Freitag, 13. Juni 2008

Meuterei gegen al-Quaida

Lawrence Wright
Meuterei gegen al-Qaida

Von Urs Gehriger

Immer mehr Muslime wenden sich gegen al-Qaidas Terrorstrategie. Nicht der Westen, sondern muslimische Zivilisten seien Leidtragende der Gewalt. Die Sympathien für Bin Laden sinken. Pulitzerpreisträger Lawrence Wright sieht eine Rebellion von innen.

Grösste Zerreissprobe in der Geschichte von al-Qaida: Dr. Fadl, Ayman al-Zawahiri, Osama Bin Laden (von unten). Illustration: James Majowski
Am 2. Juni explodierte eine Bombe vor der dänischen Botschaft in Islamabad, mindestens ein halbes Dutzend Pakistaner starben. Am selben Tag ereignete sich ein Anschlag auf ein Polizeihauptquartier in Mosul, Nordirak. Kurz darauf ein Doppelanschlag in Algerien. Ein gewöhnlicher Anfang eines gewöhnlichen Monats im 21. Jahrhundert, könnte man meinen. Ausser dass der jüngsten Terrorserie eine ungewöhnliche Feststellung von CIA-Direktor Michael Hayden vorausging, der in einem seiner seltenen Interviews konstatierte, dass der Kampf gegen den Terror «ziemlich gut» verlaufe. Die Ideologie von al-Qaida habe gravierende Rückschläge erlitten. «Niemand mag al-Qaidas Zukunftsvision», so Haydens Kommentar, der unter Politikern und Journalisten sofort ungläubiges Kopfschütteln auslöste.

Längst sind die Zeiten vorbei, als man CIA-Befunden viel Beachtung schenkte. Doch Haydens Kommentare decken sich mit neusten Recherchen unabhängiger Terrorspezialisten in führenden US-Magazinen, die von einem Schisma unter den Gotteskämpfern sprechen. In der New Republic berichten Peter Bergen und Paul Cruickshank von einer «Dschihadisten-Revolte gegen Osama Bin Laden». Und im New Yorker konstatiert Pulitzerpreisträger Lawrence Wright in einer ausführlichen Analyse, der radikale Islam werde von einer «Rebellion von innen» erschüttert. Wright gilt als akribischer Rechercheur. Für sein preisgekröntes Standardwerk «Der Tod wird euch finden» war er fünf Jahre durch die halbe Welt gereist, hat 600 Interviews geführt, sprach mit Terroristen, Richtern und Geheimagenten. Eben ist er von einer neuen Recherche-Reise zurückgekehrt und berichtet im Gespräch mit der Weltwoche von einer «einmaligen Trendwende» unter den führenden Islamisten.

Lawrence Wright, was tut sich im Führungszirkel von al-Qaida?

Wir beobachten einen bislang einzigartigen Ideologiestreit. Einzigartig, weil sich die Debatte in der höchsten Etage der geistigen Führerschaft von al-Qaida abspielt. Das Führungsduo Osama Bin Laden und Ayman al-Zawahiri wird vom ideologischen Vordenker der Organisation herausgefordert, vom Ägypter Dr. Fadl.

Dr. Fadl werden ausserordentliche Fähigkei­ten attestiert. Wer ist der ominöse Doktor?

Bei Dr. Fadl handelt es sich um einen Nom de Guerre. Dahinter versteckt sich Sayyid Imam al-Scharif, der erste Führer der ägyptischen Terrorgruppe al-Dschihad. Er gehörte zum Gründungsquartett von al-Qaida. Zusammen mit Bin Laden, Zawahiri und Abdullah Azzam rief er 1988 im nordwestpakistanischen Peschawar die Terrororganisation ins Leben und war danach Mitglied des Schura-Rats, der Führungszentrale von al-Qaida. Er ist Autor ver­schiedener Standardwerke, allen voran der «Grundlagen für die Bereitschaft zum Dschihad», die später zur eigentlichen «Verfassung» der al-Qaida wurde. Sie enthalten die Ideologie, die Ziele und die Mittel des bewaffneten Heiligen Krieges. Nach 9/11 wurde Dr. Fadl in Jemen verhaftet, später an Ägypten ausgeliefert, und danach ist er für Jahre in der Versenkung verschwunden.

