Zürcher Sozialamt
Zahlenakrobatik im vertrauten Kreis
Von Alex Baur
«Unabhängige Experten» sollten die Kritik von zwei Controllerinnen des Zürcher Sozialamtes zerlegen. Fazit: Das bestellte Gutachten lieferte die gewünschten Ergebnisse, aber das Dauerthema Missbrauch wurde gar nicht behandelt. Die handverlesenen Fachleute waren befangen.
Die «unabhängige Abklärung», verkündete der Zürcher Stadtpräsident Elmar Ledergerber am letzten Freitag vor versammelter Presse, solle «das Vertrauen der Bevölkerung in die Sozialhilfe wieder herstellen». Der «unabhängige Experte» Peter Arbenz (FDP) war nach einer «sehr aufwendigen Untersuchung» zu einer klaren Erkenntnis gelangt: «Der Elefant ist zu einem Mäuschen geschrumpft.» Was er damit meinte, brachte der Tages-Anzeiger mit seiner Titelzeile auf den Punkt: «Kritik an der Sozialhilfe löst sich in Luft auf». Die von zwei entlassenen Controllerinnen geäusserte Schätzung, wonach 80 Prozent der Fürsorgedossiers mangelhaft geführt würden und die Unterstützung in 30 Prozent der Fälle eingestellt werden könnte, sei widerlegt. Damit, so der Tenor, falle die ganze Kritik in sich zusammen.
War die ganze Aufregung um das Zürcher Sozialdepartement also bloss eine Seifenblase? Alles nur eine journalistische Erfindung? Ist die gestrauchelte Zürcher Sozialvorsteherin Monika Stocker (Grüne) ein Medienopfer?
Blenden wir zurück. Am 17. Januar 2008 sprachen Esther Wyler und Margrit Zopfi, zwei langjährige Controllerinnen beim Zürcher -Sozialdepartement, in einem vierseitigen Interview mit der Weltwoche über Missstände in ihrem Amt und bei der Fürsorge allgemein. Die beiden Frauen waren zuvor amtsintern durch kritische Äusserungen aufgefallen und wurden deshalb im Oktober 2007 wegen Verdachts auf Amtsgeheimnisverletzung verzeigt und freigestellt. Neben vielen anderen Kritikpunkten äussert Margrit Zopfi im Interview den Satz: «Gemäss meinen Erfahrungen sind rund 80 Prozent der Fälle, die über meinen Tisch gingen, nach den Kriterien der Fallkontrolle mangelhaft und gegen 30 Prozent schlecht geführt.» An einer anderen Stelle schätzt sie mit Verweis auf Erfahrungen aus Winterthur und Amsterdam, rund ein Drittel der «Klienten» gehörten nicht in die Fürsorge. In Interviews mit dem Tages-Anzeiger und Tele-Züri wiederholen die Frauen diese Aussagen.
Amtsvorsteherin Stocker pickt die beiden eingängigen Prozentzahlen heraus und kündigt am 22. Januar eine «externe Untersuchung» an. Mit diesem geschickten Schachzug stiftete sie Verwirrung. Erstens hatten die beiden Zahlen nichts miteinander zu tun. Zweitens ging es nicht um das Dauerthema Missbrauch, sondern einserseits um bürokratische Abläufe («80%»), anderseits um politische Einschätzungen zur Sozialhilfe («30%»). Als Experten engagiert Stocker drei Sozialarbeiter aus Schlieren und Luzern. Nachdem sie am 27. Januar einen Kreislaufkollaps erlitten hat, übernimmt der Stadtrat die Federführung und stellt den Sozialarbeiter-Experten einen Beirat zur Seite.
Stadtpräsident Elmar Ledergerber (SP) holt Parteigenosse und Personalberater Peter Hablützel in den Beirat, der ihm bereits bei der Krise ums Schauspielhaus als Mediator zu Diensten war. Für ein prominenteres Aushängeschild sorgt Finanzvorsteher Martin Vollenwyder (FDP): Peter Arbenz (FDP), ein vor allem wegen seines humanitären Engagements auf nationaler Ebene bekannter Politiker. Was weniger bekannt ist: Arbenz ist nicht nur parteilich mit Vollenwyder verbunden, die beiden sitzen auch im Verwaltungsrat der Asylorganisation Zürich, die mit dem Sozialdepartement eng vernetzt ist und von Monika Stocker präsidiert wird. Auf den Punkt gebracht: Die «unabhängige» Expertengruppe, die am 12. Februar erstmals tagt, besteht aus zwei Chefs, die eng mit dem Stadtrat verbandelt sind, sowie drei Sozialarbeitern, die Monika Stocker engagiert hat.
