Dienstag, 3. November 2009

Die Wallstreet und ihre Ziele

Die Monetisierung Amerikas: Wie Gier und die Wall Street das Land zerstören

F. William Engdahl

Die Entscheidung von US-Präsident Nixons vom August 1971, einseitig den Golddevisenstandard von Bretton Woods zugunsten eines »floatenden« Dollarkurses aufzugeben, bedeutete einen verhängnisvollen Wendepunkt in der Geschichte des Landes. Nur Wenigen war damals bewusst, dass diese Entscheidung Teil einer längerfristigen Strategie der Wall Street war, die gesamte amerikanische Wirtschaft zu privatisieren und zu »monetisieren«, d.h. sämtliche Bereiche – sogar die Arbeit in Gefängnissen – ausschließlich auf finanziellen Profit auszurichten.
Natürlich hat Nixon 1971 die Entscheidung, vom Goldstandard abzurücken, nicht allein getroffen. Ihm stand die Wall Street dabei beratend zur Seite, namentlich vertreten durch Paul Volcker vom Finanzministerium und durch George Shultz. Beide kamen ursprünglich von der Wall Street, Shultz von der Privatbank Dillon, Read & Co. und Volcker als Schützling David Rockefellers von der Chase Manhattan Bank. Wie ich in meinem Buch Der Untergang des Dollar-Imperiums ausführlich dargelegt habe, hat die Entscheidung weg vom Gold den Weg freigemacht, Dollars in praktisch unbegrenzter Menge zu drucken und den Rest der Welt zu zwingen, diese Dollars zu akzeptieren, um damit Öl und andere Rohstoffe und Güter zu bezahlen sowie sich nicht zuletzt in der Zeit des Kalten Krieges den militärischen Schutz der USA zu erkaufen.

In seinem wenig bekannten Buch mit dem Titel Die Zweite Amerikanische Revolution hat John D. Rockefeller III. die eigentliche Strategie kurz beschrieben. Der Nachkomme des Gründers von Standard Oil fordert, wichtige öffentliche Dienstleistungsbereiche zu privatisieren und und auf Gewinn auszurichten. Außerdem sollten die Wall Street und der Finanzsektor in der US-Wirtschaft eine größere Rolle spielen, er sprach von »Effizienzsteigerung«. Damit appellierte er erstmals für die Hinwendung zu einer Politik, die später als »Thatcherismus« bekannt wurde – radikale Freimarktpolitik, in der die allgemeine Gesundheitsfürsorge, Versorgungsdienstleistungen sowie andere wesentliche Bereiche des öffentlichen Sektors systematisch zugunsten eines sogenannten freien Marktes und der Deregulierung der Finanzinstitute zerschlagen wurden.

Inzwischen ist dieser Prozess so weit fortgeschritten, dass die Vereinigten Staaten, die noch vor 40 Jahren auf der ganzen Welt als Land von Wohlstand und Chancenreichtum bewundert wurden, heute fast am Boden liegen.

Die radikale Umwandlung Amerikas in eine Geldmaschine für die Wall Street zeigt sich sehr deutlich in der Statistik. Laut einer neuen Studie von William Black, des ehemaligen Regulierers während der Sparkassenkrise in den 1980er-Jahren, beträgt der Anteil der Wall Street und des Finanzsektors am Gesamt-Unternehmensgewinn in der US-Wirtschaft heute satte 40 Prozent. Zum Vergleich: 1969, vor Nixons verhängnisvoller Entscheidung, die Dollar-Gold-Konvertibilität aufzuheben, lag der entsprechende Anteil lediglich bei zwei Prozent.

In einer gesunden, gut funktionierenden Wirtschaft dienen der Bank- und Finanzsektor dem Wachstum der Realwirtschaft. Seit 1971 und seit Rockefellers »Zweiter Amerikanischer Revolution« ist jedoch immer mehr genau das Gegenteil der Fall: Die Wirtschaft ist nur noch dazu da, die Gewinne an der Wall Street ständig wachsen zu lassen.

