Donnerstag, 5. März 2009

Die Unfähigkeit des SP-Filzes

Verschleppen, vertuschen, verleugnen

Der Skandal um die Berner Gemeinderätin Edith Olibet erinnert fatal an das Debakel um Monika Stocker in Zürich: Statt aus Fehlern zu lernen, verstrickt sich die Sozialdirektorin in Vertuschungsmanövern.

Von Alex Baur

Mag sein, dass die Stadtberner Sozialdirektorin Edith Olibet (SP) im Sommer 2007 wirklich glaubte, der Fürsorgemissbrauch sei eine Erfindung ihrer politischen Gegner. Die Missbrauchsquote lag ihrer Meinung nach im Promillebereich. So beschloss Olibet, das lästige Thema, das nach skandalösen «Einzelfällen» immer wieder hochkochte, ein für alle Mal aus der Welt zu schaffen und gab dem Finanzinspektorat den Auftrag, die 4100 Fürsorgedossiers der Stadt Bern zu durchleuchten. Vielleicht rechnete sie auch nicht damit, dass Inspektor Beat Büschi den Auftrag derart ernst nehmen würde.

Büschi stellte bald fest, dass eine seriöse Prüfung aller Dossiers innert vernünftiger Frist nicht möglich war. Er beschränkte sich deshalb auf eine repräsentative Auswahl von 299 Fällen, die er mit Hilfe von externen Spezialisten auf Herz und Nieren überprüfen liess. Die Untersuchung war einzigartig und von nationaler Bedeutung. Im Gegensatz zu früheren Abklärungen, die stets zu gefälligen Resultaten geführt hatten, gingen hier erstmals nicht Sozialarbeiter ans Werk, sondern Finanzprofis. Diese durchleuchteten die Dossiers nach harten, buchhalterischen und juristischen Kriterien. Am 16. Juni lag ein 148-seitiger «Zwischenbericht» vor, der die schlimmsten Befürchtungen übertraf. Einige Beispiele:

Bei 70 Prozent der Fälle, in denen Zulagen für vermeintliche Arbeitsbemühungen ausbezahlt wurden, sind solche nicht belegbar.
Bei 83 Prozent der Fälle, in denen sogenannte Zielvereinbarungen nicht eingehalten wurden, blieben Sanktionen aus.
Bei 25 Prozent der Fälle, in denen zu Unrecht bezogene Leistungen hätten zurückbezahlt werden müssen, wurden diese nicht eingezogen.
Bei 67 Prozent der Fälle, in denen dies angezeigt gewesen wäre, wurde eine Überprüfung von Nebeneinnahmen unterlassen, bei 70 Prozent der Fälle wurden keine Bemühungen um eine Arbeitsstelle belegt.
In 32 Prozent aller Dossiers finden sich konkrete Hinweise auf Missbrauch; bei Ausländern beträgt die Quote gar 40 Prozent. Konkret: Aufgrund von objektiv falschen Angaben (9 Prozent aller Dossiers) oder Hinweisen auf undeklarierte Einkünfte (Reisen ins Ausland, teure Autos etc.) ist in diesen Fällen «zu vermuten», dass unrechtmässige Leistungen ausbezahlt wurden.
Im Sommer 2007 hatte die eben pensionierte Sozialdienst-Chefin Annemarie Lanker (SP) mit einem ungewohnt offenen Interview die Misswirtschaft bei der Fürsorge thematisiert. Lanker wurde faktisch aus ihrer Partei verstossen; die rot-grüne Berner Regierung unter Stadtpräsident Alexander Tschäppät (SP) stellte sich bedingungslos hinter Olibet.
Ein Jahr später, unter dem Licht des akribischen, ausgesprochen sachlich abgefassten Berichts Büschi erscheint Lankers Kritik geradezu verhalten. Im Herbst standen Wahlen an. Eine Katastrophe. Von einer Untersuchung der restlichen Dossiers, die sich nun aufdrängte, redete nun kein Mensch mehr.
Um den Bericht so lange wie möglich unter dem Deckel zu halten, entwickelte der Gemeinderat, wie die Regierung in Bern heisst, eine ungeahnte Kreativität. Büschis Expertise, so die originelle Begründung, müsse vorweg «plausibilisiert» werden. Dieses neue Vorgehen hatte man erfunden, wie Olibet später eingestehen musste, als Büschis Bericht bereits vorlag. Die Kontrollstelle KPMG attestierte dem Bericht im August 2008 «Plausibilität» und brachte nur wenig Zeitgewinn. Hilfreicher war die Amtsstatthalterin Regula Mader (SP), die als Nächste an der Reihe war. Sie lieferte ihre «Plausibilisierung» erst Mitte November, also kurz vor den Wahlen. Und sie enttäuschte ihre Genossin nicht.


Gefälligkeiten im roten Filz
Im Wesentlichen korrigierte Mader die von Büschi eruierte Missbrauchsquote nach unten auf «lediglich» 10 Prozent. Schaut man sich die 36 Seiten dünne Abhandlung genauer an, handelt es sich um ein rein politisches Elaborat, das die von Büschi erhobenen Daten lediglich anders interpretiert. Mader warnt vor einer «wenig heilsamen» Missbrauchsdebatte, die ein «Klima des Misstrauens» schaffe und Fürsorgebezüger unter Generalverdacht stelle. Auch sei schon vieles unternommen worden, so lobt sie den Gemeinderat präventiv, um die Missstände zu bekämpfen. Missbrauch sei ohnehin ein unklar definierter Begriff. Es sind die alten Argumente, mit denen die Sozialbranche bislang jede Kritik neutralisierte.

