Donnerstag, 9. Oktober 2008

Die Integration muslimischer Einwanderer

Mauer des Schweigens

Von Heinrich Maetzke

Ratlos beginnt Europa zu realisieren, dass die Integration muslimischer Einwanderer zu scheitern droht. Es sind Gegengesellschaften mit archaischen Bräuchen entstanden. Eine britische Studie zeigt jetzt das Ausmass der Entfremdung.

Saamiya ist noch einmal davongekommen. Um ein Haar wäre die 16-jährige pakistanstämmige gebürtige Britin eines der vielen Mädchen geworden, die jedes Jahr aus England in die Heimat der Eltern verschleppt werden - und spurlos verschwinden. Weil ihre Eltern herausfanden, dass Saamiya einen Freund hatte, brachten sie das Mädchen am 20. Juli vor einem Jahr von Birmingham nach Pakistan. Einen Tag später wurde sie verheiratet. Erst zwei Stunden vor der Trauung erfuhr Saamiya, was ihr bevorstand. Gegenwehr war zwecklos, erzählt sie später: «Während der islamischen Zeremonie stand mein Vater hinter mir. Eine Hand hatte er auf meiner Schulter, in der anderen hielt er eine Pistole, die auf meinen Rücken zielte, damit ich nicht ’nein’ sagte.»

Zum Glück für Saamiya hatte in Birmingham jemand die Behörden alarmiert. Kurz nach der Zeremonie kamen Beamte der Forced Marriage Unit - Abteilung gegen Zwangsheirat - in das pakistanische Dorf und brachten das Mädchen wieder nach England. Nach Birmingham zurück kann sie trotzdem nicht. Dort warten ihre Brüder, die sie wieder nach Pakistan bringen wollen. Um sie zu ermorden, fürchtet Saamiya. Die Forced Marriage Unit hat viel zu tun. Vor drei Jahren ist die Abteilung im britischen Aussenministerium gebildet worden, um britischen Opfern von Zwangsheiraten zu helfen. Jedes Jahr behandeln die Beamten etwa 250 Fälle, 300 Opfer wurden schon gerettet. Darunter war ein 11-jähriges Mädchen, das in Bangladesch zwangsverheiratet und vergewaltigt worden war.

Saamiyas und viele andere bedrückende Geschichten stehen in einer schockierenden Studie über «Gemeinschaftsverbrechen - Ehrengewalt in Grossbritannien». Herausgegeben hat sie kürzlich das Centre for Social Cohesion - Zentrum für sozialen Zusammenhalt -, in dessen Beirat unter anderem ein ehemaliger Erzbischof von Canterbury und der aus Pakistan stammende Lord-Bischof von Rochester, Michael Nazir-Ali, sitzen. Die Autoren, James Brandon und Salam Hafez, sind Journalisten mit fundierten Mittelost-Kenntnissen. Brandon, der 2003 in Basra von Schiiten entführt und wieder freigelassen wurde, ist Orientalist und spricht Arabisch. Hafez hat in den Emiraten und im Libanon gearbeitet. Die beiden beschreiben, wie mitten in England mittelöstlich-islamische Vorstellungen von Ehre sowie von kultureller und religiöser Überlegenheit immer mehr Platz greifen. Als Folge, schreiben sie, «werden überall in Grossbritannien jeden Tag Frauen von ihren Familien mit physischer Gewalt, Vergewaltigung, Mord, Verstümmelung, Entführung und Zwangsheirat bedroht».

Häusliche Gewalt und Eifersuchtsmorde kommen überall auf der Welt vor. Aber Ehrenverbrechen, die solchen Taten zwar ähnlich sehen, sind etwas völlig anderes. Am Anfang der düsteren Studie steht darum eine Begriffsklärung: «Während bei häuslicher Gewalt Ehemänner gegen ihre Frauen gewalttätig werden, wird bei den geplanten und oft rituell vollzogenen Ehrengewalttaten eine Frau Opfer ihrer eigenen Söhne, Brüder und Schwestern sowie der ganzen weiteren Verwandtschaft und der Schwiegerfamilie.» Im Grunde, meinen Brandon und Hafez, begeht ein ganzer Clan die Tat, gedeckt und geschützt von der Getto- oder Stadtviertelgemeinschaft, in Pakistan und jetzt eben auch in England. Britische Fahnder stehen in Einwanderer-Siedlungen regelmässig vor einer mafiaähnlichen Mauer des Schweigens. Aus dem Grund, sagt Kronstaatsanwalt Nazir Afzal, würden seine Polizisten bei der Aufklärung von Ehrenverbrechen Techniken einsetzen, die sonst beim Kampf gegen die organisierte Kriminalität verwendet werden: verdeckte Ermittler, Abhöreinrichtungen und andere einschlägige Methoden.

