Auf eigene Faust
Text: Daniel Benz, Birthe Homann und Dominique Strebel
Das Vertrauen in Polizei, Gerichte und Behörden schwindet. Die Folge: Bürger erklären das Recht zu ihrer Privatsache. Und schliessen sich zu Bürgerwehren zusammen, beschimpfen Richter oder verweigern kollektiv den Gehorsam.
Für die Polizei hat Roland Furrer nur ein Wort des Bedauerns übrig. «Armi Cheibe» seien das, müssten mit immer weniger Leuten immer mehr Sicherheit bieten. Also springt Furrer, Siebdrucker und Ex-Schwergewichtsboxer aus Ebikon LU, in die Bresche: Mit einer von ihm gegründeten Bürgerwehr sorgt er für Recht und Ordnung in seinem Wohnquartier, seit Jahren schon und mitunter mit unzimperlichen Methoden (siehe Nebenartikel «Roland Furrer: Hemdsärmlig gegen Störenfriede»). Die Ebiker Behörden dulden das Tun der selbst ernannten Sheriffs stillschweigend.Andernorts packt man die Sache offensiver an. In Amriswil TG etwa ermunterte der Stadtrat diesen Sommer Mitglieder des örtlichen kynologischen Vereins, künftig mit ihren Hunden durch die Strassen zu patrouillieren. Und in der von einem Tierschänder heimgesuchten Nordwestschweiz zeitigten die Aufrufe der Polizeistellen, die Bevölkerung möge beim Aufspüren des Täters mithelfen, Wirkung – auch ungewollte: In Oberwil bei Büren BE taten sich wütende Landwirte und besorgte Tierfreunde zur «Oberwiler Security Guard» zusammen, um in Eigenregie zum Rechten zu sehen. Bis die Polizei in diesen abgelegenen Gebieten anrücke, vergehe eine Ewigkeit, so Guard-Chef Ralph Güntlisberger gegenüber der Lokalpresse: «Die Leute hätten viel Zeit, um den Irren ohne Gerichtsverhandlung zu bestrafen.»
Bereits 10'000 «Privatpolizisten»
Wenn Selbstjustiz derart unverblümt ins Spiel gebracht wird, läuten bei Fachleuten die Alarmglocken. «Das sind Symptome für den zerfallenden Konsens in der Gesellschaft», sagt etwa der Zürcher Psychoanalytiker Mario Erdheim. Wenn keine Einigkeit mehr darüber herrsche, was gefördert und was verhindert werden soll, entstünden Gruppen, die das durchsetzen wollen, was sie für richtig halten. Dass dies immer häufiger zutage tritt, ist für Erdheim kein Zufall: «Der Neoliberalismus zerstört die aufwändigen gesellschaftlichen Prozesse, die für den Erhalt einer gemeinsamen Kultur nötig sind, nicht zuletzt durch Sparmassnahmen und Privatisierungen.» Erdheims Theorie wird vom Praktiker an der Polizeifront geteilt: «Es ist fragwürdig, wenn die gleichen Kreise, die Sicherheit als höchstes Gut predigen, dem staatlichen Service public die Mittel entziehen», wettert Jean-Pierre Monti, Generalsekretär des Verbands Schweizerischer Polizeibeamter, mit Blick auf die widersprüchliche Haltung gewisser bürgerlicher Sparpolitiker. Die Polizisten müssten bei gleich bleibendem Personalbestand immer vielfältigere Aufgaben übernehmen. Dafür fehlten schweizweit 1'600 Beamte – was den Privaten Tür und Tor öffne. Ein Dorn im Auge sind Monti dabei weniger die nur punktuell agierenden Bürgerwehren, sondern gleichsam deren gewerbliche Variante: die privaten Sicherheitsunternehmen. In der Schweiz stehen 16'000 ausgebildeten Polizisten bereits 10'000 private – und oft nur rudimentär geschulte – Ordnungshüter gegenüber. Zwar sind die Privaten überwiegend im klassischen Bewachungsdienst tätig, doch lagern immer mehr Gemeinden polizeiähnliche Aufgaben aus; zuletzt unter anderem im aargauischen Kölliken und im thurgauischen Bischofszell.
