Donnerstag, 23. Oktober 2008

Europa und seine transatlantischen Beziehungen

USA / Europa
Viel Streit um nichts

Von Peter Baldwin
Nach acht Jahren George W. Bush scheint zwischen den USA und Europa eine tiefe Kluft zu klaffen: Dort der Hegemon, verschwenderisch, rücksichtslos. Hier Europa, sozial und umweltfreundlich. Eine Studie zeigt, dass die Unterschiede in Wirklichkeit gering sind.

Wenige Wochen vor den US-Präsidentschaftswahlen ist es angebracht, einen Blick auf die transatlantischen Beziehungen zu werfen. Unter George W. Bush sah sich Europa veranlasst, Amerika als unilateralistischen Kraftprotz zu betrachten, der sich in aussenpolitischen Fragen wenig um die Meinung anderer schert und nicht bereit ist, sich in internationale Strukturen einzufügen. Aussenpolitische Konflikte haben die Europäer in ihrer Ansicht bestärkt, dass man nicht nur in bestimmten politischen Fragen anderer Meinung ist; Europa und Amerika, glaubte man, seien überhaupt verschiedene Gesellschaften, die immer weniger verbindet. Das transatlantische Verhältnis wird sich, unabhängig vom Ausgang der Wahlen, verbessern. Selbst McCain hat eine eher multilaterale Aussenpolitik zugesagt. Man darf also die Frage stellen, wie gross die Kluft zwischen Amerika und Europa tatsächlich ist.

Europa und Amerika sind sehr anders, jeder weiss das. Konservative Amerikaner weisen gern darauf hin, und in Europa wird diese Ansicht im gesamten politischen Spektrum vertreten. Amerika hat eine ungezügelte kapitalistische Marktwirtschaft, mit uneingeschränkter Konkurrenz, Armut, Umweltverschmutzung, Kriminalität, ist letztlich eine unsoziale Klassengesellschaft. Europa hält am Sozialstaat mit geregeltem Arbeitsmarkt und gutentwickelten Wohlfahrtssystemen fest. Die europäische Wirtschaft mag weniger dynamisch sein, aber die Gesellschaft ist solidarischer und harmonischer. Die Stimme der britischen Linken, der Guardian, bezeichnet den europäischen Weg als «soziale Marktwirtschaft», den amerikanischen Weg als «Raubtierkapitalismus».

Dass es grosse Unterschiede zwischen Europa und Amerika gibt, ist nicht neu. Sie haben sich in den letzten zehn Jahren deutlich verschärft. Aussenpolitische Meinungsverschiedenheiten (Irak, Iran, Israel, Nordkorea) tragen ebenso dazu bei wie die grundsätzliche Frage, welche Rolle der einzig verbliebenen Supermacht zukommt. Letztlich aber dreht sich der Streit um die vermeintliche Andersartigkeit der beiden Gesellschaften.

Die transatlantischen Unterschiede

Dies sind die Gegensätze: Amerika glaubt an den ungehinderten Markt, Europa akzeptiert den Kapitalismus, bändigt aber dessen Exzesse. Wegen der dominierenden Stellung des Marktes wird in den USA nicht so viel Rücksicht auf die Umwelt genommen wie in Europa. Amerikaner sind konkurrenzorientiert, Europäer solidarisch. Initiative und Leistung mögen in Amerika besser belohnt werden, aber wer nicht mithalten kann, findet sich rasch ganz unten wieder. In Europa verhindern Sicherheitsnetze solches Elend, mit der Folge, dass Initiative und Enthusiasmus der Besten gebremst wird. Weil die sozialen Gegensätze in Amerika grösser sind, ist die Kriminalität ein grösseres Problem als in Europa. Wenn es in Amerika überhaupt so etwas wie Sozialpolitik gibt, so ist sie kümmerlicher als in Europa. Das Bildungswesen etwa ist schichtspezifisch organisiert und weitgehend privatisiert, in Europa ist es allgemein zugänglich und staatlich finanziert. Weil es in Amerika keine staatliche Krankenversicherung gibt, sterben die Leute früh und leben schlecht. Europäer denken säkular, bei Amerikanern spielt die Religion eine Rolle im öffentlichen Leben. Es scheint, als würden sich beide Gesellschaften grundsätzlich voneinander unterscheiden: Konkurrenz versus Kooperation, Individualismus versus Solidargemeinschaft, Autonomie versus Kohäsion.