Scheinbar aus dem Nichts wendet er sich plötzlich fundamental gegen seine Zöglinge. Das kommt einem vor, als ob Marx aus dem Grab gestiegen wäre, um Lenin den ideologischen Teppich unter den Füssen wegzuziehen.

So ist es. Seine Rolle als Pate des Islamismus kann nicht genug hoch eingeschätzt werden. Seine Schrift diente zur Indoktrina­ion von Rekruten und zur Legitimierung ihrer Terrorstrategie. Zudem ist er ein Nachfahre des Propheten. Sein Angriff auf Bin Laden und Zawahiri ist verheerend.

Begonnen hat die Revolte mit einem Fax aus einem ägyptischen Gefängnis. Was stand darin?

Im Mai 2007 traf im Londoner Büro der arabischen Tageszeitung Asharq al-Awsat ein Fax ein, in dem Dr. Fadl sich fundamental gegen die Gewalt von al-Qaida wandte. Seine neue Position ist radikal: «Gott verbietet uns, Gewalt anzuwenden, sogar wenn die Feinde des Islam das auch tun», schrieb er wörtlich. Damit erteilte er der Gewaltstrategie al-Qaidas eine rigorose Absage. Nie in der zwanzigjährigen Geschichte der Terrororganisation ist sie vor einer derartigen internen Zerreissprobe gestanden wie jetzt.

Im vergangenen Dezember folgte der zweite Schlag. Dr. Fadl gab eine Streitschrift heraus und konfrontierte die Al-Qaida-Zentrale mit der delikaten Frage: «Was hat der Dschihad weltweit erreicht?»

Damit entblösste Dr. Fadl al-Qaida in ihrem Kern. Ihr erklärtes Hauptziel war es, die ausländischen Mächte aus dem Nahen Osten zu vertreiben. Das Gegenteil ist eingetroffen. Die USA sind in zwei muslimische
Staaten einmarschiert. Für die Muslime seien die Anschläge vom 11. September eine Katastrophe gewesen, konstatiert Dr. Fadl und fragt: «Was bringt es, wenn man ein Haus des Feindes zerstört und er dann ein islamisches Land zerstört?» Auch ihr zweites Ziel, die Tyrannenregierungen in der Region zu stürzten, hat al-Qaida nicht erreicht. Viele von ihnen sind im Gegenteil repressiver geworden und haben die Bewegung in die Defensive gedrängt. Kurz: Gemessen an den selbstgesetzten Zielen, ist al-Qaidas Strategie ein herber Misserfolg.

Welches ist der giftigste Pfeil, den Dr. Fadl auf das Al-Qaida-Führungsduo abschiesst?

Er stellt ihre theologische Autorität und Redlichkeit fundamental in Frage. Bin Laden und Zawahiri wirft er vor, die von ihm formulierte Ideologie für eigene Zwecke missbraucht zu haben. Wichtiger noch: Er formuliert die Regeln für den Dschihad neu und legt sie extrem eng aus. Nichts im Islam erlaube, sagt Dr. Fadl, dass das Ziel die Mittel heilige. Weder Christen noch Juden dürften umgebracht werden, ausser wenn sie Muslime aktiv angriffen. Ausserdem sei es unehrenhaft, wenn Muslime, die in nichtislamischen Staaten leben, ihre Gastgeber betrügen und attackieren. In dieser Hinsicht hätten die Attentäter von 9/11 ein ver­werfliches Spiel getrieben.