Selbst Christoph Blocher ist besorgt
Angesichts dieser Entwicklung soll die Privatisierung der Sicherheit nun politisch eingedämmt werden. Der Bundesrat hat für Ende 2005 einen Bericht zur rechtlichen Situation angekündigt, nachdem der Thurgauer CVP-Ständerat Philipp Stähelin in einem Postulat vor der schleichenden Aushöhlung des staatlichen Gewaltmonopols gewarnt hatte. In seiner Antwort teilt Justizminister Christoph Blocher diese Sorge nicht nur, sondern sieht im Aufkommen der Privaten sogar «ein Zeichen dafür, dass man den staatlichen Schutzorganen nicht mehr vollumfänglich traut». Wenn der Bundesrat das sagt, wird es wohl stimmen: Die staatlichen Autoritäten verlieren ihre Autorität – nicht nur im Bereich Sicherheit, sondern auf allen Ebenen. Vorbei die Zeiten, da man gegen missliebige Anordnungen «von oben» die Faust höchstens im Sack machte. Dies äussert sich ganz konkret in einer vermehrten Gewaltanwendung gegenüber Beamten, obwohl diese nichts weiter tun, als ihren Gesetzesauftrag zu erfüllen. So müssen im Kanton Zürich die Lebensmittelkontrolleure ihren Job teilweise unter Begleitschutz verrichten, weil sie Übergriffe der kontrollierten Betriebsinhaber fürchten. Und die Sozialämter rüsten aus Angst vor Racheakten enttäuschter Klienten technisch auf (siehe Artikel zum Thema Sozialhilfe: «Ihr wisst ja, was in Zug passiert ist»). Insgesamt wurden im letzten Jahr gemäss polizeilicher Kriminalstatistik 1'356 angezeigte Fälle von Gewalt und Drohung gegen Behörden und Beamte registriert – satte 20,5 Prozent mehr als 2003. Die erhöhte Gewaltbereitschaft der Bürger wird auch beim Beratungszentrum des Beobachters spürbar. Dazu beigetragen hat vor allem der Amoklauf von Fritz Leibacher im Zuger Kantonsparlament im September 2001. «Seit diesem Attentat ist die Drohung von Ratsuchenden, bald ‹wie der Leibacher› zu handeln, immer wieder zu hören», sagt Walter Noser, Experte für Sozialfragen. Es sei oft schwierig abzuschätzen, wie ernst das gemeint sei. «In jedem Fall steckt dahinter jedoch eine tiefe Kränkung, weil sich Leute von einer Behörde ungerecht behandelt fühlen und deren Handlung nicht verstehen.»
«Idiotischer Richter»
Dass sich Frust in Gewalt entlädt, ist indes nur eine Facette von Selbstjustiz. Der im Waadtland wohnhafte Gerhard Ulrich steht für eine subtilere Qualität des Widerstands gegen die Obrigkeit: fein vernetzt und gut organisiert. Ulrich war bis ins Alter von 56 Jahren ein unauffälliger Bürger. Im Jahr 2000 kam das Schlüsselerlebnis: Während seines Scheidungsverfahrens sei er «von einer Stunde auf die andere» aus dem gemeinsamen Haus geworfen worden – «ohne je angehört worden zu sein und ohne seine persönlichen Effekten je wiedergesehen zu haben». Seine Frau habe behauptet, sie sei von ihm brutal zusammengeschlagen worden – Ulrich musste 45 Tage ins Gefängnis. «Ein Racheakt», sagt er, «um den Unfug eines idiotischen Richterkollegen nachträglich zu decken.» Sogar die Richter in Strassburg hätten sich nicht daran gestossen, dass seine persönlichen Effekten nicht herausgegeben wurden. Da habe er Gewissheit gehabt, dass das ganze System krank sei und viele Bürger so respektlos behandelt würden. Dieses Erlebnis empörte Ulrich derart, dass er unter Einsatz von viel Zeit und Geld die Organisation «Appel au peuple» («Aufruf ans Volk») aufbaute (siehe Nebenartikel «Gerhard Ulrich: Die Richter im Visier»). Heute arbeitet der Teilzeitpöstler, gegen den derzeit noch ein Verfahren wegen Brandstiftung am Haus seiner Frau hängig ist, 40 Stunden pro Woche für seine Organisation. Dieser geht es unterdessen finanziell gut: 2005 nahm sie Spenden in der Höhe von 100000 Franken ein. Ihren Feldzug gegen schlechte und unehrliche Richter führen Gerhard Ulrich und seine rund 1000 Mitstreiter ehrenamtlich.«Ulrichs Geschichte ist typisch», sagt der Zürcher Oberrichter Remo Bornatico. «Viele Justizenttäuschte haben einmal erlebt, dass die Justiz sie nicht oder zu wenig angehört hat. Deshalb fühlen sie sich nicht ernst genommen und empfinden das als eine Beleidigung, über die sie nicht hinwegkommen.» Als Obergerichtspräsident erhielt Bornatico oft Zuschriften, in denen über Richter und Gerichte geschimpft und auch gedroht wurde. «Ich habe die Leute dann zum Gespräch eingeladen, habe zugehört und erklärt, weshalb die Richter so und nicht anders entschieden haben.» In den meisten Fällen hätten die Leute dann Ruhe gefunden. Manchmal seien gar noch Lösungen möglich gewesen. Bornatico amtet seit 30 Jahren als Richter. In dieser Zeit hat er festgestellt, dass die Zahl jener, die der Justiz die Stirn bieten, in den letzten Jahren zugenommen hat. Er erklärt sich dies mit einem gewachsenen Misstrauen gegenüber den Instanzen, aber auch mit der Rolle der Medien: «Heute wird jede Unregelmässigkeit in einem Gericht umgehend in den Medien vermeldet. Das untergräbt die Autorität der Institution. Umso besser muss der einzelne Richter zuhören und seine Entscheide erklären können – dies möglichst mündlich.»
