Mittwoch, 4. Juni 2008

Der Bundesrat und der CIA

Dick Marty übt scharfe Kritik am Bundesrat

In der Affäre um die Aktenvernichtung im seit 2004 laufenden Fall Tinner, wird der Bundesrat scharf kritisiert. Ständerat Dick Marty (FDP) sagte im «Tagesgespräch» von Schweizer Radio DRS, die Vernichtung der Akten sei ein Skandal. Der Fall sei schlimmer, als er gedacht habe. Denn die Vernichtung von Akten eines laufenden Strafverfahrens sei in der Geschichte der Schweiz absolut einmalig. Wenn der Bundesrat nicht rasch weitreichende Erklärungen abgebe, unterstütze er die Forderung nach einer parlamentarischen Untersuchungskommission. Ständerat Dick Marty war früher Staatsanwalt im Tessin. Als Abgeordneter des Europarats untersuchte er die Entführungen von Terror-Verdächtigen durch den US-Geheimdienst CIA in Europa.

DRS: Dick Marty, seit letztem Herbst ist die Sache mit den Aktenvernichtungen akut, und in den letzten Tagen hat sich das sehr rasant entwickelt. Haben Sie den Durchblick behalten? Wissen Sie immer, was los ist, oder gibt es Dinge, wo Sie sagen müssen, ich weiss es auch nicht?

Wir wissen natürlich offiziell, was der Bundespräsident gesagt hat. Er hat eine Erklärung vorgelesen. Das ist natürlich völlig ungenügend als Information. Vor 2 Monaten ungefähr hatte ich als Präsident der APK [Aussenpolitische Kommisson] gefragt, ob der Bundesrat uns in der Kommission über diesen Fall informiere. Frau Bundesrätin Widmer-Schlumpf bat mich, noch abzuwarten, ob die Strafuntersuchung abgeschlossen wird, dann hätte sie uns gründlich informiert. Ich habe das respektiert und gewartet. Aber in den letzten Wochen ist die Sache in der Presse hoch gekommen. Und ich glaube, heute müssen wir von Skandal sprechen, denn die Vernichtung von Akten ist schon etwas Ausserordentliches. Die Vernichtung von Akten eines laufenden Strafverfahrens ist, glaube ich, einmalig.

Wissen Sie, wie das rein technisch abgelaufen ist? Man hat zuerst gehört, das sei bereits im letzten Jahr vernichtet worden, dann, es seien jetzt noch eine Menge Akten herum. Wissen Sie, ob noch irgendwelche Dinge herumliegen?

Ich weiss davon nichts, das heisst, man hört vieles, aber mit Sicherheit kann ich nicht sagen, wie die Sache passiert ist. Ich glaube, als Parlamentarier haben wir jetzt endlich Anspruch zu wissen, was genau passiert ist. Wie gesagt, die Sache ist sehr heikel. Wir haben objektiv eine sehr gravierende Verletzung der Gewalten, eine Einmischung in die Justiz. Und deswegen muss der Bundesrat uns endlich gründlich informieren. Was Bundespräsident Couchepin gesagt hat, sind für mich halbe Wahrheiten. Und halbe Wahrheiten sind häufig die schlimmsten Lügen.

Was hätte denn gemacht werden müssen, wenn man überhaupt die Absicht gehabt hätte, solche Akten zu vernichten? Oder darf man das überhaupt unter keinen Umständen?

Eben, das weiss ich auch nicht. Ich verlange nicht, dass ich die Akte ansehen kann. Aber ich möchte wissen, was zum Beispiel die IAEA, die internationale Atomenergiebehörde in Wien, wirklich gesagt hat. Gibt es einen schriftlichen Bericht? Warum musste man die Akten vernichten und nicht versiegeln und irgendwo in Sicherheit aufbewahren? Das ist noch ganz unklar, und die Vernichtung ist für mich heute noch absolut unerklärlich. Anscheinend geht es um Atompläne für Raketen usw. Warum musste man die zer­stören? Das ist sicher nicht die einzige Kopie, die in Umlauf ist. Ich glaube, die einzig mögliche Erklärung ist, dass diese Akten ganz sensible Informationen über die Aktivität von Geheimdiensten, insbesondere der CIA, enthalten. Das ist die einzige Erklärung für diese Vernichtung, die vermutlich von der amerikanischen Verwaltung verlangt worden ist.

Das heisst, es ging gar nicht um irgendwelche technischen Zeichnungen für Zentrifugen und ähnliche Dinge, sondern wirklich um Geheimdienstdinge, die verhindert werden sollten. Sie waren Staatsanwalt und sind Jurist. Ist es überhaupt denkbar, dass man Akten aus einem Verfahren herausnimmt und vernichtet, das nicht abgeschlossen ist?

