Donnerstag, 12. Juni 2008

Warum unsrere Kinder Tyrannen werden

Ein Diskussionsbeitrag zu einem Problem, das unsere Gesellschaft beschäftigt und in Zukunft noch mehr beschäftigen wird

Der Facharzt für Kinder- und Jugendpsychiatrie, Michael Winterhoff, hat vor einer Machtumkehr zwischen Eltern und Kindern gewarnt. Dinge zu erklären könnte ein Anleiten und Führen nicht ersetzen. Winterhoff ist Autor des Buches «Warum unsere Kinder Tyrannen werden – Oder: Die Abschaffung der Kindheit».

Christoph Heinemann: Von Kindern, die in den Brunnen gefallen sind, von Eltern, die sich bei ihrem Nachwuchs lieb Kind machen wollen, von einer Pädagogik, die das Kind mit dem Bade ausschüttet, handelt unser nächstes Gespräch. […] Michael Winterhoff warnt vor Eltern und Erziehern, die Kinder zu Partnern aufwerten, die sie aufgrund ihres Entwicklungsstandes nicht sein können. Guten Morgen, Herr Winterhoff!

Michael Winterhoff: Guten Tag, Herr Heinemann!

Woran erkennt man tyrannische Kinder?

Wenn man gesunde Messlatten nimmt, würde ein dreijähriges Kind sich schon auf die Eltern einstellen. Ein fünfjähriges Kind würde jeden Auftrag gerne und gleich für die Mutter erledigen. Der Fünfjährige deckt den Tisch für die Mutter.
Wir haben jetzt immer mehr mit Kindern zu tun, die dieses nicht leisten, sondern die sich eben verweigern – auch noch im Alter von fünf, sieben, acht oder zehn Jahren. Wir haben immer mehr Kinder, die verweigern, sich anzuziehen, auszuziehen, den Tisch zu decken oder auch Hausaufgaben zu machen.

Aber Trotz gehört doch zur Kindheit?

Ja, Trotz gehört schon in ein Alter hinein, aber eher zwei bis drei Jahre, aber nicht mehr im Alter von sieben. Wie gesagt: Das Kind würde ja für die Mutter über die Beziehung alles tun.

Warum werden Kinder zu Tyrannen?

Das Problem, das wir in Deutschland haben, ist, dass immer mehr Kinder psychisch nicht mehr reifen können. Die Fehler liegen auf der Erwachsenenseite. Das heisst, immer mehr Erwachsene sehen in Kindern Partner. Es gibt auch immer mehr Erwachsene, die wollen von Kindern geliebt werden. Es kommt dadurch zu einer Machtumkehr, und das Kind hat keine Chance auf Entwicklung.

Inwiefern?

Wir müssen über Psyche reden. Das heisst, vom Grundsatz her haben Sie und ich die gleich aufgebaute Psyche. Wir sind ja auch zu vergleichbaren Leistungen in der Lage. So können wir arbeiten gehen, Beziehungen leben, Gefühle einschätzen und steuern, Gefühle anderer einschätzen und steuern. Diese Psyche, die wir jetzt brauchen, um so leben zu können, muss aufgebaut werden. Das heisst, sie wird nicht vererbt, und sie kommt auch nicht automatisch. Die Psyche sitzt im Gehirn, besteht also aus Nervenzellen. Diese Nerven müssen trainiert werden.
Gehen wir in einen anderen Bereich: Lesen und Schreiben. Ich brauche dasselbe A an der Tafel wie im Heft und schreibe A, A, A. Dann wird aus einem Zufallsprinzip heraus eine Nervenzelle sich bereit erklären, für das A zuständig zu sein. Die müssen Sie jetzt drei bis fünf Jahre trainieren, bis sie in der Lage ist, automatisch in jeder Handschrift ein A zu erkennen. Das heisst, psychische Funktionen wie Frustrationstoleranz, die Fähigkeit, Frustrationen auszuhalten, eine Gewissensinstanz, soziale Fähigkeiten, die müssen eintrainiert werden. Das ist auf der partnerschaftlichen Ebene nicht möglich. Es herrscht heute die Vorstellung vor, dass man über Reden und Begreiflichmachen erziehen könnte.
Gehen wir in einen anderen Bereich. Es ist letztendlich egal, ob die Nervenzelle in der Psyche sitzt oder im Bewegungsbereich. Es ist die gleiche. Sagen wir mal, Sie ­wollen Tennis erlernen. Dazu werden Sie zirka zehn Jahre brauchen. Ein Trainer, der Sie als Schüler sieht, der Sie coached, falsche Bein­haltung, falsche Armhaltung, der Ihnen viele Übungen auferlegt, wo Sie sich fragen – was hat das mit Tennis zu tun? Übertragen wir die Verhältnisse von heute auf Tennis, wäre das ein Trainer, der würde Ihnen erklären, wie man Tennis spielt. Er spielt Ihnen ein paar Mal vor und erwartet dann, dass Sie Tennisspielen können. Und wenn Sie dann den Ball nicht übers Netz schlagen, ist er enttäuscht oder sagt, Sie taugen nichts. So geht man heute in vielen Bereichen mit Kindern um und wundert sich dann, dass diese psychischen Funktionen sich nicht bilden.
Das heisst, es geht, wenn Sie Kinder haben, gar nicht um die Frage, Regeln einzubauen, dass diese Kinder sagen wir mal hören und funktionieren. Sie wollen Psyche aufbauen, und das ist ein vollkommen anderer Prozess. Der kann überhaupt nicht gehen über Ratio.

