Von Roger Köppel
Die Schweizer Politik wird intensiver. Einbürgerungen. Bundesrat desinformiert über Europa.
Grosses Drama. Es sind die aufwühlendsten Monate der jüngeren Schweizer Geschichte. Seit letztem September bricht die Ereigniskette nicht mehr ab. Es begann mit der üblen GPK-Affäre zur Beseitigung des Justizministers. Wir erlebten den Weiteraufstieg der SVP in den Parlamentswahlen vom letzten Oktober. Es folgte die Blocher-Abwahl und die Installierung einer lederzähen Bundesrätin aus Graubünden nach einer bühnenreifen Polit-Intrige. Das Schicksal des langjährigen SVP-Dominators ist ungewiss. Er hat den Nimbus der Unbesiegbarkeit verloren, doch seine Fraktion und Partei halten noch grossmehrheitlich zu ihm. Inzwischen drohen Austritt und Ausschluss zweier Bundesräte. Die mediale Aufregung vernebelt den Kern des Problems. Im Grunde wird nur nachvollzogen, was seit letztem Dezember im Verdeckten gilt. Die wählerstärkste Partei des Landes hat keinen Verfechter ihrer staatskritischen, wirtschaftsliberalen Mehrheitslinie in der Regierung. In der aktuellen Verwirrung werden die Dinge zur Kenntlichkeit entstellt. Widmer-Schlumpf und Schmid repräsentieren nicht die Partei, die sie in Bern vertreten sollen. Die Tarnung ist weg. Die letzte Bundesratswahl brachte einen Konkordanzbruch. Jetzt wird er sichtbar. In einer Fernsehsendung meinte der Politologe Andreas Ladner, die Regierung könne auch so durchaus funktionieren. Falsch: Konkordanz heisst Einbindung, nicht Aussperrung aller relevanten Kräfte.
Einbürgerungsschlappe. Gross war der Jubel. Allenthalben Erleichterung über die krachende Niederlage der Blocher-SVP bei der Einbürgerungsinitiative. Schadenfreudig registrieren die politischen Gegner bereits den Untergang der Volkspartei und ihres Chefs. Dienstfertig stimmen die meisten Medien in die Abgesänge ein. Wie ist die Schlappe nüchtern zu bewerten? Erstens: Die Volksinitiative war ein Pfusch. Sie brachte ein berechtigtes Anliegen mit falschen Argumenten vor ein Volk, das sich nur sehr beschränkt dafür interessierte. Die Zwangsverknüpfung von Volksrechten und Ausländerkriminalität war ein Fehler. Werden Ausländer durch Einbürgerungen kriminell? Das glaubt niemand. Zweitens: Die Initiative wollte etwas wiedereinführen, was es in weiten Teilen des Landes noch gar nie gegeben hatte. Im Welschland, wo besonders heftig abgelehnt wurde, waren Einbürgerungen an der Urne historisch unbekannt. Man wollte den Leuten etwas verkaufen, was sie weder wollten noch verstanden. Drittens: Blochers missratener «Arena»-Auftritt verstärkte die Vermutung, dass der Ex-Bundesrat die Initiative auch als Rachefeldzug gegen seine Nachfolgerin inszenierte. Das schreckte ab. Viertens: Die Initiative brachte nicht das Grounding der Opposition, aber einen Rückschlag, der das Momentum der Partei nach den kantonalen Wahlerfolgen brach. Ob und wie stark sich das jetzt auswirken wird, lässt sich noch nicht sagen. Die Abdankungsreden sind verfrüht.
Spaltungen in Bern. Eine karrieristisch-etatistische Splittergruppe der Berner SVP, die sich tatsächlich «liberal» nennt, will sich von der Mutterpartei abspalten, um eine neue Gruppierung zu gründen. Die Abtrünnigen verdanken ihre Ämter auch dem Erfolgskurs der Landespartei, von der sie sich heute mit Getöse lossagen. Das ist an sich logisch: Da sie ihre Posten haben, brauchen sie die Partei nicht mehr. Erste Skizzen eines Programms werden sichtbar: Man postuliert die Öffnung gegen-über Europa, also den EU-Beitritt. Gefordert werden mehr Ökologie und ein gemässigter Kurs in der Ausländerpolitik. Die neue Berner SVP ist eine Kopie der Mitteparteien, mit denen sie unter Applaus der Medien irgendwann verschmelzen wird. Vermutlich waren die Dissidenten zuvor falsch parkiert. Was allseits als Aufstand beschrieben wird, ist eine Klärung der Verhältnisse.
Personenfreizügigkeit. Noch immer weigert sich der Ständerat, die manipulative Verknüpfung der EU-Dossiers aufzugeben. Die Standesherren wollen, dass über die Fortführung der Personenfreizügigkeit und ihre Ausdehnung auf Bulgarien und Rumänien in einem Gang entschieden wird. Es sei nicht ehrlich, heisst es, den Leuten Wahlmöglichkeiten vorzugaukeln, wo es keine gebe. Mahnend hat kürzlich Bundesrätin Micheline Calmy-Rey festgehalten, dass die Schweiz das gesamte bilaterale Gebäude zum Einsturz bringe, wenn sich das Stimmvolk «falsch» entscheide. Es klang wie die Drohung eines EU-Angestellten.
Wenn unter Demokratie wenigstens die Mindestauswahl zwischen zwei möglichen Varianten verstanden wird, dann unterliegt unser Verhältnis zur EU nicht mehr demokratischen Spielregeln. Offensichtlich darf die Schweiz zu wichtigen Euro-Verträgen nur noch ja sagen, ohne mit gravierenden Vergeltungsmassnahmen rechnen zu müssen. Der Souveränitätsverlust ist unerwünscht, aber real. Und hausgemacht. Noch ganz anders tönte es vor wenigen Jahren, als dem Stimmvolk die neuen Bilateralen verkauft wurden. Damals sagte die Aussenministerin beispielsweise, dass die Schweiz mit Sicherheit darüber abstimmen dürfe, ob das Personenfreizügigkeitsabkommen auf Länder wie Bulgarien oder Rumänien ausgedehnt werden sollte. Amtskollege Joseph Deiss erklärte im August 2005 unmissverständlich: «Es gibt keinen Automatismus bei der Erweiterung der Personenfreizügigkeit (. . .) Und das Schweizervolk wird jedes Mal die Gelegenheit haben, darüber abzustimmen.»
Letzte Woche brachte die neue Justizministerin Eveline Widmer-Schlumpf nach einem Besuch bei einem subalternen EU-Funktionär in Brüssel termingerecht zur Nationalratsdebatte eine ganz andere Botschaft nach Hause: «Ausdehnung und Weiterführung der Personenfreizügigkeit gehören materiell zusammen.» Zu Deutsch: Man darf zwar über Bulgarien und Rumänien abstimmen, aber nur mit Ja. Die Drohungen der EU interpretierte Widmer-Schlumpf als wertfreie Tatsachenfeststellungen. Unser Bundesrat ist, nach wie vor, eine loyale Stütze Brüssels.
Donnerstag, 5. Juni 2008
Die Niederlage der SVP
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