Das neue Auschwitz-Modell der Wall Street
Wie stark sich die Prioritäten verschoben haben, zeigt sich nirgendwo deutlicher als in der Umwandlung der amerikanischen Gefängnisse in Einkommensquellen für die Banken an der Wall Street.

Unter der Regierung Clinton wurden auf Druck von Goldman Sachs, Dillon Read und anderen einflussreichen Money-Trust-Finanzinstituten neue Gesetze erlassen, die die Gründung privater, von der Wall Street finanzierter »gewinnorientierter Gefängnisse« ermöglichten. Als in den 1980er-Jahren die Drogenwelle die Wohnviertel der Schwarzen und Armen in den USA erfasste, nutzte der Money Trust von der Wall Street die Chance und entwickelte ein neues Modell, um Gewinne zu machen, auf das die Direktoren der I.G. Farben in den dunklen Tagen der Nazi-Arbeitslager wie Auschwitz wahrscheinlich neidisch gewesen wären.

Die ehemalige Staatssekretärin im US-amerikanischen Ministerium für Wohnungs- und Städtebau, Catherine Austin Fitts, hat als »Whistleblower« ausgepackt und beschrieben, was sie persönlich erlebt hat, als die Finanzinstitute an der Wall Street von 1971 an ein System aufbauten, in dem einige wenige ehrgeizige Insider – die zumeist an Elite-Universitäten wie Harvard, Yale, Princeton studiert hatten – immer mehr Einfluss erhielten und den öffentlichen Sektor dazu missbrauchten, sich selbst zu bereichern.

Fitts beschreibt ihre Erfahrungen aus Washington: »Die Regierung Clinton hat die staatliche Unterstützung für Polizei, Strafvollzug und den ›Krieg gegen das Rauschgift‹ mit einer Leidenschaft verteidigt und ausgebaut, die nur verständlich wird, wenn man begreift, dass das Finanzsystem in Amerika auf den jährlichen Zufluss von 500 Milliarden bis eine Billion Dollar aus Geldwäschegeschäften angewiesen war. Die Globalisierung der Unternehmen, das sich verschärfende Defizit und die Immobilienblase machten den Zufluss von Kapital in großer Menge erforderlich.«

Dazu gehörte auch, dass sich die Zahl der Gefängnisinsassen während Clintons Amtszeit verdoppelte. Infolgedessen sitzen heute in den USA prozentual mehr Menschen im Gefängnis als in jedem anderen Land. Anfang 2008 waren in den USA über 2,3 Millionen Menschen inhaftiert; insgesamt 7,2 Millionen saßen entweder im Gefängnis oder waren zur Bewährung auf freiem Fuß – das heißt, sie sind ihr Leben lang mit dem Makel einer Gefängnisstrafe behaftet.

Im September 1994 hatte Clinton ein neues umfassendes Strafgesetz (»Omnibus Crime Bill«) unterzeichnet, das eine Mindeststrafenregelung und die Bereitstellung von 10,5 Milliarden Dollar zum Bau von Gefängnissen vorsah, die aufgrund der Mindeststrafenregelung erforderlich wurden. Auch die Polizei erhielt mehr Geld, was ebenfalls dazu führte, dass mehr Menschen im Gefängnis landeten. Was das für den neuen Geschäftszweig Privatgefängnisse bedeutete, liegt auf der Hand. Genau zu dem Zeitpunkt, als das Gesetz in Kraft trat, wechselte der ehemalige Justizminister Benjamin Civiletti in den Vorstand von Wackenhut Corrections, eine Tochterfirma des privaten Sicherheitsdienstleistungsunternehmens, die private Gefängnisse betreibt.

Im Juli 1994 ging das Unternehmen erstmals an die Börse. Bis Ende 1998 war der Wert der Wackenhut-Aktie um fast das Zehnfache gestiegen. Dick Cheneys alte Firma Halliburton gehörte mit ihrer Tochterfirma KBR – der Betreiberin des berüchtigten Gefängnisses Guantanamo und von Gefängnissen im Irak – zu den Vorreitern beim Bau von Privatgefängnissen. Die Privatgefängnisse brachten den Aktionären und Emissionsfirmen an der Wall Street in den ersten Monaten nach dem Börsengang Gewinne von 800 Prozent und mehr ein. Um die Gewinne noch weiter zu steigern, mussten die Gefängnisinsassen Sträflingsarbeit verrichten, bei der häufig in industriellem Umfang Produkte für den Privatsektor hergestellt wurden.

