr vorher. Beim Felgaufschwung hilft der Lehrer bei der Rotationsbewegung mit, indem er eine Hand ins Kreuz, die andere in die Kniekehle legt. Die Schülerin hatte ihre Trainerhose im Bund nicht festgezurrt, meine Hand lag nicht exakt in der Kniekehle, die Hose rutschte um einige Zentimeter runter.»
Nach der Anschuldigung ging Elsner in die Offensive. Er wusste, dass das Kreise ziehen kann. Er informierte die Behörden, veranlasste ein Gespräch mit der Klasse, dem Klassenlehrer, der Schulpflegerin. Einige Schülerinnen ergriffen Partei für ihn, sagten zu ihren Kolleginnen: Spinnt ihr?, erinnerten sich, dass er sich umgehend entschuldigt hatte. Beim Einzelgespräch drei Wochen später beschuldigte ihn eine der Anklägerinnen weiter: Es hätte vor drei Jahren schon einmal einen Vorfall gegeben, bei dem er sich an einem Mädchen vergriffen habe. Sie nannte den Namen. Elsner aber hatte jene Schülerin nie unterrichtet. «Die ganze Anschuldigung fiel in sich zusammen», sagt er und zieht hörbar die Luft ein.
Bevor er entlastet wurde, blickte Stefan Elsner drei Wochen lang in einen Abgrund. Seither unterrichtet er keine reinen Mädchenklassen mehr, sein freier Entscheid, um nie mehr in eine solche Situation zu geraten. Aus juristischer Sicht hätte zwar die Unschuldsvermutung gegolten, so lange sich nichts erhärtete, trotzdem wäre er nicht unbeschadet daraus hervorgegangen, glaubt er: «Wenn man dieses Image als Sportlehrer mal hat, ist man erledigt.» Plötzlich wurden seine Tätigkeit, sein ganzes Berufsbild infrage gestellt. Kann ich es mir gegenüber noch verantworten, mit jungen Menschen zu arbeiten, wenn es solche Vorwürfe gibt? Was habe ich falsch gemacht, dass es soweit kommen konnte?
Nichts, was nicht im Lehrbuch steht über Turnen am Reck, am Barren oder auf dem Minitrampolin: Ein Lehrer hat beim Geräte- oder Bodenturnen Hilfestellungen zu leisten. Nur sind diese Vorschriften nicht mehr unverfänglich. Ob Klammergriff am Oberarm, um beim Sprung über den Bock zu helfen; ob stützende Hände im Kreuz, damit der Überschlag aus dem Handstand heraus gelingt: Wird zu schnell gesprungen oder gedreht, könnten die Hände unbeabsichtigt falsche Körperstellen berühren. Eine Laufbahn ist so schnell beendet.
Hüpfen im Minenfeld
Die Sensibilisierung, die in den letzten Jahren bezüglich sexueller Übergriffe stattgefunden hat, hat in Tätigkeiten mit Kindern und Jugendlichen zu einer grossen Verunsicherung geführt. Vor allem im Sport, wo das Körperliche im Zentrum steht und Körperkontakte unvermeidlich sind, herrscht zum Teil ein fragwürdiges Klima. Da ist die Verunsicherung aufseiten der Lehrpersonen. Die Furcht vor Anschuldigungen geht so weit, dass ein Realschullehrer, der auch Turnen unterrichtet, lieber mal ein Mädchen vom Reck fallen lässt, als helfend zuzupacken. Eine Mutter beobachtet im Kunstturnverein erstaunt, dass der Trainer bei der Brücke rückwärts nur zuschaut, statt den Rücken des Kindes zu stützen. «Das dürfen wir nicht mehr», so seine Antwort auf ihre irritierte Frage.
Andererseits werden Kinder und Jugendliche heute mit dem Thema Körperlichkeit sehr widersprüchlich konfrontiert. Sozialisiert in einer «oversexed culture» wie keine andere Generation zuvor, gleichzeitig selbstbestimmter und wissend, wie wenig Spielraum Lehrer haben, kann das enttabuisierte Tabu zu einem Machtmittel werden. Keine Frage, es ist ein Fortschritt, wenn Heranwachsende Grenzüberschreitungen wahrnehmen und ungute Gefühle artikulieren können. Wird der pädagogische Bereich aber zum verminten Gelände, muss man sich fragen: Was ist passiert seit den Jahren, als uns der Turnlehrer auch mal um die Hüften hielt und die Oberschenkel packte, um die Haltung zu korrigieren oder damit eine Übung gelang?