Ehrenverbrechen geschähen unter pakistanischen, kurdischen, arabischen, türkischen und iranischen Einwanderern, auch unter indischen Sikhs, heisst es in der Studie. Denn vor allem diese Gruppen gründen ihr kulturelles und religiöses Selbstverständnis häufig auf archaische, sexualisierte Ehrbegriffe, die sozusagen die Grundlage ihres Gemeinschaftslebens darstellen. Immer geht es dabei um Beherrschung und Kontrolle der Frauen, um Identität und Abgrenzung von der britischen Mehrheitsgesellschaft. Das sei auch der Grund, warum die Zwangsheirat so eine grosse Rolle spiele, erklärt die Direktorin einer iranisch-kurdischen Frauenrechtsorganisation: «Eine Ehe wird zwischen Familien geschlossen. Sie ist ein Mittel, um Kultur und Religion zu erhalten und um sich nicht mit der westlichen Kultur zu vermischen.» Dazu kommt das Scharia-Gebot, das Musliminnen strikt verbietet, einen Nicht-Muslim zu heiraten. Die Zwangsehe ist der Ausgangspunkt aller Ehrengewalt bis hin zum Ehrenmord. Denn die Opfer sind fast immer junge Frauen, die sich gegen eine Zwangsverheiratung wehren oder aus einer Zwangsehe entkommen wollen.

Scheidung auf islamische Art

Nicht vielen gelingt die Flucht. Die 19-jährige Latifa hat es geschafft. Den Preis dafür zahle nun ihre kleine Schwester: «Ich sollte den Sohn meiner Tante heiraten. Aber weil ich weggerannt bin, gaben sie ihm stattdessen meine Schwester. So funktioniert das. Jetzt ist sie in Pakistan. Sie ist 16, und sie ist schwanger. Meine Schwester gibt mir die Schuld an ihrem Schicksal. Mein Vater wird sie nicht zurückbringen, bevor sie das Baby bekommen hat.» Die Familie will verhindern, dass in England eine Abtreibung stattfindet.

Fast noch schlimmer als den so entführten jungen Britinnen geht es Bräuten, die in umgekehrter Richtung aus Pakistan nach England verheiratet werden. Oft wartet auf sie ein lebenslanger Horror aus Gewalt und Zwangsarbeit. So wurde ein 15-jähriges Mädchen aus Pakistan per Telefon mit einem 40-jährigen Pakistaner in Sheffield verheiratet. Der Mann war geistig behindert, und die Schwiegerfamilie zwang das Mädchen in England zur Prostitution. Ähnlich übel spielte eine Schwiegerfamilie der 19-jährigen Shaguftah mit, die einen pakistanstämmigen Briten heiratete: «Nach einem Monat in England liess sich mein Ehemann auf islamische Art von mir scheiden. [Anm. d. Red.: Es genügt, wenn der Mann dreimal den Satz «Ich lasse mich scheiden» ausspricht.] Seine Mutter zwang mich, ihren jüngeren Sohn zu heiraten, der behindert war und das geistige Alter eines Fünfjährigen hatte.» Auch junge Männer kann das Schicksal der Zwangsheirat treffen: Schwiegerfamilien setzen die oft analphabetischen Opfer in England als Sklaven- und Billigarbeiter ein. Dank der Institution der Zwangsehe floriert im 21. Jahrhundert zwischen Grossbritannien und Pakistan der Menschenhandel.

Frauen, die sich der Zwangsehe entziehen, vor oder nach der Trauung, schweben in Lebensgefahr. Laut Polizei und Staatsanwaltschaft geschehen in Grossbritannien jedes Jahr zwölf Ehrenmorde. Die Zahl stammt aus dem Jahr 2003. Viele Experten glauben, dass sie in Wahrheit höher liegt. Die genaue Zahl der Opfer sei auch darum unbekannt, schreiben Brandon und Hafez, weil es keine genaue Definition für Ehrenmord gebe. Ein Sozialarbeiter aus Newcastle weiss von Frauen, die ins Ausland gebracht wurden und einfach verschwanden. Sein Kollege aus Nottingham berichtet von «vielen Frauen mit Verbrühungen, die an ihren Verletzungen starben, ohne dass untersucht wurde, ob es ein Unfall war oder Mord». Dazu kommt eine steigende Zahl Selbstmordopfer. Pakistanstämmige begehen dreimal so häufig Selbstmord wie andere Britinnen. Londoner Frauengruppen berichten, dass sich unter den achtzig Selbstmordopfern, die es 2006 auf der zwanzig Meilen langen Bahnstrecke zwischen dem Londoner Bahnhof Paddington und der Stadt Slough gegeben hat, überproportional viele «Asiatinnen» befunden hätten.