Was ist die Alternative zum Partnerschaft­lichen?

Dass man ein Kind als Kind sieht. Das heisst, ein Tennistrainer: der kann ja 30 Jahre jünger sein als ich. Der kann sich auch mit mir duzen. Aber auf dem Tennisplatz bin ich eindeutig sein Schüler. Das heisst, er sieht mich als Anfänger und wird eben entsprechend mich führen, mich lenken, mich spiegeln. Wenn Sie ein Kind als Kind sehen, werden Sie selbstverständlich zwölf Jahre leisten, bis das Kind duschen kann. Sie müssen ja sehen: Wir duschen automatisch. Wenn Sie mich fragen: Haben Sie sich die Schulter gewaschen?, kann ich Ihnen beruhigenderweise sagen: Ja! Aber ich bin während des Duschens in Gedanken. Das heisst, eine Mutter, die das Kind als Kind sieht, wird es fünf Jahre baden. Zwischen fünf und sieben wird sie Anleitung geben, daneben stehen, und zwischen sieben und zwölf kommt sie immer wieder dazu: Du hast noch Shampoo im Haar! Du musst die Füsse waschen! Komm, wir schneiden die Fussnägel! Eine Mutter, die das Kind als Partner sieht, wird erklären. Der Fünfjährige wird sagen: Mama, ich kann schon duschen! Er wird auch sehr gut duschen, weil er ja der Mama beweisen will, dass er duschen kann. Aber in Wirklichkeit kann er nicht duschen, und die Mama schickt dann den Partner nur noch zum Duschen. Ergebnis ist: Ich untersuche sehr viele Kinder heute aus besten Elternhäusern, die letztendlich nicht wirklich geduscht sind.

Das heisst, Autorität gehört zur Erziehung?

Nein, es gehört ein Gefälle dazu. Das ist ein natürliches Gefälle. Ein Kind ist ein Kind, und ein Erwachsener ist ein Erwachsener. Es geht nicht darum, dass ich autoritär bin – das wird auch in Deutschland schnell vertauscht –, sondern ich bin automatisch über dem Kind stehend, und ich habe ja eine Rolle. Ich habe die Rolle als Vater, als Mutter, als Lehrer, als Erzieher. Das ist eine Rolle, und die kann ich nur einnehmen auch in dem Gefälle.

Wie erklären Sie es sich, dass Eltern Partner ihrer Kinder sein wollen oder in den Kindern Partner sehen?

Wir haben ja eine Gesellschaft, in der fehlt Orientierung, Anerkennung, Sicherheit. Wenn ich das jetzt aufs Kind übertrage, bietet sich das einfach an. Wenn mich da draussen keiner mehr orientiert und führt, dann soll mich mein Kind führen. Wenn da draussen mich keiner liebt, soll mich mein Kind lieben. Und wenn mir keiner sagt, ob ich gut oder schlecht bin, soll jetzt mein Kind mit seinem Verhalten Beweis dafür sein, dass ich gut bin. Das heisst, wenn das Kind sozial klarkommt, in der Schule klarkommt, bin ich eine gute Mutter; ansonsten eine schlechte. Dadurch kommt es zur Machtumkehr. Das heisst, der Erwachsene wird bedürftig, und das Kind soll die Bedürfnisse des Erwachsenen zufriedenstellen.
Das ist, wie gesagt, kein bewusster Prozess, aber der betrifft ja unglaublich viele Erwachsene. Nehmen wir als Beispiel eine Oma. Eine verwöhnende Oma hätte früher für den Enkel das Lieblingsessen gekocht, aber sie hätte gesagt: Du wäschst dir erst die Hände, wir setzen uns an den Tisch, wir fangen gemeinsam an, hören gemeinsam auf! Das heisst, sie hat erzogen. Eine Oma, die geliebt werden will, setzt dem Enkel keine Grenzen, weil sie dann Angst hat, dass er sie nicht mehr mag. Bei dieser Machtumkehr, die entsteht im Rahmen – man nennt es fachlich der Projektion –, dass ich geliebt werden will, hat das Kind keine Chance auf Entwicklung. Das heisst, das kleine Kind hat ja die Vorstellung, es ist alleine auf der Welt, es kann alle steuern und bestimmen. Und wenn sich die Erwachsenen im Rahmen dieser Beziehungsstörung steuern und bestimmen lassen, entsprechen sie ja dem Weltbild des kleinen Kindes. Damit ist eine Weiterentwicklung nicht möglich.

Aber wie gehen wir mit diesen Erkenntnissen um? Irgendwas müssen wir doch anders machen.