Klerus kritisiert Bin Ladens Blutstrategie

Die Risse innerhalb von al-Qaida haben sich seit einiger Zeit abgezeichnet. In der letzten Ausgabe von The New Republic schildern die Terrorexperten Peter Bergen und Paul Cruickshank den Fall von Noman Benotman, einem ehemaligen Führer der Libyan Islamic Fighting Group. Er war einer der Ersten, die sich gegen den antiamerikanischen Dschihad ausgesprochen hatten. Im Jahr 2000 reiste er nach Afghanistan und mahnte Bin Laden, die Anschläge gegen die USA einzustellen. «Eine Operation habe ich noch, danach werde ich aufhören», beruhigte ihn Bin Laden in Referenz auf 9/11, wie sich später herausstellte. «Die­se kann ich nicht abblasen, sonst werde ich die ganze Organisation demoralisieren.» Letzten Herbst rief Benotman seine alten Weggefährten in einem offenen Brief auf, dem Weg des Blutrauschs abzuschwören. «Wenn al-Qaida so weitermacht», warnte er, «wird sie in fünf Jahren total isoliert sein.» In den letzten Jahren regte sich der Widerstand zunehmend. 2004 geisselte Scheich Abu Muhammad al-Maqdisi die bestialische Köpfungsserie seines Zöglings Abu Mussab al-Sarkawi im Irak. Er wandte sich explizit gegen Selbstmordattentate und gab damit anderen religiösen Führern den Anlass, die Terrortaktiken neu zu prüfen. Die Grössen des islamischen Klerus standen eine nach der andern auf und kritisierten Bin Ladens Blutstrategie. Letztes Jahr stellte Scheich Salman al-Oadah, ein früherer Weggefährte Bin Ladens, den Al-Qaida-Chef vor laufender Fernsehkamera bloss. «Bruder Osama, wie viel Blut wurde vergossen? Wie viele unschuldige Kinder, Frauen und Alte wurden getötet, gemeuchelt und aus ihren Häusern vertrieben, und dies alles im Namen von al-Qaida?» Schliesslich verabschiedete der Grossmufti von Saudi-Arabien letzten Oktober eine Fatwa, die es der saudischen Jugend verbot, auf die Schlachtfelder des Dschihad zu reisen.

Zum Waterloo für al-Qaida hat sich der Irak entwickelt. Ende 2006 erhoben sich die Stammesführer gegen die sinnlose Gewalt, die fast ausschliesslich irakische Zivilisten traf. Mehr als 10 000 Iraker sind ihrem Blutrausch zum Opfer gefallen. Ende letzten Jahres hatten sich die meisten Sunniten, die einst mit al-Qaida paktierten, von den Gotteskämpfern Bin Ladens abgewandt. Rund 80 000 ehemalige Aufständische verbündeten sich sogar mit dem Erzfeind USA. Doch auch jenseits des Irak sind die Sympathien für al-Qaida im Sinkflug begriffen. Jüngste Umfragen zeigen massive Einbussen überall dort, wo ihr Terror die Türschwelle der Bevölkerung erreicht hat. In Saudi-Arabien, einst Hochburg der Al-Qaida-Anhänger, ist die Zustimmungsrate auf 10 Prozent geschrumpft. Im Nordwesten Pakistans, einem traditionellen Biotop für die Terrororganisation, ist die Anhängerschaft von 70 auf 4 Prozent gefallen. Auch unter den Muslimen in «Londonistan» ist die Unterstützung für Gewaltakte gegen Zivilisten nach dem Bombenanschlag in der britischen Hauptstadt 2005 dramatisch gefallen.

Was setzt die Al-Qaida-Zentrale den massiert auflaufenden Kritikern entgegen?