Nein, ich glaube, das ist noch nie passiert, und ich muss Ihnen auch sagen, wenn es mir passiert wäre als Staatsanwalt, hätte ich diese Akten nie freigegeben, auch wenn der Antragsteller der Bundesrat gewesen wäre. Ich hätte gesagt: Sie wollen diese Akten. Der Bundesrat sagt, auf Grund der Verfassung habe ich die Zuständigkeit, denn die Interessen der Schweiz, die Sicherheit der Schweiz sind in Gefahr. Ich hätte geantwortet: Gut, wir versiegeln diese Akten, die bleiben hier aufbewahrt. Und Sie beantragen die Freilassung dieser Akten für sich, für den Bundesrat, bei der Beschwerdekammer des Bundesgerichts. Das wäre die saubere Lösung, die die Gewaltenteilung respektiert hätte.

Wenn ich Sie richtig verstehe, hätte aber ein solches Gesuch bei der Beschwerdekammer des Bundesgerichts keine Chance haben dürfen, die hätten das mit Sicherheit ablehnen müssen, oder?

Ich weiss nicht. Der Bundesrat hätte natürlich argumentieren müssen und ich zweifle, dass er die richtigen Argumente gehabt hätte, um eine Zerstörung zu verlangen. Eine Versiegelung dieser Akten wäre wahrscheinlich möglich gewesen, denn wenn diese Akten im Strafverfahren bleiben, können mehrere Personen diese Akten anschauen – zum Beispiel Rechtsanwälte, die Parteien. Ich würde eine Versiegelung dieser Akten noch verstehen, wenn wirklich die Interessen und die Sicherheit der Schweiz in Gefahr gebracht werden. Dann muss man eine Interessenabwägung machen, und ich könnte mir vorstellen, dass diese Akten aus dem Strafverfahren genommen werden, aber die werden versiegelt und in Sicherheit aufbewahrt. Was für mich immer noch schleierhaft ist, ist die Zerstörung.

Jetzt hat das nicht nur der ehemalige Bundesrat Blocher gemacht, sondern der Bundesrat hat offenbar, wie man hört, einstimmig beschlossen, das zu machen, es waren also alle damit einverstanden. Ist das für Sie nachvollziehbar?

Ja, leider funktioniert der Bundesrat heute so, jeder ist Chef des Departementes, und wenn es nicht wirklich um ganz grundsätzliche Fragen geht, akzeptiert das Kollegium, was der jeweilige Departementsvorsteher vorschlägt. Und für den Bundesrat sind die Angelegenheiten der Justiz leider nicht von ganz prinzipieller Bedeutung. Unser Bundesrat arbeitet leider so. Wir haben kürzlich einen Beweis dafür gehabt. Man spricht seit Jahren über die Notwendigkeit einer Neugestaltung der Departemente. Alle sind einstimmig der Meinung, dass man die Departemente neu gestalten muss. Ergebnis nach Monaten von Diskussionen: Die Departemente bleiben, wie sie waren. Das bedeutet keine Einigung im Bundesrat.

Also, keiner beisst den andern und sagt einfach ja, obwohl es dort auch Juristen hat, die hätten merken müssen: So geht das wohl nicht.

Ja, natürlich, wissen Sie, ich war auch in einer Regierung und häufig ist die Mentalität so: Ich mische mich in seine Geschäfte nicht ein und verlange, dass er sich nicht in meine Geschäfte einmischt. Leider ist diese Mentalität ein bisschen vorhanden.

Dick Marty, Sie haben gesagt, Sie vermuten, und das wurde auch in den Medien öffentlich so geäussert, dass es um geheime Informationen der CIA ging, um Quellen von Leuten, die irgend etwas angegeben haben, von denen man nicht wollte, dass sie öffentlich bekannt werden. Ist denn das so heikel? Muss man das unbedingt wegbringen, was nützt das der Schweiz?