Das alles ist bekannt. Aber stimmt es auch? Ist dies ein zutreffendes Bild der transatlantischen Unterschiede? Um diese Frage zu beantworten, müssen wir zunächst untersuchen, wie breit das europäische Spektrum ist. Gibt es ein uniformes Europa, mit dem man die USA vergleichen kann? Und zweitens müssen wir untersuchen, ob sich Amerika im Rahmen dieses Spektrums bewegt oder ob es weiter vom europäischen Mittel entfernt ist als die anderen europäischen Extreme wie weit sozusagen der Apfel vom Baum gefallen ist.

Betrachten wir also einige Aspekte, bei denen nach allgemeiner Auffassung die Unterschiede zwischen Amerika und Europa besonders gross und unüberbrückbar sind. Mit Europa soll hier Westeuropa gemeint sein, also die fünfzehn EU-Staaten vor der letzten Osterweiterung plus Norwegen, Island und die Schweiz. Ich stütze mich dabei auf mein Buch «The Narcissism of Minor Differences: How America Resembles Europe», das im Herbst 2009 bei Oxford University Press erscheinen wird. Dort finden sich auch weitere Details sowie Quellenangaben.

Es heisst oft, Amerika sei eine ökonomisch ungleichere Gesellschaft als Europa, eine Gesellschaft, in der die Unterschiede zwischen Reich und Arm stärker ausgeprägt sind. Das stimmt - mit Einschränkungen. Im Durchschnitt ist Amerika reicher als die meisten europäischen Staaten. Das mittlere Einkommen ist höher als in Europa, ausgenommen Luxemburg. Mit verbreiteter Armut ist das sehr wohl kompatibel. Bei ungleicher Einkommensverteilung verschleiert ein hoher Durchschnitt extremen Reichtum und bittere Armut. Ein relativer Indikator für Armut ist die Höhe der anderen Einkommen in derselben Gesellschaft. Armut kann beispielsweise definiert werden als 60 Prozent des mittleren Einkommens. So gesehen gibt es in den USA relativ mehr Arme als in Europa, obwohl die Zahlen vergleichbar sind mit denen in Grossbritannien, Irland, Spanien und Griechenland, wo ein Fünftel bis ein Viertel der Bevölkerung arm ist.

Die Einkommensverteilung ist in den USA tatsächlich ungleicher als in Westeuropa. 1998 entfielen auf das reichste Prozent 14 Prozent des gesamten Einkommens, in Grossbritannien waren es 12,5 Prozent, in Schweden nur 6 Prozent. Anders sieht es aus bei der Konzentration von Vermögen. Im Jahr 2000 besass das reichste Prozent der Amerikaner etwa 21 Prozent des gesamten Vermögens. Einige westeuropäische Länder weisen eine höhere Konzentration auf. In der Schweiz entfielen auf das reichste Prozent 35 Prozent des gesamten Vermögens. Die entsprechende Zahl für die reichsten Schweden - obwohl ihr Land für seinen Egalitarismus bekannt ist - liegt bei 21 Prozent, was genau den amerikanischen Verhältnissen entspricht. Addiert man die erheblichen Beträge, die legal ausser Landes gebracht werden dürfen, schneiden die reichsten Schweden mit etwa 42 Prozent des gesamten Volksvermögens doppelt so gut ab wie ihre amerikanischen Kollegen.

Einkommen und Vermögen sind in Amerika sehr unterschiedlich verteilt, aber nicht sehr viel anders als in Europa. Ungleichheit ist aber nicht dasselbe wie Armut. Bedeutet eine breite Einkommensverteilung, dass viele Amerikaner arm sind? Wenn wir Armut relativ definieren, etwa als die Hälfte des mittleren Einkommens, dann wird eine komprimierte Einkommensverteilung, wie sie viele europäische Länder aufweisen, die Zahl der Armen natürlich reduzieren. Die vielen Amerikaner, die als arm gelten, mögen schlechter dran sein als diejenigen, die in der Skala etwas höher stehen, aber geht es ihnen wirklich schlecht? Nehmen wir absolute Armut (gemessen an dem Betrag, der der Hälfte des mittleren Einkommens der sechs ursprünglichen EWG-Gründungsmitglieder im Jahr 2000 entspricht), stellt man fest, dass viele westeuropäische Länder einen höheren Anteil an Armen haben als die USA. Nicht nur in den Mittelmeerländern gibt es proportional mehr Armut, auch in Grossbritannien und Irland, Frankreich, Belgien, den Niederlanden, Finnland und Schweden.