Sie wurde kalt erwischt. Für eine ideo­logische Debatte ist das Führungsduo Bin Laden/Zawahiri schlecht gerüstet. Mit
einer Serie von Video- und Audiobotschaften versuchen sie, den Imageschaden einzudämmen. Zawahiri verfasste gar eine 200-seitige Replik, in der er Dr. Fadl als Abtrünnigen diffamiert. Doch er hat ein Problem: Dr. Fadl ist die Autorität. Er hat das geistige Fundament von al-Qaida gesetzt. Er hat ein ausserordentlich gutes Gedächtnis und ­eine exzellente Kenntnis von Koran und Hadith. Als Gelehrter ist er Zawahiri um Welten überlegen.

Welche Argumente führt das Führungsduo gegen Dr. Fadl ins Feld?

Zawahiri versucht von eigenen Fehlern abzulenken, indem er auf die Fehler anderer verweist. Er wirft seinen Kritikern vor, mit zweierlei Ellen zu messen. «Schaut doch die Hamas an, die töten auch Zivilisten mit ihren Raketenangriffen auf Israel. Warum kritisiert ihr die nicht?» Diese Argumentation klingt weinerlich und verzweifelt, zudem ist sie riskant, denn sie entblösst seine ideologische Schwäche. Selbst jene, die sie bisher nicht erkannt haben, werden nun darauf aufmerksam. Auf einer Dschihad-Website hat Zawahiri eine Art «Dorfversammlung» initiiert, bei der er online Fragen aus dem Volk beantwortet. Was er dort von Anhängern zu hören bekommt, ist ernüchternd. «Entschuldigen Sie mich, Herr Zawahiri, aber wer ist es, der mit Ihrem Segen getötet wird?», meldete sich ein Al-Qaida-Mitglied im April zu Wort. «Die Unschuldigen in Bagdad, Marokko und Algerien? Das soll Dschihad sein?»

Auch Bin Laden meldete sich jüngst via Audiobotschaft zu Wort. Er scheint plötzlich das Schicksal der Palästinenser für sich entdeckt zu haben. Welche Taktik verfolgt er damit?

Für Bin Laden war Israel lange bloss der kleinere Teil der Juden-Kreuzfahrer-Al­lianz. Keinen einzigen Anschlag hat er je gegen den jüdischen Staat lanciert. Nun, da seine Organisation im Irak ums Überleben kämpft, fordert er seine Kämpfer auf, nach Palästina weiterzuziehen. Die meisten Palästinenser haben al-Qaida jedoch von Beginn weg abgelehnt. Die meisten wissen, dass Bin Laden ihr Schicksal für eigene Zwecke missbraucht. Sie möchten nie Teil einer von al-Qaida beherrschten Entität sein. In Wahrheit will Bin Laden gar nicht, dass der palästinensisch-israelische Konflikt gelöst wird. Er ist für ihn eine grosse Rekrutierungsquelle. Wenn der Konflikt morgen gelöst würde, bräche Bin Laden vor Zorn in Tränen aus.

Ist al-Qaida bald am Ende?

Sie steckt in einer philosophischen Debatte, auf die sie schlecht vorbereitet ist. Das heisst nicht, dass al-Qaida tot ist oder auf dem Totenbett liegt. Doch die Revolte stürzt al-Qaida in eine extrem kritische Lage. Es ist schwierig, sie weiterhin als religiö­se Bewegung zu bezeichnen. Sie finanziert sich durch Drogengelder, Kidnappings, durch Öldiebstahl. Diese Aktivitäten sind jenen des Mobs ähnlich. Es ist einzig Bin Laden, der mit seinem mythischen Charisma die wahre Verfassung seiner Organisa­tion noch etwas zu verschleiern vermag.

