Freiheit
Von Roger Köppel
Der Mythos der alten Eidgenossen ist so aktuell wie nie. Er müsste zeitgemäss erneuert werden. Warum es Obama bei uns nicht geben kann. Zum Glück.
Reservearmee von Abhängigen.
Worum eigentlich geht es am 1. August? Wir feiern die Realität oder den Mythos unserer Staatsgründung, die sich in den Nebelmeeren des ausgehenden Spätmittelalters verliert. Egal, wie man zu den historischen Fakten und den «tintenblauen Eidgenossen» (Peter von Matt) steht, die gültige Formel hat mit Blick auf die amerikanische Geschichte der Hollywoodregisseur John Ford in seinem Klassiker «The Man Who Shot Liberty Valance» vorgegeben. Sinngemäss legt Ford einem Zeitungsmann den Satz in den Mund: «Wenn du zwischen Mythos und Realität wählen kannst, druck den Mythos.» So ist es. Das Verständnis der Nationen erschliesst sich über ein Studium ihrer Mythen.
Was also ist die Schweiz? Trauen wir den bekannten, historiografisch natürlich hochumstrittenen Überlieferungen, ist die Gründungsakte der Eidgenossenschaft das Resultat einer Krisensituation. Der Bund der Waldstätte kam als Schutzgemeinschaft gegen die habsburgische Obrigkeit und ihre Richter zustande. Aus dem rebellischen Freiheitsdrang der Bergler resultierte ein militärischer Beistandspakt. Pointe unserer Geschichte: Der Schweizer Bauernstand avancierte zur freiheitlichen Avantgarde, während er in anderen Territorien Europas als Trägerschicht des Adels reaktionäre, freiheitsfeindliche Impulse entwickelte. Obschon die schweizerische Freiheitstradition tief und ehrenvoll im bäuerlichen Erbe verwurzelt ist, gehört es unter den gebildeten Schichten aus einer falschen Überheblichkeit heraus bis heute zum guten Ton, sich über die Bauern lustig zu machen.
Unter Freiheit verstanden die alten Eidgenossen die Abwesenheit von obrigkeitlicher Bevormundung und staatlichem Zwang. Sie waren die Verfechter eines angelsächsischen, mit Isaiah Berlin gesprochen: «negativen» Verständnisses von Freiheit. Das revolutionäre Empfinden, das sich später in Frankreich als Systemumsturz und als zerstörerische «Furie des Verschwindens» (Hegel) bemerkbar machte, ging den konservativen Berglern ab. Sie wollten keinen neuen Staat und keinen neuen Menschen schaffen, sondern einfach nach ihrer eigenen Façon glücklich sein und in Ruhe gelassen werden. Der mythisch überhöhte Freiheitstrieb, wie er im Bundesbrief zum Ausdruck kommt, richtete sich gegen die damalige Classe politique, eine Schicht von interventionistisch veranlagten Berufsmächtigen, die nicht die Interessen des Volkes schützten, sondern ihre eigenen. Damals waren es auswärtige Aristokraten und ihre Handlanger aus der Schweiz.
Die Botschaft des 1. August ist aktuell geblieben. In Europa breitet sich die Macht einer anonymen, von keiner demokratischen Kontrolle beaufsichtigten Funktionärs- und Politikerkaste weiter aus. Volksrechte werden zurückgefahren. Internationale Gremien und Experten wachen über das Wohl der Nationen, die nichts mehr zu sagen haben. Vom Generaltrend wird auch die Schweiz erfasst. Einfluss und Finanzkraft des öffentlichen Sektors nehmen zu. Der Staat produziert eine wachsende Reservearmee von Abhängigen, die er auf Kosten der Wirtschaft bei Laune hält. Wer auf «checks and balances», auf Demokratie und Mitsprache, pocht, wird zum Populisten abgestempelt.
Es ist kein Geheimnis: Die Schweiz kann es sich im Unterschied zu den grossen Flächenstaaten des Westens noch weniger leisten, einen aufgeblähten Apparat zu unterhalten. Die Idee der Freiheit ist die Essenz des Landes und ein entscheidender Erfolgsfaktor in der Globalisierung. In den Worten des klugen Diplomaten Paul Widmer: Hört die Schweiz auf, sich freiheitlicher zu organisieren als ihre Nachbarn, braucht es sie nicht mehr.
Die freiheitliche Verfassungsidee der Schweiz brachte den Triumph des Bürgers über den Staat. Jetzt droht der Staat den Bürger zu überwältigen. Anzeichen gibt es genug. Der Bund sichert sich steuerliche Vorrechte zur Sanierung der Arbeitslosenkassen. Das IV-Debakel soll mit zusätzlichen Abgaben zugeschüttet werden. Unsere Sozialwerke, immerhin besser konstruiert als in der unmittelbaren europäischen Nachbarschaft, werden einen gewaltigen Finanzbedarf erzeugen, der die Macht des Staates und seiner Klientel weiter mehrt. Im Rückgriff auf internationale Satzungen werden gleichzeitig die Volksrechte abgebaut. Der Unabhängigkeitswille gegenüber der EU erlahmt. Verwaltung, Bundesversammlung und Regierung drängen nach Brüssel, um sich der lästigen Kontrolle durch die Wähler zu entledigen. Das Motiv aller EU-Turbos war noch immer die Aushebelung der Demokratie.
Eigentlich sollte es in einem Milizsystem gar keine von der Bürgerschaft entfremdete politische Klasse geben, aber es gibt sie. Sie wächst. Die Konfliktlinie wird immer sichtbarer und geht durch alle Parteien. Auf der einen Seite stehen die Sachwalter, Angestellten und Profiteure des Staates sowie eine expandierende Fettschicht behördennaher Betriebe und NGOs. Auf der anderen Seite stehen die Bürger, die Angestellten und Unternehmer, die ihr Geld in der Marktwirtschaft verdienen müssen.
Die Signale sind nicht erfreulich. Seit der Abwahl Blochers im letzten Dezember trumpfen die Etatisten immer ungehemmter auf. Ihr grösster Gegner wurde planvoll aus dem Amt gehebelt. Jetzt ist man wieder unter sich. Die Landesregierung inszeniert sich als Wohlfühlgemeinschaft, die im vollen gegenseitigen Einverständnis einen Reinfall nach dem anderen produziert. Kritik wird im neuen Harmonieklima des Bundesrats als Blasphemie empfunden oder als Angriff auf die Institutionen.
Wenn unter Konkordanz die Vertretung aller relevanten politischen Kräfte in der Regierung verstanden wird, kann von Konkordanz keine Rede mehr sein. Der aktuelle Bundesrat repräsentiert eine Minderheit der Wähler. Die staatsskeptischen Teile der Schweiz sind ohne Stimme. Einst verschworen sich die Eidgenossen gegen Fremdherrschaft und abgehobene Eliten. Der Pakt, den die Schweiz am 1. August feiert, müsste zeitgemäss erneuert werden.
Interessant: 200 000 Fans bejubeln den amerikanischen Präsidentschaftskandidaten Barack Obama an der Siegessäule in Berlin. Politischer Personenkult dieser Grössenordnung wäre in der Schweiz undenkbar. Was die Publizistik als «Mangel an Grösse» abbucht, ist in Wahrheit das Gegenteil. Unsere Demokratie stattet den Normalbürger mit Befugnissen aus, die ihn weit über das in seiner Nachbarschaft gültige Mass hinausheben. Die Grösse der Schweiz besteht eben darin, dass sie keine grossen Politiker nötig hat.
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