Der Sportunterricht an der Volksschule wird noch nicht konsequent geschlechtsspezifisch unterrichtet. Während an Mittelschulen die Mädchenklassen häufig von Sportlehrerinnen geleitet werden, sind in der Unter- und Mittelstufe die Klassenlehrer auch für das Turnen zuständig, dies neben Französisch, Mathematik oder Biologie. Da auch Buben Opfer von Übergriffen werden können, bietet der Einsatz der Lehrer nach Geschlecht zwar noch keinen Schutz. Eine Professionalisierung erhofft man sich aber, wenn vermehrt auf allen Stufen Fachlehrer mit Sportausbildung eingesetzt werden. Wie in allen pädagogischen Berufen trifft auf Stelleninserate nicht eine Flut von Bewerbungen ein, schon gar nicht von Männern. Das Interesse, mit Kindern zu tun zu haben, schwindet.
«Ich berühre kein Kind mehr»
Den latenten Generalverdacht, unter dem Turnlehrer heute stehen, bekommt man auch auf der Fachstelle für Prävention sexueller Ausbeutung im Freizeitbereich mira in Zürich zu spüren. Fachstelle-Leiter Urs Hofmann spricht von einer «Übersensibilisierung»: «Die Angst vor einer Beschuldigung, sexuelle Übergriffe zu begehen, treibt verständliche und gleichzeitig bedenkliche Blüten», schrieb er vor zwei Jahren im Branchenblatt «Bildung Schweiz». Hofmann, der sich bereits 2004 im Buch «Grenzfall Zärtlichkeit – in Familie, Schule und Verein» mit dem Thema auseinandergesetzt hat, hört oft von Turnlehrern: «Ich berühre kein Kind mehr.»
Einer sagte mal, er nähere sich nicht einmal mehr einem verletzten Mädchen, lieber rufe er gleich die Sanität oder beauftrage eine Mitschülerin, Hilfe zu leisten. Hofmann sieht das kritisch: «Wenn ein Lehrer so radikal auf Distanz geht, um ja nicht verdächtigt zu werden, wirkt sich das negativ auf das Verhältnis zwischen Lehrperson und Schülern aus. Das Verhalten gegenüber Kindern wird massiv eingeschränkt. Wenn ein Lehrer bei einer Übung eine Hilfestellung auslässt, um nicht verdächtigt zu werden, ist das nicht nur nicht lernfördernd, sondern auch fahrlässig.»
Beim Schweizerischen Turnverband, dessen Mitglieder Sport auf freiwilliger Basis betreiben und die Motivation entsprechend hoch sein müsste, merkt man ebenfalls, dass manche Leiter die Macht von Eltern und Kindern fürchten. «Es gibt Jugendriegenleiter, die gewisse Geräteturnelemente nicht mehr anbieten, um nicht in schwierige Situationen verwickelt zu werden», sagt Ausbildungschefin Daniela Brönnimann.
Stefan Elsner, dem zu Unrecht angeschuldigten Lehrer, ging das Mädchenturnen verloren; den weiblichen Jugendlichen die Erfahrung, auch mal von einem Mann zu sportlichen Leistungen angetrieben zu werden. Heute geht Elsner bewusster an Situationen heran, in denen es zu einem Körperkontakt kommen kann. Er warnt vorab, wenn er die Schüler anfasst; fasst nur an, um die Sicherheit bei einer Übung zu garantieren und nicht unterstützend, damit eine Übung besser gelingt. Er erklärt so präzis wie bei einer militärischen Instruktion, warum und wo er berührt. Wenn jemand seine Hilfe nicht will, lässt er es bleiben, oder es helfen Mitschülerinnen. Elsners Zurückhaltung kennt aber Grenzen, schliesslich will er kein Risiko eingehen. «Bei Saltos auf dem Minitrampolin kann man leicht überdrehen. Da kann ich nicht danebenstehen und zuschauen, wie jemand abstürzt. Sondern ich muss den Schüler um den Bauch fassen, damit er sicher auf den Füssen landet. Das muss ich machen und nicht ein Klassenkollege. Zumal es sich meist um ein Gewicht von über fünfzig Kilo handelt.»