Zug hat aus dem Blutbad gelernt
Noch reagiert der Staat kaum auf die offenkundige Entfremdung zwischen ihm und den Bürgern. Immerhin: Der Kanton Waadt, wo «Appel au peuple» besonders aktiv ist, hat auf Anregung des Kantonsgerichts eine «médiation judiciaire» eingerichtet, eine Ombudsstelle speziell für Justizfragen. Sie kann Urteile zwar nicht korrigieren, hört aber Bürger an, die sich schlecht behandelt fühlen, und versucht zu vermitteln. Daneben gibt es in der Schweiz aber nur gerade acht behördliche Ombudsstellen. Das Projekt einer eidgenössischen Ombudsstelle wurde seit den siebziger Jahren immer wieder auf die lange Bank geschoben und 2004 definitiv beerdigt – aus Kostengründen. Ein Armutszeugnis und ein Indiz dafür, dass der Wille fehlt, das Anliegen ernst zu nehmen. Dabei sind neutrale Anlaufstellen anerkanntermassen ein taugliches Mittel. «In jedem Fall vergrössern sie die Chancen, dass eine Sache nicht eskaliert», sagt der Rechtsanwalt und Mediator Beat Gsell, der seit Mai 2003 in Zug als «Vermittler in Konfliktsituationen» tätig ist. Für die Schaffung dieser Stelle brauchte es das Blutbad im Zuger Parlamentsgebäude. Bilanz nach zwei Jahren: Über 200 Personen, die mit dem Staat in irgendeiner Weise in Konflikt stehen, haben die Anlaufstelle bisher konsultiert. Gsell: «Häufig empfinden sich die Ratsuchenden in ihrem Verhältnis zum Staat nicht als Individuum, sondern als Chiffre wahrgenommen. Deshalb kämpfen sie darum, als Person in Erscheinung treten zu können.»
Wenn ganze Dörfer rebellieren
Längst sind es jedoch nicht nur einzelne Bürger, die das Handeln der höheren Instanzen nicht mehr verstehen und darauf mit offenem Ungehorsam reagieren. Eine neuere Erscheinung sind ganze Gemeinden, die sich widerborstig geben, wenn sie das Gefühl haben, der Bund verschleppe die Lösung eines Problems und trage es stattdessen auf ihrem Rücken aus. Ein kräftiges Säbelrasseln provoziert der Fluglärmstreit im Kanton Zürich. «Wer von seinen Bürgern verlangt, sich an geltende Gesetze zu halten, sollte das ebenso tun», massregelte etwa der Gemeinderat von Oetwil am See den Zürcher Regierungsrat – und gab auf amtlichem Papier gleich noch einen drauf: «Das Misstrauen gegenüber der Regierung nimmt damit ebenso zu wie der Drang zur Selbstjustiz.» Nicht nur gedroht, sondern gehandelt haben vor zwei Jahren mehrere Kommunen wie etwa Schwanden im Glarnerland: Die Gemeindebehörden foutierten sich demonstrativ um ein Bundesgerichtsurteil und nahmen ihre Einbürgerungen weiterhin mit der verfassungswidrigen Methode der Urnenabstimmung vor. Kollektiven Rechtsbruch – und zwar in vollem Bewusstsein – begehen auch jene schweizweit gegen 30 Gemeinden, die sich weigern, Baugesuche für UMTS-Antennen zu behandeln. Bevor die gesundheitlichen Auswirkungen der neusten Mobilfunktechnologie nicht geklärt sind, will etwa das Zürcher 3000-Seelen-Dorf Hedingen keine Baubewilligungen für solche Anlagen mehr erteilen (siehe Nebenartikel «Paul Schneiter: Der Gemeinderat als Revoluzzer»). «Wir sehen es als unsere politische Pflicht an, im Zweifelsfall die Gesundheit unserer Bürger vor staatlich geschützte Wirtschaftsinteressen zu stellen», rechtfertigt Hochbauvorstand Paul Schneiter den zivilen Ungehorsam seiner Behörde. «Wir stellen ein bedenklich grosses Defizit an Verständnis zwischen Politik, Wirtschaft und Gesellschaft fest», bestätigt Sascha Spoun, Co-Leiter des Zentrums für Führung in Gesellschaft und Öffentlichkeit der Universität St. Gallen. Das Zentrum wurde letztes Jahr «aus Sorge um unsere Gesellschaft» initiiert und soll Antworten liefern, wie das allseits schwindende Vertrauen wiederhergestellt werden kann. «Wenn die Menschen kein Vertrauen in den Rechtsstaat mehr haben und glauben, die Gerechtigkeit selber in die Hand nehmen zu müssen, entsteht ein System der Selbstjustiz», so Spoun. Und wenn sogar Gemeinden als Träger der staatlichen Autorität eine kollektive Widerstandshaltung einnehmen würden, stünden die Zeichen auf Sturm: «Der Staat muss handeln!»
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