Freitag, 20. Februar 2009

Wenn Neuroleptika das bewirken, was sie angeblich verhindern sollen

Behandlungsergebnis Selbsttötung. Suizidalität als mögliche Wirkung psychiatrischer Psychopharmaka

Depressionen können durch eine Vielzahl von Ursachen ausgelöst werden: Psychosoziale und politische Umstände, neurologische Erkrankungen, Stoffwechselstörungen, Altersabbauprozesse, Viren, toxikologische Substanzen, Medikamente, Psychopharmaka und vieles mehr. Mediziner befassen sich vor allem mit organisch oder vermeintlich organisch bedingten Depressionen, gegen die sie in aller Regel Psychopharmaka und Elektroschocks einsetzen. Dass insbesondere eine Vielzahl von Psychopharmaka, die sie verabreichen, Depressionen und Suizidalität bewirken und verstärken können, fällt ihnen schwer zu akzeptieren. Dabei wird in der medizinischen und pharmakologischen Fachliteratur häufig über die depressionsverursachende Wirkung von Psychopharmaka berichtet. Speziell Neuroleptika, sogenannte antipsychotische Medikamente, lösen häufig Depressionen aus.

Psychopharmaka-assoziierte Depressionen und Suizidalität

Neuroleptika wirken durch eine Blockade speziell des Nervenimpulsüberträgerstoffs Dopamin mit dem Ergebnis, dass sich ein mehr oder weniger subtiles Parkinsonoid einstellt. Dies ist der Symptomenkomplex der Parkinsonkrankheit, charakterisiert durch gebeugten Gang, Muskelzittern und verwaschene Sprache. Ein Parkinsonoid entsteht regelhaft durch die Dopaminblockade. Das Erscheinungsbild des Parkinsonoids ist jeweils dasselbe, sei es durch Altersabbauprozesse, Bleivergiftung oder Neuroleptika hergestellt. Die Potenz der Neuroleptika ist definiert durch ihre Kraft, ein Parkinsonoid auszulösen; es handelt sich also nicht um eine unerwünschte Nebenwirkung, sondern um die von Psychiatern definierte therapeutische Hauptwirkung.

Das Parkinsonoid, primär eine Erkrankung des Bewegungsapparats, beinhaltet Veränderungen auch auf der psychischen Ebene. Neurologen definieren diese als Parkinsonpsyche. Sie ist ein gesetzmäßig mit dem Parkinsonoid einhergehender Symptomenkomplex, der sich von Apathie und Willenlosigkeit über Depression und Suizidalität bis hin zu Verwirrtheits- und Delirzuständen erstreckt (Fünfgeld 1967, S. 13ff). Auf die Parallelität zwischen emotionaler parkinsonbedingter Abstumpfung nach einer Hirnerkrankung und emotionaler Abstumpfung im Rahmen der Neuroleptikawirkung wies der deutsche Psychiater Hoimar von Ditfurth schon 1955 nach den ersten Verabreichungen des Neuroleptikaprototyps Chlorpromazin (im Handel u.a. als Largactil, Megaphen und Propaphenin) hin:

»Es hat, so möchten wir glauben, den Anschein, als ob die psychischen Veränderungen, die das Megaphen vor allem auf emotionalem Gebiet hervorruft, von gleicher Natur sind, wie die »affektive Abstumpfung und Einengung«, die man bei postencephalitischen Parkinsonisten (Parkinsonkranken nach Abklingen einer akuten Hirnentzündung, P.L.) so häufig registriert. « (1955, S. 56)
Depressionen und Suizidalität stellen also notwendige Auswirkungen von Neuroleptika dar und werden demzufolge von Psychiatern problemlos hingenommen.