Ich glaube, wir haben in den letzten Jahren mehrere Beweise dafür, dass die amerikanische Verwaltung in Europa eine grosse Rolle spielt. Die Amerikaner sind absolut strikt. Die wollen überhaupt, dass ihre Agenten totale Straffreiheit bekommen. Das haben wir auch bei den Geheimgefängnissen ganz deutlich gesehen. Der Prozess in Mailand wegen der Entführung von Abu Omar ist ein Lehrbuchbeispiel. Die Regierung macht alles möglich, um den Prozess gegen die amerikanischen Agenten in Mailand zu sabotieren. Denn die Regierung hat sich den Amerikanern gegenüber verpflichtet. Aber nicht nur die italienische Regierung, praktisch alle europäischen Regierungen haben sich verpflichtet, den FBI- und CIA-Agenten in Europa Straffreiheit zu gewähren. Dieses Engagement verhindert natürlich die Justiz nicht, so dass die Regierung Berlusconi – vorher Prodi und jetzt wieder Berlusconi – alles mögliche tut, damit der Prozess in Mailand nicht zu einem Ende kommt. Und ich glaube, in der Schweiz ist die Lage nicht sehr viel anders. Wir haben so wichtige Interessen in Amerika. Die Kräfteverhältnisse sind so verschieden, dass wir natürlich ziemlich schnell nachgeben auf diesem Gebiet.

Mit anderen Worten: Rechtsstaat hin oder her, der Bundesrat konnte gar nicht anders, als zu machen, was er gemacht hat.

Natürlich konnte er anders. Aber die wirtschaftlichen Interessen hat er natürlich höher gewichtet als die rechtstaatlichen Interessen. Und das nicht das erste Mal.

Was jetzt mit diesen Akten passiert ist, bestätigt das vollumfänglich die Erfahrungen, die Sie bei den Untersuchungen der geheimen Flüge, der Geheimgefängnisse gemacht habe? Funktioniert das hier im Prinzip gleich?

Absolut! Es ist eine absolute Bestätigung dessen, was ich in meinem Bericht beschrieben habe. Im Europarat haben wir eben verlangt, dass die Tätigkeit der Geheimdienste, aber auch der ausländischen Geheimdienste, die aktiv im Lande sind, viel besser kontrolliert wird. Heute gibt es praktisch keine seriöse Kontrolle.

Sie haben vorhin gesagt, es ginge um wirtschaftliche Interessen der Schweiz mit den Vereinigten Staaten, die man nicht in Frage stellen wollte. Noch näher liegt da die Aussage, dass der Schweizer Geheimdienst, den gibt es auch in diesem relativ kleinen Land, schlicht auf die Zusammenarbeit mit der CIA und andern angewiesen ist. Und wenn das gekappt wird, weil da Namen herausgehen, dann kommt nichts mehr rein. Wäre das so schlimm?

Das kommt darauf an, wie man das gewichtet. Vermutlich gewichtet das der Bundesrat sehr hoch. Ich bin nicht überzeugt, dass das so wichtig wäre. Ich glaube, wir sollten den rechtsstaatlichen Aspekten die viel höhere Wichtigkeit geben. Aber ich glaube, dass in den letzten Jahren nicht nur in der Schweiz, in Europa im allgemeinen, die rechtsstaatlichen Aspekte an Wichtigkeit verloren haben. Und das ist natürlich sehr, sehr alarmierend. Ich finde, das Parlament und die Zivilgesellschaft sollten da viel heftiger reagieren.

Der Lärm ist im Moment relativ gross. Vielleicht geht das noch weiter. Das Parlament müsste auch. Das wurde irgendwie ausgeschaltet. Haben Sie als Ständerat, als Parlamentarier, das Gefühl, dass Sie irgendwie einen Einfluss nehmen konnten? Oder haben Sie zwar kritisiert und gefragt, aber es hat nichts genützt?

Ich finde, auch die politischen Parteien sind ziemlich passiv geblieben. Eigentlich ist diese Vernichtung von Akten eines laufenden Strafverfahrens institutionell ein riesiger Skandal. Und die Erklärungen, die bis jetzt abgegeben wurden, sind ungenügend. Wenn der Bundesrat nicht sehr rasch eine weitgehende Erklärung abgibt, sollte man eine PUK einsetzen.

Eine Parlamentarische Untersuchungskommission, ja?

Weil die Sache institutionell inakzeptabel ist. Es sei denn, der Bundesrat hat solche Karten, dass man am Ende sagt, ja, das kann man verstehen. Aber die Erklärungen, die bis jetzt abgegeben wurden, sind völlig ungenügend. Und was sehr ärgerlich ist: Das ist nicht die Wahrheit, das sind halbe Wahrheiten, und wie ich bereits gesagt habe: Halbe Wahrheiten sind häufig die schlimmsten Lügen.

Wenn Sie sagen, eine PUK wäre nötig, heisst das auch, dass die Geschäftsprüfungsdelegation, also die Delegation der beiden Geschäfts­prüfungskommissionen, die mit der Kontrolle dieses Geheimbereiches beschäftigt ist, für solche Dinge zu schwach ist?