In der Sache setzt Mader lediglich die Latte für einen Missbrauchverdacht höher. Ausgedehnte Ferien im Ausland zum Beispiel sind nach ihrer Meinung unverdächtig; schliesslich sei bekannt, dass sich im Ausland oft billiger leben liesse als hierzulande. Ein Fall, den Büschi gemäss Mader zu Unrecht als verdächtig taxiert hatte, macht das Schreiben der Statthalterin zur Makulatur: Just gegen diesen vermeintlich unbedenklichen Fürsorgebezüger läuft mittlerweile ein Strafverfahren, weil er ein Vermögen von 38 000 Franken verheimlichte.
Sieben Monate lang hielt die Regierung Büschis «Zwischenbericht» im Giftschrank versteckt, bis sie diesen am 29. Januar 2009 diskret ins Internet stellte. Zugleich stellte Tschäppät vor der Presse den offiziellen «Schlussbericht» des Gemeinderates vor, in dem der katastrophale Befund des Finanzinspektorates bis zur Unkenntlichkeit verwedelt wird. Der Stadtpräsident versicherte, man habe die Lehren daraus gezogen. Dabei berief er sich auf ein Massnahmenpaket, das bereits im Februar 2008 geschnürt worden war – lange bevor der Bericht Büschi bekannt war, der immerhin eine Reihe von konstruktiven Empfehlungen enthält.
Bauernschlau hatte die Berner Regierung damit gerechnet, den «Zwischenbericht» Büschi mit ihrem «Schlussbericht» zu überdecken. Doch ausnahmsweise blieb der rot-grünen Mehrheit die mediale Komplizenschaft verwehrt, die bis anhin zuverlässig gespielt hatte. Namentlich die Journalisten Adrian Zurbriggen und Jürg Spori von der Berner Zeitung (BZ) liessen sich nicht mit offiziellen Verlautbarungen abspeisen und begannen zu recherchieren. Tschäppät und Olibet hatten den Bogen überspannt.
Die Vertuschungsmanöver, die die Journalisten ans Tageslicht brachten, sind ebenso abgründig wie das administrative Chaos in der Sozialdirektion. So wurde bekannt, dass Finanzinspektor Büschi in einer Sitzung mit dem Gemeinderat das Führungsversagen von Sozialdirektorin Olibet erfolglos thematisieren wollte. Büschi widerrief diese Behauptung öffentlich offenkundig unter Zwang und tatsachenwidrig, wie Protokolle belegen, welche die BZ umgehend veröffentlichte. Falsch ist offenbar auch Tschäppäts Behauptung, wonach der Finanzinspektor dem «Schlussbericht» zugestimmt habe – seine Unterschrift fehlte auf dem Dokument. Schliesslich wurde auch noch bekannt, dass die Sozialdirektion Büschis Untersuchung zu sabotieren versuchte und ihm Akten vorenthalten hatte.
Bereits Anfang Februar hatte eine Meldung in Bern für Empörung gesorgt, wonach Michael Hohn, der ehemalige Leiter des Berner Sozialamtes, für seinen ruhmlosen Abgang mit einem sechsstelligen Betrag aus der Staatskasse belohnt worden war. Der massgeblich für die Missstände im Amt verantwortliche Hohn hatte sich bereits im Frühling 2008 krank gemeldet. Im Sommer kehrte er zwar in sein Büro zurück, die Amtsleitung blieb aber bei seinem Stellvertreter, bis Hohn sich (auf Kosten der Steuerzahler) frühzeitig pensionieren liess.
Auch Amtsdirektorin Olibet meldete sich letzte Woche, als die Affäre hochkochte, umgehend krank. Die FDP hatte sie zu einem Departementswechsel aufgefordert, die SVP zum Rücktritt. Immerhin: Polizeidirektor Kurt Wasserfallen (FDP) wurde 2003 wegen ungleich geringerer Vorwürfe seiner Direktion enthoben. Am Montag meldete sich Olibet wieder zurück und wies Rücktrittsforderungen energisch zurück. SP-Präsident Christian Levrat persönlich hatte ihr übers Wochenende den Rücken gestärkt. Nach Ansicht der Genossen war nicht Olibet das Problem, sondern die «Medien» und die Indiskretionen.
Der Fall erinnert fatal an das Debakel um die gestrauchelte Zürcher Sozialvorsteherin Monika Stocker. Gehätschelt von kumpelhaften Journalisten und eingebettet in eine rot-grüne Mehrheit, die jede Kritik abschmetterte, wähnten sich die beiden Frauen immun. Beide haben versagt. Das hätte man ihnen verziehen, wenn sie die Lehren gezogen hätten. Unverzeihlich sind die Ablenkungsmanöver, mit denen sie ihr Versagen vertuschen wollten.


Erschienen in der Weltwoche Ausgabe 10/09

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