Etwa 5000 Frauen kommen jedes Jahr weltweit durch Ehrenmorde ums Leben, schätzte der UN-Bevölkerungsfonds vor acht Jahren. Die meisten in Pakistan, Indien und Bangladesch, aber auch in allen Ländern der arabischen Welt. Die höchste Ehrenmordrate pro Kopf der Bevölkerung haben Kurden in der Türkei und im Irak. Das düstere Bild spiegelt sich in der britischen Einwanderungsgesellschaft wider. Die meisten Ehrenmordopfer in Grossbritannien, so Brandon und Hafez, «sind muslimische Frauen unter dreissig aus Südasien». Besonders gefährdet sind westlich orientierte, gar erfolgreiche Frauen. Die 25-jährige Geschäftsfrau Samaira Nazir wurde vor zwei Jahren von ihrem Vater, ihrem Bruder und einem Cousin in der Londoner Familienwohnung ermordet, weil sie einen Afghanen heiraten wollte: «Sie hielten sie, stachen 17-mal auf sie ein und schnitten ihr die Kehle durch. Dann zwangen sie Samairas Nichten - zwei und vier Jahre alt - zuzusehen, wie sie starb.» Die kleinen Mädchen sollten wissen, was ihnen droht, wenn sie einen westlichen Lebensstil annähmen.

Werte und Freiheit aufgegeben

Ähnlich scheusslich liest sich der Fall der Kurdin Banaz Mahmod aus Birmingham. Mit 16 war sie verheiratet worden. Als sie 2006, drei Jahre später, ihren Ehemann verlassen wollte, bestellte ihr Vater zwei Auftragsmörder aus dem irakischen Kurdengebiet und liess Banaz in seiner Wohnung bestrafen und ermorden: «Auf Anweisung ihres Vaters zogen die Killer sie aus und vergewaltigten sie zwei Stunden lang, bevor sie sie erwürgten.» Auch diese grausame Tat sollte ein Zeichen sein, meint Staatsanwalt Afzal: «Der Mord an Banaz war so brutal, dass er eine deutliche Warnung an andere war: ’Tanzt nicht aus der Reihe, sonst ergeht es euch ähnlich.’» Dabei wäre Banaz’ Tod vermeidbar gewesen. Sechs Mal hatte die junge Frau die Polizei um Schutz gebeten und sogar eine Liste mit den Namen von Anverwandten geliefert, von denen ihr Gefahr drohte. Vergeblich.

Der erschütternde Bericht des Centre for Social Cohesion ist ein trauriges Buch über eine westliche Gesellschaft, die es aufgegeben hat, ihre Normen, Werte und Freiheiten auch gegenüber sehr fremden Einwanderern durchzusetzen. Junge britische Musliminnen und Bräute aus Pakistan oder anderen Teilen der islamischen Welt zahlen dafür einen fürchterlichen Preis. Denn mit zunehmendem Erfolg wehren sich die Einwanderer in ethnisch immer homogeneren Gettos, vor allem in nordenglischen Städten, gegen die Zumutung, sich integrieren zu sollen. Brandon und Hafez berichten sogar von einem landesweiten «informellen Netzwerk, das Frauen aufspürt und bestraft - notfalls mit dem Tod -, die angeblich der Familie und der Gemeinschaft Schande gemacht haben». Geflüchtete Mädchen und Frauen können nicht mehr Taxi fahren, denn das Taxigewerbe ist in England fest in pakistanischer Hand. Weil bei britischen Behörden und Ämtern längst viele Einwanderer arbeiten, werden untergetauchte Mädchen und Frauen immer wieder über Versicherungs- oder Mobiltelefonnummern ausfindig gemacht und an ihre Familien verraten. Übersetzer auf Sozialämtern oder auf Polizeiwachen lügen. Oft haben Sozialarbeiter Angst, mit ihren Schützlingen zur Polizei zu gehen, sagt die Leiterin eines Frauenhauses: «Wir müssen vorsichtig sein mit den Polizisten, besonders mit den asiatischen. Wir gehen nicht zur Polizeiwache, wenn bestimmte Beamte Dienst tun, weil manche von ihnen Täter sind. Einer von ihnen hat schon einmal gesagt, dass er niemals jemanden verhaften würde, der Gewalt gegen seine Frau angewendet hat.» Es gab sogar den Fall eines asiatischen Chief Inspector, der einer Familie helfen wollte, ein Mädchen aufzuspüren.