Angehende Sportlehrer lernen heute, wie sie sich in heiklen Situationen verhalten sollen. Man informiert sie über Kinderschutz, sensibilisiert sie mit Kampagnen. Viele Turnvereine unterschreiben inzwischen den Verhaltenskodex «Bei uns sollen Kinder sicher sein». Auch der Leitfaden des Lehrerverbands Schweiz richtet sich in einem Kapitel an die Sportlehrer. Sie sollen wissen, «dass Berührungen ambivalente Gefühle auslösen können und sich daher genau überlegen, welche Übungen wie angeleitet und durchgeführt werden». Es wird gemahnt, was man eigentlich voraussetzen könnte: dass Sportlehrer genügend «sensibel» sein müssen und «nicht nur vom eigenen Empfinden ausgehen» dürfen. Dass sie zum Beispiel eine Rückenmassage besser nicht vornehmen, wenn sie eine Schülerin wegen ihrer verspannten Schulter darum bittet.
Jugendliche überlegen sich weniger genau, dass auch ihr Verhalten ambivalente Gefühle auslösen kann. Sie fordern die Erwachsenen heraus, provozieren, reizen Grenzen aus. Man müsse dann auch nicht immer gleich überreagieren, sagt ein junger Sportlehrer, der erzählt, wie mal eine ganze Mädchenklasse mit rot geschminktem Mund in den Turnunterricht kam. Er erlebte die Aktion mehr als herzigen Streich, die Schülerinnen hätten testen wollen, wie er reagiert, wenn sie ihre körperlichen Reize betonen. Der Lehrer blieb gelassen, redete mit der Klasse kurz darüber, sagte: «Jetzt habt ihr also den Lippenstift entdeckt, sieht gut aus. Turnen ist aber nicht Ausgang, also könnt ihr das nächste Mal wieder ohne kommen.»
Weniger harmlos war der Vorfall, als eine dreizehnjährige Schülerin statt in der Turnhose nur im Tanga bei ihm im Unterricht erschien. Der Sportlehrer forderte sie auf, sich bei einer Kollegin passende Turnbekleidung auszuleihen. Beim nächsten Mal trug sie wieder nur T-Shirt und Tanga. Worauf der Lehrer die Eltern zum Gespräch einlud. Ihre Tochter könne beim Sport doch tragen, was sie wolle, fand die Mutter. Sie hatte insofern recht, als der Lehrer im Turnen auch Schülerinnen mit Kopftüchern zulässt. Trotzdem gab er den Eltern zu verstehen, dass man an der Schule nun mal gewisse moralische Werte vermittle, die mit einer solch freizügigen Bekleidung in der Sporthalle kollidieren.
Aufsehen erregen
Um Missverständnissen vorzubeugen, hat auch Stefan Elsner, noch vor dem Vorfall am Reck, einen Dresscode eingeführt, der zwar zu seinem Verhängnis lose getragene Trainerhosen nicht aufführte, dafür: Unterwäsche ist kein Ersatz, den Bauchnabel hat man nicht zu sehen, wer in Spaghettiträgern kommt, holt sich beim Hauswart, der inzwischen fünfzehn davon in Reserve hält, ein altes Sportfunktionärs-T-Shirt. Er verordnet keinen Handstand ohne Kontrollblick, ob das Shirt im Hosenbund steckt. Zwar könnte auch dieser Blick, Elsner weiss es, missdeutet werden.
Es wäre nicht klug, nicht mehr hinzuschauen, nur um zu verhindern, dass jemand falsche Absichten in seine Augen hineindeutet. Zum Schutz beider Seiten, findet Doris Hochheimer vom Berufsverband Lehrer und Lehrerinnen Bern, müsste es an Schulen generell Kleiderregeln geben. Hochheimer berät Lehrer, die beschuldigt werden, die nötige Distanz zu Schülern nicht eingehalten, etwa zu tief in einen Ausschnitt geschaut zu haben. In einzelnen Fällen wolle die Schülerin der Lehrperson «eins auswischen», man macht sich wichtig, im Wissen, dass dieser Vorwurf Aufmerksamkeit erregt. Es wird bereits als Drohung eingesetzt: So bekommt ein Lehrer, der zwei Mädchen beim Rauchen erwischt, schon mal zu hören: Lassen Sie uns in Ruhe, sonst sagen wir, dass Sie uns angefasst haben.