Hohe Kindersterblichkeit

Der amerikanische Wohlfahrtsstaat wird (im Vergleich zu Europa) oft als unterentwickelt und kärglich bezeichnet. Gemessen an den Verhältnissen in Schweden oder Deutschland stimmt das auch. Wenn wir aber die europäische Sozialpolitik betrachten, so bewegen sich die USA in der unteren Hälfte des Spektrums. Zunächst einmal gibt es in Amerika keine staatliche Krankenversicherung. Fünfzehn Prozent der Bevölkerung sind nicht versichert. Das ist fraglos unfair und brutal, und es liegt auf der Hand, dass die medizinische Versorgung das dringendste Problem in der amerikanischen Innenpolitik ist. Selbst die Republikaner sehen das allmählich ein. Dennoch: Nicht versichert zu sein, ist etwas ganz anderes, als keinen Zugang zu medizinischer Versorgung zu haben. Auch wenn in einem so unvollkommenen System wie dem amerikanischen hohe Kosten anfallen und es allenthalben Lücken und Mängel gibt die Realität ist erstaunlich respektabel. Die eigentliche Schande des amerikanischen Gesundheitswesens ist die hohe Kindersterblichkeit, die höher ist als in allen europäischen Ländern. Das ist unstrittig. Auch die Lebenserwartung ist gering, aber im europäischen Massstab stehen amerikanische Männer besser oder jedenfalls nicht schlechter da als ihre Geschlechtsgenossen in Belgien, Irland, Dänemark, Portugal und Luxemburg.

Gesund und gut versorgt

Trotz des grossen Anteils der Nichtversicherten, ganz zu schweigen von dem exorbitanten Preis, den die Nation insgesamt bezahlt, sind die Amerikaner aber relativ gesund und werden medizinisch gut versorgt. Bei vielen Krankheiten liegt Amerika im europäischen Mittelfeld: Diabetes, Herz- und Kreislaufkrankheiten, Schlaganfall. Viele Krebserkrankungen sind in Amerika recht häufig. Das könnte auf einen ungesunden Lebensstil hinweisen, aber auch auf bessere Diagnosen. Was immer der Grund ist, die Sterblichkeit - die Anzahl der Personen, die tatsächlich am diagnostizierten Krebs sterben - ist bemerkenswert gering (sie bewegt sich am unteren Ende der europäischen Skala). Bei Brustkrebs verzeichnet Amerika mehr Erkrankungen als jedes westeuropäische Land, aber der Prozentsatz der Frauen, die an Brustkrebs sterben, bewegt sich in der unteren Hälfte der europäischen Skala. Ähnliches gilt für Krebserkrankungen ganz allgemein. Mehr amerikanische Männer erkranken an Krebs als europäische Männer, aber die Sterblichkeit ist vergleichsweise niedrig - nur in Finnland, Schweden, Island, Griechenland und der Schweiz liegt sie tiefer. Bei den vier Hauptkrebserkrankungen (Dickdarm-, Lungen-, Brust- und Prostatakrebs) verzeichnen alle europäischen Länder eine schlechtere Überlebensrate als Amerika. Entweder sterben die Amerikaner, bei denen Krebs diagnostiziert wurde, aufgrund anderer Ursachen, oder sie werden gut behandelt.

Auch in anderen Bereichen der Sozialpolitik bewegen sich die amerikanischen Zahlen in der unteren Hälfte der europäischen Skala. Die Arbeitslosenhilfe ist in Amerika höher als in einigen europäischen Ländern. In Griechenland, Grossbritannien, Italien und Island gibt der Staat weniger Geld (pro Kopf der Bevölkerung) für Arbeitslosenunterstützung aus. Das liegt auch daran, dass schon seit Jahren prozentual weniger Amerikaner arbeitslos sind als Europäer. Und die Arbeitslosigkeit dauert deutlich weniger lang. Amerikanische Männer sind nicht einmal ein Drittel so lange arbeitslos wie ihre Geschlechtsgenossen in der Schweiz oder in Frankreich. In Amerika wird eine höhere Invalidenrente bezogen als in Griechenland und Portugal und praktisch genau so viel wie in Frankreich, Italien, Irland und Deutschland. Für Hinterbliebenenrente wird in Amerika pro Kopf der Bevölkerung mehr ausgegeben als in allen europäischen Ländern (ausgenommen Italien, Frankreich, Belgien und Luxemburg).

In Amerika existiert keine staatliche Familienförderung. Kindergeld gibt es nicht. Rechnet man aber Steuerentlastungen für Familien, direkte Zuwendungen und Dienstleistungen hinzu und setzt sie zum Bruttoinlandsprodukt (BIP) ins Verhältnis, so rangieren die USA in Sachen Familienförderung noch vor Spanien, Griechenland und Italien und nur knapp hinter der Schweiz. Die staatliche Kinderförderung (Kindertagesstätten und Vorschulen) der USA bewegt sich im europäischen Mittelfeld.

Die staatlichen Renten liegen in der unteren Hälfte des europäischen Spektrums. Vergleicht man aber das verfügbare Einkommen der Senioren mit den Bezügen der Beschäftigten, so stehen Senioren nur in Österreich, Deutschland und Frankreich besser da.