Kaum Kontakt zur Zentrale

Über die Bedeutung der Meuterei gegen die Al-Qaida-Zentrale und ihre Folgen für den Westen gehen die Einschätzungen westlicher Experten auseinander. Bruce Hoffman, Professor für Sicherheitsstudien an der Georgetown University, sieht in der von Dr. Fadl entfachten Ideologiedebatte einen Sturm, der nicht über die Zentrale hinausgeht. Er warnt: «Aus der Wurmperspektive des einfachen Islamisten entlang der afghanisch-pakistanischen Grenze laufen die Dinge so gut wie schon lange nicht mehr.» Die pakistanische Regierung sei bloss ein halbherziger Gegner. Die Zahl der Selbstmordattentate nehme zu, was von einem nichtversiegenden Reservoir an Todeskriegern zeuge. Sogar im Irak reisse die Terrorwelle nicht wirklich ab.

Viele al-Qaida-inspirierte Gruppen, die kaum in Kontakt mit der Zentrale stünden, seien neu aus dem Boden geschossen, sagt Walid Phares, Analyst an der Foundation for Defense of Democracies. Zwar habe man al-Qaida auf den grossen Schlachtfeldern eingedämmt. Von Pakistan durch das Subsahara-Plateau bis nach Europa und Amerika seien jedoch Zellen imstande zuzuschlagen. «Gegen die westliche Militärmaschinerie haben sie keine Chance, aber die Organisation ist noch am Leben, wichtiger noch, sie zeugt immer neue Babys.» Und Phares gibt zu bedenken, dass die namhaften Dissidenten trotz ihrer heftigen Kritik an der Zentrale noch längst keine Freunde des Westens seien. «Ihr Weltbild sei ein islamistisches, ihre Feinde sind wir.» Selbst wenn Bin Laden an Flughöhe verliere, heisse dies nicht, dass die liberalen Demokratien den Krieg der Ideen gewinnen werden.

Ausserdem, so der Tenor der mahnenden Stimmen, habe die Al-Qaida-Zentrale ein einfaches Rezept gegen die wachsende Kritik. Sie müsse einfach weniger Muslime und mehr Christen und Juden umbringen. Dafür brauche es nicht Millionen von Anhängern. Eine kleine Zahl von frustrierten und verlorenen Seelen genüge, warnt der Bin-Laden-Spezialist Peter Bergen. Dennoch glaubt er, dass der Aufstand innerhalb von al-Qaida den Westen sicherer macht. Er vergleicht die aktuelle Situation mit der Lage nach der Schlacht von El Alamein 1942, die Churchill als Wendepunkt im Zweiten Weltkrieg bezeichnete: «Dies ist nicht das Ende», so der britische Premier damals. «Es ist nicht einmal der Anfang vom Ende. Aber es ist, vielleicht, das Ende des Anfangs.»

Lawrence Wright, die Terrorserie reisst nicht ab, die Kommandozentrale al-Qaidas ist nach wie vor intakt, die Islamisten verfügen über genügend Rückzugsgebiete. Könnte sich die Revolte gegen Bin Laden als Sturm im Wasserglas erweisen?

Al-Qaida wird ihren Terror fortsetzen, kein Zweifel, doch niemand kann ihre Philosophie mehr ernst nehmen. Die Organisation hat nichts vorzuweisen ausser Blut und Elend. Ihre Ideologie wurde aus verrotteten intellektuellen Fragmenten – falsche Interpretationen von Religion und Geschichte – zusammengezimmert. Dr. Fadls Manifest hat dies schonungslos entlarvt. Vor einigen Wochen war ich in Alexandria zu Besuch bei Karam Zuhdi, einem ehemaligen Islamistenführer. «Nur was den Leuten Fortschritt bringt, bleibt bestehen», zitierte er den Propheten Mohammed. «Gewalt anzuwenden, ist sehr einfach. Frieden zu bauen, dagegen eine wahre Herausforderung.»

Hat der Ideologiestreit in der Zentrale überhaupt einen Einfluss auf das Al-Qaida-Fussvolk?