Generalverdacht: Sexmonster
Die Lehrer, welche sie berät, hätten meist eine andere Wahrnehmung und spüren nicht, was es verträgt, sagt Hochheimer. Sie fordert jedoch Offenheit: Ein Lehrer sollte über gewisse Regungen nicht erschrecken. Wer mit Menschen zu tun hat, und junge Menschen sind oft attraktiv, bewertet. «Ein Lehrer sollte seine Gedanken nicht zensurieren, sondern ehrlich mit sich sein, sich konfrontieren. Schlimmer ist es, wenn man Gefühle tabuisiert, die nicht sein dürfen. Schon nur, dass eine Lehrperson nicht alle Schüler gleich gern hat, gilt als ein Tabu.» Wichtig sei, dass man sich mit Vertrauenspersonen, wenn möglich im Kollegium, austausche. Hochheimer: «Gefühle sind nicht verboten, Handlungen mit sexuellen Absichten jedoch schon.»
Ein Problem im Umgang mit Beschuldigungen sei das weit verbreitete undifferenzierte Täterbild, sagt Urs Hofmann von der Präventionsstelle mira. Hinter relativ geringfügigen Grenzverletzungen wie einem als zu lang empfundenen Blick oder einer als unangenehm empfundenen Berührung werde gleich ein Sexualmonster vermutet. Zwar sei die Wachsamkeit der Öffentlichkeit verständlich, da gravierende Fälle auch schon nicht genug ernst genommen wurden, wie das Beispiel Köbi F. gezeigt hat, der Fall des Möriker Kunstturnlehrers, den die Behörden lange verharmlosten. Verständlich darum, wenn sich die Schulbehörden keinen Vorwürfen der Bevölkerung aussetzen wollen. «Doch insgesamt verschlechtert das Damoklesschwert die Arbeitssituation an der Schule massiv, gemessen an der tatsächlichen Gefahr sogar in völlig unangemessener Weise», sagt Hofmann.
Deshalb vertritt er auch die «Politik der offenen Tür» nicht, die vorschreibt, dass Unterredungen zwischen Lehrern und Schülern nur bei offen gelassener Tür stattfinden, damit jeder einen Kontrollblick reinwerfen kann. «Die offene Tür ist ein Zeichen des Generalverdachts. Für das Kind allerdings kann es wichtig sein, ein Problem im geschützten Rahmen, bei geschlossener Tür zu erzählen.»
Schule und Behörden müssen jeden Verdachtsfall ernst nehmen. Oft aber, sagt der studierte Pädagoge Hofmann, reagieren verschreckte Schulleitungen oder Behörden selbst «aus geringfügigem Anlass» mit Massnahmen, die einer Vorverurteilung gleichkommen und die weitere Tätigkeit des Lehrers – auch nach einer Entlastung – stark erschweren oder verunmöglichen: «Was das für ihn persönlich und für seine Familie heisst, wird vom Arbeitgeber nicht bedacht.»
Aus Ernst wurde Spass
Marc Haller (Name geändert) wurde von der Schulleitung über ein halbes Jahr im Unklaren gelassen, was in seinem Fall weiterläuft, ob und wann er wieder unterrichten kann. Der Schwimmlehrer wurde eines Tages von der Schulpflegerin herbeizitiert: Eine Mutter habe sich bei der Klassenlehrerin gemeldet, weil er, Haller, zwei Kindern im Hallenbad zwischen die Beine gegriffen habe. Es wurde weder gesagt, welche Klasse es betrifft noch ob es sich um Buben oder Mädchen handelt. Gesagt wurde nur: Man wolle nicht, dass etwas an die Medien gelange und dass er ab sofort und so lange die Untersuchung laufe freigestellt sei. So verbrachte Haller einige Wochen zu Hause, ohne dass er von den Behörden hörte. Es war eine schwierige Zeit. Haller wohnt mit seiner Frau und den zwei Kindern im Teenageralter in einem kleinen Dorf, wo man von jedem weiss, wann er zu Bett geht. Die Leute sprachen ihn an, auch in den umliegenden Orten, wenn er einkaufen ging: Warum er nicht mehr unterrichte? Der Schwimmlehrer unterrichtet pro Jahr bis zu sechshundert Schüler, der energiegeladene Hüne fällt auf, man kennt ihn. Seine Antwort war eine Notlüge: Er habe gesundheitliche Probleme und müsse pausieren.