Der US-Sozialhaushalt, als Anteil der Gesamtwirtschaft, entspricht knapp der europäischen Norm und rangiert noch vor Irland. Weil das amerikanische BIP aber grösser ist als in den meisten europäischen Ländern, sind die Pro-Kopf-Ausgaben grösser, als der amerikanische Rang vermuten lässt. Bei dem real aufgewendeten Pro-Kopf-Betrag rangiert Amerika im unteren Mittel des europäischen Spektrums, noch vor den meisten Mittelmeerländern und Island, in derselben Gruppe wie Grossbritannien, die Niederlande und Finnland. Die Schweden geben (nach Anteil am BIP berechnet) fast das Doppelte für den Sozialhaushalt aus wie die Amerikaner, aber die Pro-Kopf-Ausgaben in den USA liegen nur dreissig Prozent unter denen in Schweden. Ein grösserer Anteil an weniger ist eben nicht mehr.

Dieser Vergleich kann noch erweitert werden. Der US-Sozialhaushalt entspricht dem unteren Ende der europäischen Skala. Aber das ist nicht das Einzige, was den Wohlfahrtsstaat charakterisiert. Sozialpolitik ist mehr als nur das Geld, das vom Staat für diese Zwecke aufgewendet wird. Andere Umverteilungsmassnahmen sind genauso wichtig: freiwilliges Engagement, private, aber gesetzlich vorgeschriebene Leistungen sowie Steuern. Wenn man all das addiert, ist der amerikanische Wohlfahrtsstaat umfangreicher als weithin angenommen. Die Gesamtheit der sozialpolitischen Aufwendungen in Amerika bewegt sich in der Mitte des europäischen Spektrums - sechs Länder geben mehr Geld aus als die USA, sechs Länder weniger.

In Frankreich gibt es mehr Bestechung

Gewalt und Kriminalität sind in Amerika an der Tagesordnung. Erschreckend viele Morde werden verübt, pro Kopf der Bevölkerung fast doppelt so viele wie bei den nächsten Konkurrenten Schweiz, Finnland und Schweden. Das ist unstrittig. In den USA werden auch prozentual deutlich mehr Leute ins Gefängnis gesteckt. In anderer Hinsicht ist Amerika für europäische Begriffe ruhig und friedlich. Die Einbruchszahlen sind ziemlich hoch, liegen aber unter den Vergleichszahlen für Dänemark und Grossbritannien. In den USA werden weniger Diebstähle verübt als in sechs westeuropäischen Ländern, und die Zahl der Taschendiebstähle liegt nur wenig über den Vergleichszahlen für Schweden, Schottland, Finnland und Portugal. Die Zahlen für Körperverletzungen liegen im mittleren Bereich, entsprechend den Zahlen für Schweden und Belgien. Die Zahl der Vergewaltigungen ist hoch, die Zahl sexueller Übergriffe aber moderat. Nur Dänemark, Belgien und Portugal weisen hier niedrigere Zahlen auf; Österreich verzeichnet dreimal höhere Zahlen. Drogenmissbrauch ist häufig in den USA, bewegt sich aber (ausgenommen bei Cannabis, wo die Zahlen knapp über den britischen liegen) innerhalb des europäischen Spektrums.

Die Wirtschaftskriminalität liegt zwischen der Mitte und dem unterem Ende der europäischen Skala. In Frankreich gibt es sechsmal so viel Bestechungsfälle wie in Amerika. Die Zahl der korrupten Beamten entspricht derjenigen in der Schweiz und in Belgien, für Deutschland, Österreich, Dänemark, Portugal, Frankreich und Griechenland liegen die Zahlen über den amerikanischen. Die Kriminalitätsrate in den USA liegt in der Mitte der Skala. Tatsächlich verzeichnen nur relativ kleine Länder (Finnland, Österreich, die Schweiz und Portugal) eine geringere Kriminalitätsrate.