Die wahren Kosten der Monetisierung
Welche Funktion übt der Finanzsektor in unserer Gesellschaft genau aus? Ganz einfach: Seine einzige Funktion sollte eigentlich darin bestehen, den Kapitalbedarf der Realwirtschaft in effizienter Weise zu decken. Bildlich gesprochen sollte der Finanzsektor ein Werkzeug der Werkzeugmaschinenhersteller sein und kein Selbstzweck.

Nachdem nun die billionenschwere Blase von »Giftmüll« bei Immobilien und den sogenannten Asset Backed Securities (durch Vermögenswerte abgesicherte Wertpapiere), die die Wall Street in den letzten zehn Jahren in Umlauf gebracht hatte, geplatzt ist, wird erst wirklich deutlich, welche zerstörerische Kraft dieses Finanz-Frankenstein-Monster besitzt. Im Vergleich zum Umfang der Finanzindustrie ist der Umfang der Realwirtschaft, der Erstere doch eigentlich dienen sollte, heute verschwindend klein. Vor 40 Jahren stand die Realwirtschaft wesentlich besser da. Damals floss nur ein Zwanzigstel (d.h. zwei Prozent) der heute üblichen 40 Prozent des wirtschaftlichen Gesamtgewinns an den Finanzsektor.

Black betont: »Darüber hinaus, dass Kapital zum eigenen Nutzen abgezogen wird, setzt der Finanzsektor das verbleibende Kapital so ein, dass es der Realwirtschaft schadet, nur um die schon heute unermesslich reiche Finanzelite auf Kosten des Landes noch reicher zu machen.«

Zu den zerstörerischen Auswirkungen dieser Monetisierung rechnet er Folgendes:

– In diesem Jahrzehnt wird mehr Geld für den Rückkauf von Unternehmensaktien und die Überlassung von Aktien an Direktoren aufgewendet, als neues Kapital in den US-Finanzmarkt geflossen ist. Das bedeutet, dass die Kapitalmärkte der Realwirtschaft Kapital entziehen, um korrupte Unternehmensinsider durch Buchhaltungstricks und rückdatierte Aktienoptionen reicher zu machen.

– Der Realwirtschaft in den USA fehlen Arbeitskräfte mit ausreichender mathematischer und wissenschaftlicher Ausbildung sowie Ingenieure. Absolventen dieser Fachrichtungen entscheiden sich häufig für eine Karriere im Finanzwesen anstatt in der Realwirtschaft, weil die Gehälter im Finanzsektor wesentlich höher sind.

– Da der Finanzsektor ausschließlich an Buchgewinnen interessiert ist, wächst der Druck auf Industrie- und Dienstleistungsbetriebe, die Arbeitsplätze ins Ausland zu verlagern. Unternehmen mit gewerkschaftlich organisierten Mitarbeitern wird Kapital verweigert, Firmen werden dazu angehalten, den Geschäftssitz in ausländische Steuerparadiese zu verlagern, damit sie in den USA keine Steuern zahlen müssen.

– Kapital wird fehlgeleitet, sodass immer neue Finanzblasen entstehen. Anstatt dort eingesetzt zu werden, wo es der Realwirtschaft am meisten nützt, fließt das Kapital in Investitionen, bei denen die größten betrügerischen Buchgewinne zu verzeichnen sind.

– Da sich der Finanzsektor fast ausschließlich um hohe Buchgewinne und »Profite« kümmert, wird Kapital von Firmen und Unternehmern weggelenkt, die die Realwirtschaft wirklich voranbringen könnten.

– Kapital wird dadurch fehlgeleitet, dass sich Finanzfirmen staatliche Subventionen in enormer Höhe sichern, besonders Firmen mit großem Einfluss auf die Politik, die andernfalls wegen Unfähigkeit und Betrügerei untergehen würden.

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