Irgendwann begann seine Frau an ihm zu zweifeln: Bist du sicher, dass nichts passiert ist? Dass es auch nicht zu einem unbeabsichtigten Körperkontakt kam? Sagst du mir auch die Wahrheit?
Nach zwei Monaten Untätigkeit engagierte Haller einen befreundeten Anwalt. Dieser rief sofort die Bezirksanwaltschaft an, bei welcher der Fall lag. Es gebe keinen aktenkundigen Fall Marc Haller, teilte man ihm mit, um sich kurz darauf zu melden, man sei nun doch fündig geworden, und als Entschuldigung für das Versäumnis: Auf dem Bürotisch liege ein Aktenberg von hundert ähnlichen Verdachtsfällen mit den fünf, sechs dringlichsten Dossiers zuoberst. Fast drei Monate nach der Beschuldigung wurde Haller von der Polizei vernommen; er erfuhr, wer die zwei Mädchen waren, Zweitklässlerinnen, acht Jahre alt, er hatte sie nur dreimal unterrichtet, erinnerte sich nicht mal mehr an ihre Namen. Als die Eltern zu einer Befragung herbestellt wurden, gingen sie nicht hin. Die Kinder, sagten sie, hätten inzwischen zugegeben, dass alles «ein Furz» gewesen sei, erfunden: Schwimmlehrer Marc Haller habe sie nie zwischen den Beinen angefasst.
«Hey, nicht an die Brüste!»
Marc Hallers Anwalt riet davon ab, wegen Rufmords zu klagen. Er solle es auf sich beruhen lassen, er mache sich nur verrückt. Haller hätte gern mit den Eltern und den Kindern gesprochen. Denen war es kein Bedürfnis, und die eine Familie zog bald weg. Sie entschuldigten sich bei der Schulpflege, nicht aber bei ihm, der ein halbes Jahr lang «wie ein Verbrecher hingestellt» wurde und sein Umfeld belügen musste. Er tönt bitter, wenn er sagt: «Man hat nur geschaut, dass die Schule nicht in Verruf gerät. Wie es mir dabei ergeht, das wurde nie gefragt.»
Was macht er heute anders? Er instruiert weniger im Wasser, sondern steht am Beckenrand, hält Distanz zu den Kindern. Beim Lehren des Rückenschwimmens, wo es seine Hilfe braucht, weist er nicht mehr unbefangen an mit den Worten «Du musst die Füdlibacken zusammenspannen, damit du das Füdli heben kannst». Geht es nicht von allein, weil das Kind mit dem Gesäss abtauchen würde, warnt er vor: «Ich berühre dich jetzt und stütze dich am unteren Rücken.» Er, der sonst im Wasser «gern den Clown» macht, hilft konkreter, auf Kosten des Spielerischen. Wie aber mit Kindergärtnern umgehen, die weinend am Bassinrand sitzen und die er an der Hand nehmen und ans Wasser gewöhnen muss?
Ein achtjähriges Kind dürfte sich noch nicht bewusst sein, welche Konsequenzen Vorwürfe dieser Art für eine Lehrperson haben können. Auch ist es eine Stärke, wenn Kinder früh lernen, Nein zu sagen. Wenn Kinder aber immer das Schlimmste befürchten, wenn sie in jedem Mann einen potenziellen Täter sehen und eine Sprache benutzen, die sie noch nicht verstehen, führt das zu eigenartigen Begegnungen. Darin reiht sich auch das Erlebnis eines Praktikanten in einem Hort ein, der am Mittagstisch einer Zweitklässlerin an die Schulter tippt, worauf sie ihn anschnauzt: «Hey, man langt einer Frau nicht an die Brüste!»
Marc Haller wird in Zukunft einen Satz wie «Ich habe Kinder gern» nicht mehr unbedacht sagen. Auch wenn der Schwimmlehrer damit eigentlich nur die Grundvoraussetzung für seinen Beruf nennt.
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