Im Bildungssektor lässt sich leichter zeigen, dass die transatlantischen Unterschiede nicht so gross sind. Es wird allgemein anerkannt, dass die akademische Ausbildung in den USA relativ gut ist, wobei die grösste Konkurrenz von den britischen Universitäten kommt. Auf die USA entfallen 40 Prozent der weltweiten Aufwendungen für Forschung und Entwicklung, in den USA erscheinen 63 Prozent aller wichtigen wissenschaftlichen Veröffentlichungen, 70 Prozent aller Nobelpreisträger arbeiten in den USA, und drei Viertel der 40 besten Universitäten weltweit befinden sich in den USA. In Amerika gibt es mehr Akademiker und Oberschulabsolventen als in jedem europäischen Land. Die amerikanischen Erwachsenen sind also besser ausgebildet als die europäischen. Man sollte auch bedenken, dass die amerikanischen Oberschulen, anders als gemeinhin angenommen, nicht schlechter sind als viele europäische. Laut Pisa-Studie 2006 rangieren amerikanische Schüler bei der Lesekompetenz in der Mitte des europäischen Spektrums, in mathematischen und naturwissenschaftlichen Fächern in der unteren Hälfte. Europäer glauben meist, dass in Amerika gute und schlechte Schulen strikt voneinander getrennt sind. Die Zahlen besagen jedoch etwas anderes. Bei der Pisa-Studie 2003 (Mathematik) waren die Unterschiede zwischen den amerikanischen Schulen höchstens moderat. Amerika liegt in der skandinavischen oberen Hälfte des Spektrums, nicht bei den stark gegliederten Schulen in Mittel- und Südeuropa. Nach Ansicht vieler Europäer sind gute Schulen in den USA privat organisiert und nur für eine Elite da. Doch das amerikanische Schulsystem ist, wenn überhaupt, weniger privatisiert als in den meisten europäischen Ländern. Das gilt beispielsweise für amerikanische Grundschulen, wo der Anteil der Schüler, die private Einrichtungen besuchen, sich in der Mitte des europäischen Spektrums bewegt.

Was ist das Ergebnis dieses Bildungssystems? Der Anteil ungebildeter Amerikaner ist durchschnittlich. Amerikaner lesen. Es gibt mehr Zeitungen pro Kopf als irgendwo in Europa, ausgenommen Skandinavien, die Schweiz und Luxemburg. Dank einer langen Tradition von finanziell gutausgestatteten Bibliotheken hat der durchschnittliche amerikanische Leser einen besseren Zugang zu Büchern als der durchschnittliche Leser in Deutschland, Grossbritannien, Frankreich, Holland, Österreich und den Mittelmeerländern. Amerikaner kaufen mehr Bücher pro Kopf der Bevölkerung als die Europäer, für die Zahlen vorliegen. Sie schreiben auch mehr Bücher. Nach der Zahl der veröffentlichten Bücher pro Kopf der Bevölkerung liegen Amerikaner als Autoren am oberen Ende des europäischen Spektrums.

Weil Amerikaner als Anhänger des freien Marktes angesehen werden, gelten sie meist als grosse Umweltsünder. Die USA sind der weltweit grösste Produzent von Treibhausgasen (in jüngster Zeit sind sie von China überholt worden). Bezieht man die Zahlen aber auf die Produktion, sieht es in Amerika nicht viel anders aus als in Europa - die Zahlen liegen nur etwas über denen der unmittelbaren Konkurrenten Luxemburg und Finnland. Die USA liegen, was Erhöhung oder Reduzierung des Ausstosses von Treibhausgasen angeht, im europäischen Mittelfeld. Pro Produktionseinheit sind die CO2-Zahlen zwischen 1990 und 2002 um 17 Prozent zurückgegangen. Das ist, produktionsbezogen, eine grössere Reduzierung als in neun westeuropäischen Ländern.

Der Pro-Kopf-Benzinverbrauch in Amerika ist hoch, aber geringer als in Belgien und Luxemburg zusammengenommen und nur etwas höher als in Island und den Niederlanden. Ausgedrückt als Funktion der wirtschaftlichen Produktion, bewegt sich der amerikanische Ölverbrauch im europäischen Mittel, er liegt sogar unter den Vergleichszahlen für Portugal, Griechenland, die Benelux-Staaten und Island. Der gesamte Pro-Kopf-Energieverbrauch ist hoch, liegt aber unter den Zahlen für Island und Luxemburg und nur etwas über denen für Finnland. Bei der Erzeugung erneuerbarer Energien (Biosprit, Biomasse, Erdwärme oder Windenergie) befinden sich die USA im europäischen Mittelfeld. Und der Anteil der Sonnenenergie am gesamten Energieverbrauch liegt nur in Portugal, der Schweiz, Österreich und Griechenland höher als in den USA.

Obwohl Amerika als hypermotorisierte Nation gilt, besitzen die Amerikaner pro Kopf weniger PKWs als die Franzosen, Österreicher, Schweizer, Deutschen, Luxemburger und Italiener. Selbst die Zahl aller Strassenfahrzeuge liegt in den USA unter der von Portugal, sie entspricht derjenigen von Luxemburg, Island und Italien. Pro Kopf nutzen die Amerikaner ihre Fahrzeuge sehr viel mehr als die Europäer, etwa siebzig Prozent mehr als die Italiener. Berücksichtigt man jedoch die Grösse des Landes, ist die Nutzung nur in Finnland, Schweden und Griechenland niedriger. Und wenn man die Zahl der Autofahrten proportional zum Strassennetz berechnet, so wird in Italien und Grossbritannien mehr Auto gefahren als in Amerika.