Streit im Stadtrat um eine «Formalie»
Die drei Sozialarbeiter durchkämmen vorerst alle 473 Fürsorgedossiers, die Zopfi und Wyler in den letzten zwei Jahren kontrolliert haben. Dabei stellen sie fest, dass Zopfi mit ihrer Schätzung richtig lag: Sie hatte bei 80 Prozent der von ihr kontrollierten Fälle Mängel moniert. Bei Wyler liegt die Quote bei 50 Prozent. Zusammen haben die Controllerinnen bei 66,2 Prozent der Fälle Fehler gerügt. Zopfis hat also – was im Expertenbericht später unterschlagen wird – objektiv die Wahrheit gesagt.
Man hätte die Arbeit damit abschliessen können. Doch die Experten haben den Auftrag, die Mängelrügen auf ihre finanzielle Relevanz zu überprüfen. In je fünf Arbeitstagen gehen sie die Kontrollarbeit von zwei Jahren durch. 75 Prozent der Rügen wischen die Sozialarbeiter als «Formalie» vom Tisch. In der Regel handelt es sich um fehlende oder nicht ordnungsgemäss abgelegte Belege und Personendaten. 7,6 Prozent der Beanstandungen werdem unter der Rubrik «nicht mehr eruierbar» erledigt und als irrelevant taxiert. Auch Faktoren wie ungenügende Arbeitsbemühungen werden von den Sozialarbeitern als «nicht finanzrelevant» taxiert. Unter dem Strich werden 7,4 Prozent der von Zopfi und Wyler bemängelten Fälle als «finanzrelevant» anerkannt. Immerhin. Doch auch diese Zahl fehlt später im Schlussbericht.
Was die Experten der Öffentlichkeit als Essenz präsentieren, ist reine Zahlenakrobatik: Sie addierten die im Einzelnen relativ geringen Fehlbeträge und stellten diese in Relation zu den gesamthaft ausbezahlten Fürsorgeleistungen. Die zeitliche Achse ignorieren sie. Das heisst: Es werden nur die jeweils gestoppten Zahlungen zusammengezählt, nicht aber die um ein Vielfaches höheren Folgekosten, die damit verhindert wurden. Das kling alles fürchterlich kompliziert, lässt sich aber auf einen einfachen Nenner bringen: Dank den Zahlen- Spielereien kommt als medienwirksame Essenz eine Fehlerquote von 2,6 Prozent mit einem Finanzschaden von fabelhaften 0,1 Prozent zustande.
Die Crux lieg darin, dass Zopfi gar nie behauptet hatte, ein intensiveres Controlling würde die von ihr angesprochenen Probleme lösen. Die Experten gewannen den «Eindruck, dass die Fallkontrolle zum Teil vielleicht etwas zu rigide und aufs Detail versessen gehandhabt worden ist, was die Sozialarbeitenden gekränkt haben könnte». Den Controllerinnen wird mithin vorgeworfen, dass sie ihren Job zu ernst genommen hätten. Aus der Sicht von Margrit Zopfi und Esther Wyler bestätigt der Bericht damit bloss, was sie schon im Weltwoche-Interview gesagt haben: dass Sozialarbeiter tendenziell einen lockeren Umgang mit Daten, Steuergeldern und Formalien pflegen.
Die markige Aussage, wonach die Fürsorgefälle bei einem strafferen Regime um ein Drittel zu reduzieren wären, konnten die Sozialarbeiter-Experten gar nicht abklären. Denn sie hatten (wie übrigens auch Zopfi und Wyler) weder die Kompetenz noch die Zeit, um die Dossiers inhaltlich zu prüfen. Die Studie beschränkt sich auf formale Aspekte. Doch ein Blick nach Bern legt nahe, dass die Zürcher -Sozialexperten nicht einmal diese Aufgabe seriös erledigen konnten.