Von islamischen Verbänden und Moscheevereinen kommt kaum Unterstützung. Der in London ansässige zentrale Islamische Scharia-Rat erklärt die Zwangsehe zur antiislamischen Propaganda. Lokale Scharia-Räte, die überall in England islamische Trauungen vollziehen, verweigern den geflüchteten Frauen oft die Scheidung oder fordern von den mittellosen Opfern Geld. Der Muslim-Rat, der sich als ein Dachverband der Muslime in Grossbritannien betrachtet, hat dazu beigetragen, dass ein scharfes Gesetz gegen die Zwangsehe verhindert wurde. Als Staatsanwalt Afzal einen Imam bat, in der Moschee über Zwangsehen zu sprechen, lehnte der das ab: «Die Gemeinde zahlt mein Gehalt. Wie können Sie von mir erwarten, dass ich ihr etwas sage, das sie nicht hören will?»

Aber auch Staat und Politik lassen die Opfer der Ehrengewalt im Stich. Politiker aus Wahlkreisen mit starker muslimischer Minderheit meiden das Thema. Öffentliche Schulen hängen Informationsplakate des Aussenministeriums über Zwangsehen nicht auf - um nicht die Eltern ihrer Schüler zu beleidigen, wie manche Schulleiter offen zugeben. Die mutlosen Schulleiter sind so ratlos wie das ganze Land. Niemand weiss, wie man auf den gewaltgetränkten Ehrbegriff so vieler Einwanderer einwirken soll. Die Ratschläge der Autoren und ihrer Gesprächspartner sind von bestürzender Hilflosigkeit. Der Wandel der Zuwanderergesellschaft müsse «von innen kommen», sagt eine Sozialarbeiterin vage. Schon die Grundschulen sollten das Thema Ehrengewalt auf den Lehrplan setzen, wünscht sich Staatsanwalt Afzal. Eine Hilfsorganisation in Sheffield verlässt sich auf Flugblätter und Mundpropaganda. Ein anderer Experte rät, Druck auf die Imame auszuüben und sie besser auszubilden - ohne allerdings zu sagen, wer das tun soll.

Die Frau, ein Stück weisse Seide

Es gebe keine Garantie dafür, schreiben Brandon und Hafez, «dass die Ideen der Toleranz, der Gewaltlosigkeit und der Gleichheit der Geschlechter zu allen Einwanderergemeinschaften durchsickern». Vielmehr bestehe die Gefahr, dass die zunehmende Gettoisierung und «der starke Einfluss konservativer Muslimverbände auf die Politik» die Integration aufhielten: «Ehrengewalt ist kein einmaliges Problem der Einwanderer der ersten Generation, die solche Praktiken von zu Hause mitbrachten. Ehrengewalt ist jetzt vielmehr in jeder Hinsicht ein einheimisches und permanentes Phänomen geworden und wird von Einwanderern der dritten und vierten Generation ausgeführt, die in Grossbritannien aufgewachsen und ausgebildet worden sind.» Ein Polizei-Captain, der in der stark pakistanisch geprägten nordenglischen Stadt Bradford für gefährdete asiatische Frauen zuständig ist, bestätigt die schockierende Analyse: «Es gibt keinen Wandel innerhalb der asiatischen Gemeinschaft. Seit 1988 hat sich nichts geändert, kein bisschen. Höchstens, dass die Diskussion über Zwangshochzeiten und Ehrengewalt die Medien erreicht hat.» In Bradford und anderen englischen Städten haben Einwanderer der dritten und vierten Generation oft Auffassungen, die so traditionell sind wie die ihrer Eltern, manchmal noch traditioneller. Ernüchterndes Beispiel ist ein 21-jähriger in Grossbritannien aufgewachsener Einwanderersohn, der Staatsanwalt Afzal erklärte, wie er das Verhältnis zwischen Männern und Frauen sieht: «Ein Mann ist wie ein Goldbarren und eine Frau wie ein Stück weisse Seide. Wenn Gold schmutzig wird, dann wischt man es einfach ab. Aber wenn ein Stück Seide schmutzig wird, kriegt man es nie wieder sauber - dann kann man es geradeso gut wegschmeissen.»

James Brandon, Salam Hafez: Crimes of the Community. Honour-based Violence in the UK. 161 S., £ 15.-

www.socialcohesion.co.uk/pdf/CrimesOfTheCommunity.pdf

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