Für Güter die Bahn

Der öffentliche Personenverkehr lässt in Amerika viel zu wünschen übrig, aber das Schienennetz ist grösser als in jedem europäischen Land, ausgenommen Finnland, Schweden und Island. Es stimmt schon, Amerikaner reisen nicht besonders gern mit der Eisenbahn. Auf den Schienen wird vor allem Fracht befördert. In Amerika wird pro Kopf mehr als dreimal so viel Bahnfracht befördert wie in Schweden, das gleich dahinter rangiert. Ökologisch ist es wenig sinnvoll, wenn Passagiere mit der Bahn reisen, während Fracht auf der Strasse befördert wird. In allen europäischen Ländern wird proportional mehr Fracht per LKW befördert als in Amerika. In Irland, dem Land das an der Spitze dieser Rangliste liegt, wird viermal so viel Fracht auf der Strasse befördert wie in den USA. Die Zahl der LKWs pro Kopf der Bevölkerung ist in Amerika niedriger als in ganz Europa - sie entspricht etwa einem Drittel der Zahl von Norwegen, Frankreich oder Österreich.

Beim U-Bahn-Verkehr in den Grossstädten liegen die USA im europäischen Mittelfeld. Die New Yorker fahren öfter (pro Kopf) mit der U-Bahn als die Leute in Athen, Berlin, London, Oslo, Brüssel und Helsinki. Die Zahl der Nutzer der Stadtbahn in Boston liegt über der vergleichbaren Zahl in Brüssel. In San Francisco und Philadelphia wird die U-Bahn stärker genutzt als in Amsterdam und Rotterdam. Die Chicagoer Metro befördert mehr Passagiere als die Hamburger U-Bahn. In Atlanta werden etwa dreimal mehr Passagiere befördert als in Glasgow, was, in Prozentzahlen ausgedrückt, etwa auf das Gleiche hinausläuft. Die Passagierzahl in Rom liegt nur ein Fünftel über derjenigen von Washington.

Amerikaner produzieren pro Kopf ziemlich viel Müll, aber die Norweger sind noch schlimmer, während Iren und Dänen fast gleichauf liegen. Doch in Sachen Abfallrecycling stehen sie genauso gut da wie Finnen und Franzosen und sogar besser als Briten, Griechen und Portugiesen. Seit 1990 ist das Müllaufkommen (pro Kopf) in Amerika kaum gestiegen, während in allen europäischen Ländern, für die Zahlen vorliegen, eine dramatische Zunahme registriert wurde - über 50 Prozent in Italien, 40 Prozent in Norwegen, 30 Prozent in Schweden.

Beim Naturschutz sieht es in Amerika gar nicht so schlecht aus, es steht prozentual etwa zweimal so viel Bodenfläche unter Naturschutz wie in Frankreich, Grossbritannien oder auch Schweden mit seinen ausgedehnten Nationalparks. In elf europäischen Staaten (von sechzehn) ist der Anteil an Nationalparks geringer als in den USA. In Amerika gibt es prozentual mehr geschützte Gewässer als in jedem europäischen Land (bis auf Dänemark). Das Ergebnis ist, dass in den USA, verglichen mit Europa, relativ wenige Tierarten bedroht sind. Nur in Irland, Grossbritannien, Finnland, Portugal und den Niederlanden gibt es (im Verhältnis zur Anzahl aller bekannten Arten) weniger bedrohte Säugetiere als in den USA.

Der Anteil landwirtschaftlich genutzter Flächen ist in Amerika niedriger als in Europa. Aber der Verbrauch von organischen Lebensmitteln entspricht dem europäischen Durchschnitt, er ist höher als in Holland, Schweden, Italien, Frankreich und Belgien. Konventionelle amerikanische Landwirte arbeiten mit weniger Düngemitteln als ihre europäischen Kollegen. Pestizide werden nur sparsam eingesetzt. Nur in Finnland, Schweden und Irland verwenden die Bauern weniger Düngemittel pro Quadratkilometer bewirtschafteter Fläche. Die Italiener verwenden mehr als siebenmal so viel. Niederländische Bauern verwenden fünfmal so viel Stickstoffdünger wie die Amerikaner. Nur die Portugiesen verwenden weniger. Nach europäischen Standards kann die US-Landwirtschaft praktisch als organisch bezeichnet werden.