In der Stadt Bern ist das Finanzinspektorat (nicht das Sozialamt) seit vier Monaten daran, mit fünf externen Vollzeit-Revisoren rund 400 Dossiers nach formellen Kriterien zu kontrollieren. Sofern jeder Revisor sein Plansoll erfüllt (ein Dossier pro Tag), dürfte der Schlussbericht im nächsten Juli vorliegen. Zum Vergleich: Die drei Sozialarbeiter-Experten in Zürich erledigten den gleichen Job in je fünf Arbeitstagen.
Eine Reihe von Mängeln im System
Die Chefexperten Arbenz und Hablützel fügten die von den Sozialexperten erhobenen Zahlen zusammen und ergänzten diese mit einem Kommentar. Der provisorische Bericht landet am 27. Februar auf dem Pult der soeben genesenen Monika Stocker. Doch die Untersuchung über Stockers Amt nach Stockers Vorgaben weist einen gravierenden Mangel auf, der den Bericht aus rechtsstaatlicher Sicht zur Makulatur macht: Man hat versäumt, die Hauptbetroffenen zu befragen, Esther Wyler und Margrit Zopfi. Juristen nennen es «Verweigerung des rechtlichen Gehörs».
Im Stadtrat bricht nun ein Streit um die Frage aus, ob der Mangel behoben werden sollte. Die eine Gruppe um Finanzvorstand Vollenwyder (FDP) und Robert Neukomm (SP) plädiert dafür, die «Formalie» einfach zu ignorieren. Ledergerber dagegen befürchtet ein späteres Fiasko, das auf den Gesamtstadtrat zurückfallen könnte. Kurzfristig ist der einseitige Bericht zwar nützlich für den Wahlkampf um Stockers Nachfolge. Doch im Prozess gegen Zopfi und Wyler könnte er sich zum Bumerang entwickeln.
Schliesslich einigt man sich darauf, die beiden Frauen zu einem Gespräch einzuladen, ihnen aber den Einblick in die Untersuchung zu verweigern. Die in der Zwischenzeit fristlos entlassenen Controllerinnen beharren aber auf Akteneinsicht. Das auf den 20. März anberaumte Gespräch platzt. Gemäss Recherchen der Weltwoche wäre es eine reine Alibiübung gewesen: Zu diesem Zeitpunkt liegt der Schlussbericht schon beim Stadtrat, der ihn gleichentags absegnet.
Der Stadtrat hat es eilig. Am 28. März präsentiert Stadtpräsident Elmar Ledergerber wohlgelaunt das Resultat. Den Kommentar überlässt er Experte Peter Arbenz: «Eigentlich ist es penibel, dass man einen derartigen Aufwand treiben musste, um zur Wahrheit zu gelangen.» Monika Stocker geniesst die Vorstellung, umgeben von ihrer Entourage, in den Zuschauerrängen – so als hätte sie mit der ganzen Untersuchung nichts zu tun. Esther Wyler und Margrit Zopfi stehen nun unter Erklärungszwang. Es ist nicht einfach, sich in der Öffentlichkeit gegen eine «unabhängige Studie» zu wehren, die etwas untersucht hat, was man in dieser Form gar nie behauptet hat.
Ganz wohl war es den beiden unabhängigen Beratern bei ihrer Sache offenbar aber doch nicht. Bei genauerer Lektüre des Berichtes fällt nämlich auf, dass sie in ihren Empfehlungen auch eine Reihe von Mängeln im System auflisten – zu lange Dienstwege, ungenügende Transparenz, fehlendes Risiko-Management – und «vor einer Verharmlosung der Probleme» warnen. Man fragt sich: Was soll denn geändert werden, wo doch zu 99,9 Prozent alles in Ordnung ist? Stadtpräsident Ledergerber nahm die Antwort vorweg: Hauptsache, das Vertrauen der Bevölkerung in ihre Institutionen ist wieder hergestellt.
Quelle: www.weltwoche.ch
Donnerstag, 3. April 2008
Bestellte Gutachten - Gewünschte Ergebnisse
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