Die Überprüfung ist zunächst einmal: befinde auch ich mich in einer Beziehungsstörung? Das ist der erste Schritt. Und wenn die Beziehungsstörung behoben ist, wenn ich mir darüber im klaren werde – Ich denke, es ist ja nicht so, dass man bewusst ein Kind hat, um geliebt werden zu wollen, dass man damit in Kauf nimmt, dass das Kind sich nicht entwickeln kann. Das ist ja nicht bewusst. Aber wenn ich mir darüber bewusst werde, dass das nicht funktionieren kann und dass eben die Folge die ist, dass das Kind keine Chance auf Entwicklung hat, kann ich das verändern. Das heisst, die Kinder sind nicht dazu da, unsere Defizite, die wir haben, zu füllen.

Können Kindertagesstätten und Grund­schulen solche Fehlentwicklungen ­reparieren, oder sind sie Teil des Problems?

Die Schwierigkeiten, die wir haben im Bereich Kindergarten und Grundschule, sind die, dass auch dort die Partnerschaftlichkeit als vorrangig gesehen wird. Vor acht bis zehn Jahren wurden Kinder als Kinder gesehen. In einem Kindergarten hatte ich zwei Erzieherinnen. Da muss man sagen, zwei Vollkräfte auf 20 Kinder. Die haben die Kinder geführt. Es war ein gleicher Ablauf da, gleiche Zeiten, gleiche Bezugspersonen. Heute werden in diesen Bereichen Kinder als Partner gesehen. Man hat die Vorstellung, sie hätten so etwas wie eine Persönlichkeit. Dazu muss man sagen, dass die Persönlichkeitsentwicklung erst mit dem achten, neunten Lebensjahr beginnt. Und diesen Kindern wird alles offengelassen. Wir haben offene Gruppen. Die Kinder können sich frei im Kindergarten bewegen und aussuchen, und das ist ein Konzept, das widerspricht vollkommen neurologischen Grundsätzen. Das führt dazu, dass die Kinder auch in diesen Bereichen sich nicht mehr weiterentwickeln können.

Sie schreiben in Ihrem Buch, Kinder seien die Symptomträger der gesellschaftlichen Fehlentwicklung. Seit wann ist dieses Phänomen zu beobachten und was hat es ausgelöst?

Ich beobachte die erste Beziehungsstörung, dass man Kinder als Partner sieht, als Massenprozess seit Anfang der 90er Jahre. Die Beziehungsstörung, dass man von Kindern geliebt werden soll, seit acht bis zehn Jahren. Und es gibt seit vier, fünf Jahren eine noch viel gravierendere Beziehungsstörung: die Symbiose, in der der Erwachsene mit dem Kind verschmilzt.

Und kann man irgendwie sagen, dass das von einem bestimmten Phänomen ausgelöst wurde oder von einer bestimmten Geistes­haltung?

Die Gefahr, partnerschaftlich zu werden, hat auch etwas mit Wohlstand zu tun. Wir haben Anfang der 90er Jahre einen enormen Wohlstand gehabt, und dadurch ist die Gefahr, dass der Erwachsene sich sehr stark um sich dreht, dass er seine eigenen Bedürfnisse sieht und dass er dann eben sich auch leisten kann, mit einem Kind partnerschaftlich umzugehen. Ich sehe den Zusammenhang in einem enormen Wohlstand, und Sie müssen ja sehen: Dieses Problem haben wir nicht nur in Deutschland, sondern das haben wir in allen Wohlstandsländern, wobei ich aus einer Diskussion mit Professorin Ischinger weiss, die die Pisa-Studie leitet, dass Deutschland in Europa am meisten betroffen ist.

Herr Winterhoff, für den Schweizer ­Pädagogen Johann-Heinrich Pestalozzi sollten Eltern gegenüber ihren Kindern vor allem dreierlei aufbringen: Zeit, Zärtlichkeit und Zuwendung. Wie lautet Ihr Dreiklang für die richtige Förderung des Nachwuchses?

Ich habe noch über keinen Dreiklang nachgedacht. Pestalozzi ist ein Pädagoge. Für mich gibt es eigentlich das Entscheidende. Das ist: Ein Kind müsste wieder als Kind gesehen werden. Vor 20 Jahren hatten wir hierzu einen gesamtgesellschaftlichen Konsens. Von allen Erwachsenen wurden Kinder als Kinder gesehen. Nur wenn man Kinder als Kinder sieht und selbst abgegrenzt ist, dann kann man sich auf Intuition verlassen, und dann wird man das leisten, was Kinder brauchen zur Entwicklung. Das heisst, viele Eltern, die ich heute sehe und berate, hätte ich vor 20 Jahren nicht kennengelernt, weil sie vor 20 Jahren in keiner dieser Beziehungsstörungen gewesen wären, und sie hätten sich auf Intuition verlassen können.

Danke schön für das Gespräch und auf Wiederhören!

Ja, danke Ihnen auch, Herr Heinemann! •

Quelle: Deutschlandradio, Informationen am
Morgen, 30.5.2008

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