Die Industrie-Emissionen (bezogen auf das BIP) sind in den USA ziemlich hoch, aber nur die Kohlenmonoxidwerte sind höher als in jedem europäischen Land. Bei flüchtigen organischen Verbindungen (VOC) weisen Norwegen, Portugal und Griechenland eine schlechtere Bilanz auf, die von Spanien ist etwa gleich, dicht gefolgt von Schweden. Bei Stickstoffoxid hat Island höhere Werte, während Spanien und Griechenland knapp hinter den USA liegen. Bei Schwefeloxid stehen Griechenland, Portugal und Spanien schlechter und Island nur etwas besser da. Nach europäischem Massstab ist die Feinstaubbelastung in amerikanischen Städten mässig, und sie ist schneller gesunken als in Österreich, Norwegen, Portugal und der Schweiz.

Wenn wir uns von den harten Fakten in Wirtschaft, Sozialpolitik, Kriminalität und Umwelt den «weicheren» Themen der Zivilgesellschaft zuwenden, so ist nüchternes Quantifizieren und Vergleichen in diesem Bereich nur eingeschränkt möglich. Anhand internationaler Studien zu sozialen Einstellungen, durchgeführt vom World Values Survey und dem International Social Survey Programme, lassen sich aber einige Schlussfolgerungen ziehen.

Grosse Patrioten: Portugiesen und Iren

Amerikaner gelten als nationalistisch und religiös, Europäer dagegen als postnationalistisch und säkular. Auch an diesem Klischee sind Zweifel erlaubt. Amerikaner sind patriotisch und nationalistisch, aber nicht stärker als manche Europäer. Deutsche sind, kein Wunder, am wenigsten stolz auf ihr Land, und erstaunlicherweise sind nicht die Amerikaner die stolzesten Patrioten, sondern die Portugiesen, dicht gefolgt von den Iren. Laut einer Studie von 2007 fühlen sich mehr Italiener als andere Völker kulturell überlegen. Gemäss einer anderen Studie ist vor allem der irische Nationalstolz besonders ausgeprägt. Prozentual mehr Österreicher, Franzosen und Dänen als Amerikaner fühlen sich ihrem Land verbunden. Die Überzeugung, dass ihr Land besser sei als die meisten anderen Länder, ist unter den Amerikanern stärker als unter den Europäern. Allerdings sind prozentual mehr Portugiesen, Dänen und Spanier der Ansicht, dass die Welt besser wäre, wenn andere Völker so wären wie sie. Und der ausgeprägte amerikanische Patriotismus wird dadurch gemildert, dass prozentual mehr Amerikaner als Deutsche, Österreicher, Spanier, Franzosen, Dänen und Finnen einräumen, dass nicht alles in ihrem Land gut ist. Laut Umfragen sind Finnen (82 Prozent), Dänen (83 Prozent), Norweger (87 Prozent) und Schweden (85 Prozent) eher bereit, für ihr Land zu kämpfen, als die Amerikaner (71 Prozent). Vom Postnationalismus zumindest der Skandinavier hat man sich vielleicht ein falsches Bild gemacht. Eingeklemmt zwischen Russland und Deutschland, wissen sie den Wert einer guten Armee zu schätzen.

Selbst im Bereich der Religion sind die üblichen Klischees einer absoluten Polarität zwischen Amerika und Europa anzuzweifeln. Es gibt Gegensätze, aber sie sind weniger krass oder undifferenziert als oft angenommen. 1999 bezeichneten sich nur 1,7 Prozent der Amerikaner als Atheisten, das sind weniger als bei den Europäern, wobei die Iren und Österreicher den Amerikanern ziemlich nahe kamen. Aber in keinem europäischen Land, ausser Frankreich (mit 14,2 Prozent), gibt es mehr als 8 Prozent erklärte Atheisten. Die Amerikaner sind dem europäischen Mittelwert näher als die Franzosen. Prozentual weniger Amerikaner als Portugiesen und Italiener halten sich für religiös. Weniger Amerikaner als Iren und Portugiesen und nur etwas mehr als Italiener glauben an Gott. Mehr Amerikaner als Nordeuropäer glauben an Gott, aber die amerikanischen Zahlen sind generell vergleichbar mit denen in katholischen Ländern. Mehr Amerikaner (16,4 Prozent) als Europäer gehen mehr als einmal wöchentlich zur Kirche (Irland: 13,3 Prozent), aber die Zahl der Amerikaner, die wöchentlich in die Kirche gehen, ist deutlich geringer als die in Irland, in Portugal und Italien ist sie ungefähr gleich. Mehr Amerikaner als Europäer beten mehrmals am Tag, aber weniger Amerikaner als Portugiesen beten einmal täglich, und einmal wöchentlich beten weniger Amerikaner als Briten, Italiener, Spanier, Portugiesen und Schweizer. Bei den Leuten, die überhaupt nie beten, ist der Anteil in Amerika doppelt so gross wie in Irland.