Die Menschen strömen al-Qaida aus verschiedenen Gründen zu. Es gibt Nihilisten, die aus Abenteuerlust, Rachegelüsten, Langeweile dabei sind, sie werden sich von der ideologischen Richtungs­debatte nicht beeinflussen lassen. Aber es gibt viele, die sich aus tief religiösen Gefühlen dem Terror verschrieben haben. Unter ihnen sorgt die Richtungsdebatte für Verunsicherung. Gewissheit, ideo­logisch auf dem richtigen Weg zu sein, ist zwingend für viele Extremisten. Die Debatte wird möglicherweise potenzielle radikale Akteure von Taten abhalten.

Wie wichtig ist die Eindämmung von al-Qaida im Irak?

Entscheidend. Sollte al-Qaida das Blatt erneut wenden und wieder an Boden gewinnen, wäre dies fatal. Ich persönlich befinde mich in einer unangenehmen Lage. Ich war gegen den Krieg. Mit dem Einmarsch im Irak haben die USA den Kampf gegen al-Qaida verlängert. Im November/Dezember 2001 war al-Qaida tödlich geschwächt. In internen Memoranda konstatierte die Organisation, achtzig Prozent ihrer Mitglieder seien gefangen oder getötet worden. Der Rest war in zahlreichen Ländern verstreut und nicht mehr imstande, miteinander zu kommunizieren. Al-Qaidas Schicksal war beinahe besiegelt, dann wurde Bin Ladens Truppe durch den Krieg im Irak zu neuem Leben erweckt. Doch jetzt müssen wir im Irak den Antiguerillakampf fortsetzen, bis sich die irakischen Sicherheitstruppen stark genug fühlen, das Land zu kontrollieren. Ziehen die USA zu früh ab und hinterlassen ein Chaos, entspräche dies exakt dem, was al-Qaida sich wünscht.

Der Zwist innerhalb von al-Qaida scheint dem Westen eine Chance zu eröffnen, seine Strategie zu überdenken. Was empfehlen Sie?

Das ist nun die zentrale Frage. Man kann nicht mit al-Qaida diskutieren, dafür sind ihre Positionen zu radikal. Ich glaube, die pakistanische Regierung macht einen strategischen Fehler, wenn sie versucht, mit den Islamisten einen Waffenstillstand auszuhandeln. Al-Qaida und die Taliban werden sich nicht in religiös-politische Parteien verwandeln. Aber es ist eine gute Zeit für den Westen, Freundschaftsgesten gegenüber der muslimischen Welt zu machen. Es war beispielsweise ein Fehler, dass eine Reihe von dänischen Zeitungen die Mohammed-Karikaturen jüngst erneut abgedruckt haben. Ich hatte den Erstabdruck unterstützt. Ich bin ein Reporter, meine Arbeit basiert auf dem Prinzip der Pressefreiheit. Sie ist elementar für die Gesundheit der Gesellschaft. Aber ein Zweitabdruck war unnötig und unweise.

Was können die liberalen Demokratien tun?

Es gibt nicht viel, was wir beitragen können, um die muslimische Welt zu ändern. Sie muss sich selbst von innen heraus reformieren. Das Beste, was wir seit 9/11 geleistet haben, ist der grossartige Wahlkampf der letzten Monate. Auf meiner Reise durch muslimische Länder war ich fasziniert, wie gebannt die Leute die Debatten zwischen Clinton, Obama und McCain verfolgten. Sie sind ein Exempel für etwas, das den Muslimen vorenthalten wird: die Möglichkeit, ihre Regierungen auszuwechseln und ihre Länder zu reformieren. Amerika zeigt sich hier von seiner besten Seite. Wir sprechen in offenem Wettbewerb da­rüber, wer wir sind und wohin wir wollen. ­Dies ist die konstruktivste Antwort, die wir den Fanatikern geben können.

Lawrence Wright, 61, ist Schriftsteller und Journalist. 2007 gewann der Amerikaner den Pulitzer-Preis für sein Sachbuch über 9/11 «Der Tod wird euch finden» (Spiegel-Verlag).

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