Direkte Demokratie und Föderalismus als Grundlage für ein freies Europa der Völker
von Erika Vögeli
Die Iren haben nein gesagt. Wir wissen es: Sie waren die einzigen, die etwas sagen durften, weil ihre Verfassung die Politik dazu verpflichtet. Den übrigen 497 Millionen wurde die Stimme genommen – deren Eliten bestimmten, das Volk habe nicht über sein zukünftiges Schicksal zu befinden. Denn der Brüsseler Zentrale und ihren Vertretern in den verschiedenen Regierungen war klar: Der Volkswille in vielen Ländern ist gegen den alten Nizza-Wein in neuen Lissabonner Schläuchen, mit dem zudem der bereits an der Urne manifestierte Volkswille der Franzosen und Niederländer übergangen werden sollte. Die Machteliten möchten gerne ohne Volk, neudeutsch «schlanker und effizienter», entscheiden können, die Herausforderungen der Zeit würden dies angeblich nötig machen, um ein «einiges» Europa in «Frieden» und «Wohlstand» schaffen zu können. Die Bürger hören die Sirenengesänge, sie vergleichen sie mit ihren täglichen Erfahrungen und bleiben skeptisch. Sie beobachten die sich immer weiter öffnende Schere zwischen arm und reich in den einzelnen Ländern, die Gewinne der Konzerne, die Abnahme der gesellschaftlichen Solidarität, die zunehmende Dominanz des Geldes und damit verbunden einer Korruption, die in alle gesellschaftlichen Bereiche hineingreift – von Politik und Verwaltung über die Wirtschaft bis hin zur Wissenschaft.
Das Nein der Iren könnte eine Denkpause bedeuten. Es könnte dazu anregen, die geschichtlichen Erfahrungen mit zentralistischen Grossgebilden zu überdenken – auch das letzte Jahrhundert gibt dazu reichlich Anlass. Warum sollte der – von über 15 000 Lobbyisten der Grosskonzerne über ein paar Kommissare der EU angerichtete und von ein paar Regierungsvertretern gutgeheissene – Brüsseler Einheitsbrei allen genehm sein? Ist das die von der EU in der ganzen Welt so gern gepredigte «Demokratie», die noch nicht einmal dem eigenen EU-«Parlament» die selbstverständlichen Befugnisse einer Volksvertretung zugesteht, geschweige denn die Millionen von betroffenen Menschen ernst nimmt?
Die Würde des Menschen besteht in seiner Freiheit, über seine Angelegenheiten selbst bestimmen zu können.
Die Erfahrung der Schweiz mit ihrer Möglichkeit der direkten Demokratie zeigt, dass es eben diese Freiheit ist, die gesellschaftliche Offenheit und Flexibilität, aber auch ein Gefühl der Verantwortung und Verbundenheit mit dem Geschehen fördert. Die direkte Demokratie ermöglicht dem Einzelnen ein grösseres Mass an Mitwirkung und Eigenaktivität, fördert damit politisches Interesse – das nicht allein an Abstimmungsbeteiligungen gemessen werden kann, sondern unter anderem auch an den unzähligen stillen, aber sehr wirkungsvollen Initiativen in Gemeinden, Sozialwesen und Politik bis hin zu zahlreichen privaten Projekten in sogenannten Entwicklungsländern, die oft von grosser Kreativität, Eigeninitiative und Fähigkeit zur Zusammenarbeit in einem völlig neuen Umfeld zeugen.
Direkte Demokratie und Föderalismus als Grundlage für ein freies Europa der Völker, ein Europa der Vielfalt, ein Europa, in dem das Recht dem Schutz des Schwächeren dient und nicht dem Profit, in dem Offenheit nicht nur in wirtschaftlichen Dimensionen des angeblich «freien» Marktes gemessen wird, sondern in einer Offenheit des Geistes für die Verschiedenheit der Menschen, der Völker und ihrer Geschichte, der Bedingungen, in denen sie leben, und einer Offenheit für unterschiedliche Lösungen der menschlichen Probleme – wäre das nicht die bessere Option für Europa als ein zentralistisches Gebilde, das Aufrüstung und Kriegseinsätze zur Sicherung seiner Rohstoffe plant und dazu den Bürgerwillen am liebsten abschaffen möchte? Dass das möglich ist, zeigt nicht nur, aber doch sehr deutlich, die schweizerische Erfahrung einer «staatlichen Existenz, die sich um Freiheit und Selbstverantwortung des Bürgers bildet».1 •
1 Paul Widmer. Kleines Land mit grosser Wirkung. Die Schweiz – wie sinnvoll ist der Sonderfall im Zeitalter der Globalisierung? «Neue Zürcher Zeitung», 9.6.2008
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