Wenn wir von den Meinungsumfragen wegkommen und uns den realen Verhältnissen zuwenden, werden die vermeintlich dramatischen Gegensätze zwischen amerikanischer und europäischer Religiosität noch unbedeutender. Die Zahl der christlichen Gemeinden pro Kopf der Bevölkerung entspricht in den USA dem europäischen Durchschnitt, sie ist deutlich niedriger als in Griechenland und nur etwas über der Zahl in Grossbritannien. Die Zahl der Amerikaner, die religiösen Gemeinschaften angehören, wird nur noch in den Niederlanden, in Frankreich, Belgien und Luxemburg unterschritten. Das hat mit dem Charakter der nordeuropäischen Staatskirchen zu tun und den dort gegebenen Austrittsmöglichkeiten. Aber selbst verglichen mit Grossbritannien, wo das nicht gilt, gehören weniger Amerikaner einer Religionsgemeinschaft an. Amerikanische und europäische Katholiken gehen etwa gleich oft, nur Spanier und Iren gehen öfter in die Kirche.

Aus Platzgründen kann eine breite Palette von Themen nicht erwähnt werden: Arbeitszeit, Mindestlohn, Sexualpraktiken, Nobelpreisträger, Aufgaben des Staates, Bodenbesitz, Arbeitsgesetze, Restaurants mit Michelin-Sternen, Mitgliedschaft in Gewerkschaften, Heizölverbrauch, Arbeitszeit, Freizeit, Produktivität, Blutspenden, Wahlverhalten, Lebensstil, Glück, Politikerinnen, Selbstmord, Spitzenweine, Seniorenheime, Ausländerintegration, zivilgesellschaftliches Engagement, Steuerrecht, Übergewicht, Essgewohnheiten, Strassenverkehrstote, Einstellung zur Wissenschaft, seelische Gesundheit, Beamte, alleinerziehende Eltern, Glaube an ein Leben im Jenseits, Homöopathie, Preis von Opernkarten, Nachbarschaftshilfe, Waffenbesitz, Kinobesuch, Polizei, Steuerflucht, Analphabetismus, Höflichkeit, Wohnungsstandard, Fahrradfahren, Entwicklungshilfe, Reisegewohnheiten, Klavierverkäufe und manches andere.

In dieser Fülle von Indikatoren, zu denen statistische Daten vorliegen, die sinnvolle Vergleiche ermöglichen, gibt es im Grunde nur drei, bei denen Amerika sich deutlich von Europa unterscheidet: Mordrate, Zahl der Gefängnisinsassen und Waffenbesitz. Bei praktisch allen anderen Indikatoren befindet sich Amerika im europäischen Mittelfeld (in der Mehrzahl der Fälle) oder ist nicht weiter vom Mittelwert entfernt als andere europäische Ausreisser. Welche Unterschiede es zwischen Europa und Amerika geben mag - sie haben weniger mit grundsätzlichen ideologischen Differenzen zu tun, sondern mehr mit dem spezifischen und noch immer ungelösten Problem der Unterschicht in den amerikanischen Städten.

Niemand behauptet, Amerika sei Schweden. Aber auch Italien ist nicht Schweden, nicht einmal Frankreich und schon gar nicht Grossbritannien. Und seit wann ist Schweden Europa - Vermont ist ja auch nicht Amerika. Europa ist nicht nur der Kontinent und nicht nur sein nördlicher Teil. Europa ist grösser und vielschichtiger. Und mit der jüngsten Erweiterung ist Europa noch grösser und vielfältiger geworden. Die EU-Neulinge werden Europa verändern. Sie sind nicht nur ärmer als das alte Europa, sondern, wie die vielen Einwanderer aus Asien und Afrika, auch religiös, sie sind gegen einen starken Staat, sie haben eine geringe Wahlbeteiligung und sind allergisch auf hohe Steuern. Aus Sicht des alten Europas ähneln sie fast schon Amerika. Was hier in Bezug auf Westeuropa festgestellt wurde - dass die transatlantischen Unterschiede nämlich gar nicht so gross sind - wird sich zunehmend als Realität erweisen.

Peter Baldwin ist Professor für Geschichte an der University of California, Los Angeles. Er ist Autor verschiedener Bücher. Diesen Artikel hat er exklusiv für die Weltwoche verfasst. Er ist ein Ausblick auf Baldwins Buch «The Narcissism of Minor Differences. How America Resembles Europe», das im Herbst 2009 bei Oxford University Press erscheinen wird.

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