Ja, eindeutig. Das ist keine Kritik an meinen Kollegen, die eine hervorragende Arbeit machen mit den wenigen Mitteln, die sie zur Verfügung haben. Ich glaube die Delegation hat einen Sekretär. Der Sekretär ist Sekretär der gesamten GPK der beiden Räte. Das sind lächerliche Mittel für die Aufsicht eines so sensiblen Bereiches. Aber überall in Europa ist die Aufsicht über die Geheimdienste, auch über die Geheimbereiche der Exekutive, leider völlig ungenügend. Es gibt Länder, die jetzt reagieren, die Niederlande zum Beispiel haben ein interessantes System eingeführt. Ich glaube, für die Schweiz sollte man jetzt eine Lösung finden, die rechtsstaatlich viel besser ist als der aktuelle Zustand.

Jetzt gibt es auch die andere Argumentation, die sagt, Geheimdienste brauchen wir, das kann man nicht kontrollieren. Es gibt da einen Bereich, von dem man hoffen muss, dass er gut funktioniert, und der sich letztlich irgendwo am Rand oder etwas ausserhalb des Rechtsstaates abspielen muss, weil wir ihn brauchen.

Das akzeptiere ich nicht. Ich bin natürlich völlig einverstanden, dass wir Geheimdienste brauchen. Intelligence-Arbeit ist sehr wichtig, nicht nur für Terrorismus. Terrorismus ist überhaupt nicht die grösste Bedrohung, die wir haben. Aber ich denke an Organisierte Kriminalität, an Waffenhandel, an Menschenhandel, da ist Intelligence natürlich sehr wichtig. Aber die Behauptung, Geheimdienste seien grundsätzlich nicht kontrollierbar, finde ich absolut gefährlich. Wie gesagt, in den Niederlanden hat man innerhalb der Geheimdienste eine Zelle aus unabhängigen Richtern gebildet. Diese Richter sind natürlich an die Geheimhaltung gebunden. Aber es gibt eine interne Kontrolle, und diese Kontrollstelle kann alle Aktivitäten verfolgen, kann sagen: Nein, Moment, das darf man nicht machen. Und leider sieht man jetzt, dass man überall die schmutzigen Arbeiten an die Geheimdienste delegiert, weil die nicht kontrolliert sind. Die Geheimflüge und Geheimgefängnisse hat man in Europa normalerweise an die militärischen Geheimdienste übergeben, die überhaupt nicht kontrolliert sind – ich finde das in demokratischen Staaten absolut gefährlich. Heute ist es für die Terrorabwehr, morgen können diese Dienste ohne effektive Aufsicht für viele andere Zwecke missbraucht werden. Das geht doch nicht.

Sie haben in diesem Gespräch für den Vorfall dieser Aktenvernichtungen mehrfach das Wort Skandal verwendet. Ein Skandal war sicher auch, dass die Schweiz überflogen worden ist, vermutlich mit Gefangenen. Da gab es vor Monaten eine Geschichte mit einem abgehörten Fax irgendwo, der bei der Schweiz herausgegangen ist. Gemeinsam ist diesen und früheren Vorfällen auch, dass relativ rasch wieder Gras darüber wächst. Interessieren sich die Leute denn zu wenig für das Ganze?

Ja, ich finde, dass das Parlament heute für diese Probleme überhaupt keine genügende Achtung hat. Heute haben die wirtschaftlichen Interessen immer Vorfahrt. Ich bestreite nicht, dass die Wirtschaft sehr wichtig ist für den Wohlstand unseres Landes. Aber den Wohlstand kann man nicht nur mit dem Bruttoinlandprodukt pro Kopf bemessen. Die Rechtsstaatlichkeit oder wie die Justiz funktioniert, das sind auch Indikatoren, die sehr wichtig sind, und ich finde, dass diese Indikatoren jetzt auch bei uns vernachlässigt werden. Die Probleme der Justiz interessieren nicht sehr viele. Es ist interessant, es gibt parlamentarische Gruppierungen für alle möglichen Interessen, von Volksmusik zu Tibet zu Medien oder zur Zuckerproduktion, aber nicht für die Probleme der Justiz. Wie arbeitet sie, welche Mittel hat sie zur Verfügung? Und man sieht, dass die Justiz heute Probleme hat: Wie verwaltet man zum Beispiel einen Prozess. wie die Swissair ihn hatte, oder die grossen finanziellen Skandale? Die Justiz heute ist nicht in der Lage, ihre Pflicht zu erfüllen, und das sollte uns wirklich kümmern.

Der Rechtsstaat müsste besser gepflegt werden. Dick Marty, besten Dank für das Gespräch! •

Quelle: Radio DRS I, Tagesgespräch vom 30.05.2008, 13.00 Uhr (leicht gekürzt)

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