Frank Ayd von der Psychiatrischen Abteilung des Franklin Square Hospitals in Baltimore schrieb 1975:

»Es besteht nun eine allgemeine Übereinstimmung, dass milde bis schwere Depressionen, die zum Suizid führen können, bei der Behandlung mit jedem Depot-Neuroleptikum auftreten können, ebenso wie sie während der Behandlung mit jedem oralen Neuroleptikum vorkommen können. Diese depressiven Veränderungen der Stimmung können zu jeder Zeit während depotneuroleptischer Behandlung auftreten. Einige Kliniker haben Depressionen kurz nach Behandlungsbeginn bemerkt; andere machten diese Beobachtung Monate oder Jahre nach Behandlungsbeginn.« (S. 497)
In ihrem Buch »Psychiatrische Pharmakotherapie« äußerten sich die beiden deutschen Psychiater Otto Benkert und Hanns Hippius zur Frage, ob die Suizidalität eventuell einer zu hohen Dosierung angelastet werden könne:

»Depressionen, Suizidalität, Erregungszustände und Delirien unter Pharmaka treten im allgemeinen unter Dosierungen auf, die durch den behandelnden Arzt therapeutisch verordnet wurden.« (1980, S. 258)
Statistische Angaben über neuroleptikabedingte Suizide sind, wie Psychiater selbst schreiben, aus vielerlei Gründen viel zu niedrig angesetzt. Solche Behandlungsverläufe würden von Medizinern nicht als Wirkungen der verabreichten chemischen Substanzen erkannt oder beachtet (Lehmann 1996, S. 111). Dass die Dunkelziffer von Suiziden auch in Psychiatrischen Anstalten immens ist, offenbarte der in der Unianstalt Basel tätige Asmus Finzen; unkorrekte Zahlenangaben seien allerdings von außen schwer festzustellen, weil

»... in Krankengeschichten und Entlassungsbüchern oft kein Vermerk über den Tod oder den Suizid der Patienten zu finden war. Wenn sich der Suizid während eines Urlaubs ereignet hatte, wurde er nicht selten rückwirkend entlassen. Wenn der Suizidversuch nicht zum sofortigen Tod geführt hatte, galt er für das Krankenblatt und die Statistik als verlegt in die Innere oder in die Chirurgische Klinik.« (1988, S. 45)
Die depressive Stimmungsveränderung unter Neuroleptika bei gleichbleibenden äußeren Bedingungen prüften zwei englische Psychiater, R. de Alarcon und M.W.P. Carney. Im ›British Medical Journal‹ schilderten sie einige unter gemeindepsychiatrischer Behandlung erfolgte Suizide unter Fluphenazin (im Handel u.a. als Dapotum und Lyogen), um schließlich ausführlich einen Fluphenazinversuch an einem 39jährigen wiederzugeben, der bereits einen Suizidversuch unter dieser Substanz hinter sich hatte. Als den Psychiatern an diesem Mann aufgefallen war, dass er regelmäßig einige Tage nach seiner 14tägigen Depotspritze Suizidabsichten entwickelte, wollten sie mit eigenen Augen die stimmungsverschlechternde Wirkung des Neuroleptikums miterleben. In der Anstalt beobachtete man den ›schizophrenen‹ Mann vier Wochen lang, ohne dass man ihm Neuroleptika verabreichte und ohne dass etwas Wesentliches an seiner Stimmung auffiel. Dann erhielt er eine intramuskuläre Spritze à 25 mg:

»Während seines Krankenhausaufenthaltes wurde er dreimal pro Woche von einem von uns (R. de A.) interviewt. In der Woche vor der Injektion, als man ihn nicht interviewen musste, erörterte man seinen Zustand mit dem leitenden Stationspfleger, und die Krankenakten wurden gelesen. An einem Mittwoch um 15 Uhr verabreichte man ihm die Versuchsspritze. Am Nachmittag des folgenden Tages war er in gedrückter Stimmung, wollte in Ruhe gelassen werden und hatte kein Bedürfnis, mit irgend jemandem zu reden, zu lesen oder fernzusehen. Ungefähr um 16 Uhr ging er zu Bett. Nach Meinung der aufsichtsführenden Schwester stellte er einen Suizidrisikofall dar. Als man ihn am Freitag interviewte, war die Veränderung seines äußeren Erscheinungsbildes beeindruckend. Er blickte düster drein, einen Scherz beantwortete er nicht mit einem Lächeln, und es fand keine spontane Konversation statt. Seine Antworten waren auf das unbedingt Notwendige beschränkt. Das Vorhandensein irgendwelcher paranoider oder hypochondrischer Ideen oder irgendwelcher Schuldgefühle verneinte er. Er sagte einfach, dass er sich sehr minderwertig vorkomme, und wenn er alleine in seiner Bude wäre, würde er sich das Leben nehmen. Am Freitagabend trat eine Besserung ein, und als man ihn am Samstag erneut interviewte, hatte er wieder zu seinem gewohnten, normalen Selbst zurückgefunden. (... de Alarcon und Carney resümierten, P.L.) dass manche Patienten für einen kurzen Zeitraum nach der Injektion von Fluphenazin-Enanthat oder -Decanoat schwer depressiv werden können. Bislang wurden noch keine klaren Strukturen begründet hinsichtlich der Frage, wann und bei wem dies möglicherweise auftreten kann. Das Fehlen von nachteiligen Wirkungen in der Vergangenheit ist kein Hinweis darauf, dass diese in der Zukunft nicht doch vorkommen können. Zum Beispiel erhielt in dem Versuchsfall der Patient das Fluphenazin-Enanthat länger als sechs Monate, bevor er wiederholt mit einer schweren Depression auf die Injektion zu reagieren begann, und dasselbe geschah in anderen Versuchsreihen. « (1969, S. 565f.)
Peter Müller von der Unianstalt Göttingen fand in seiner placebokontrollierten Untersuchung bei einem weit höheren Prozentsatz depotneuroleptischer Behandelten depressive Syndrome hochsignifikant häufiger als bei den Placebobehandelten. Über die Ergebnisse nach Verminderung oder Absetzen der Neuroleptika schrieb er:

»Bei insgesamt 47 Behandlungsmaßnahmen kam es in 41 Fällen zu einer Besserung der depressiven Verstimmung, nur in zwei Fällen gab es keine Veränderung, bei vier war der Effekt fraglich. Es war sehr überraschend festzustellen, dass allein die Reduzierung der neuroleptischen Dosis (in der Regel auf die Hälfte der bisherigen Gabe) in der überwiegenden Zahl dieser Fälle schon zur Besserung des depressiven Syndroms führte, allerdings oft nur zu einer Teilbesserung, die aber immerhin den Patienten schon deutlich entlastete. Demgegenüber brachte das gänzliche Absetzen bei anderen Patienten oder bei den gleichen Patienten, bei denen eine Dosisminderung nur zur geringen Besserung führte, einen sehr eindrücklichen Erfolg hinsichtlich der Depressionsbesserung. Manche Patienten berichteten, dass sie sich erst jetzt wieder völlig gesund fühlten wie lange vor der Erkrankung, und die von manchen Ärzten fast als unveränderlich angesehene depressive Bedrückung, die eventuell für Vorboten defektuöser Entwicklungen hätte gehalten werden können, verschwand gänzlich. Der mögliche Einwand, es könne sich hierbei um psychoreaktive Effekte im Sinne der Erleichterung des Patienten über das Absetzen der Medikation handeln, ist zu widerlegen, da fast alle Patienten Depot-Injektionen erhielten und über die Dosis dann nicht informiert wurden bzw. Placebo-Injektionen erhielten. (...) Die Veränderungen dieser Patienten waren für sie selbst, für Angehörige und Untersucher in manchen Fällen recht eindrucksvoll, die Patienten berichteten selbst, dass sie sich jetzt wieder ganz gesund wie lange vor der Erkrankung fühlten. Das war bei der neuroleptisch weiterhin behandelten Gruppe überwiegend nicht der Fall. Diese Befunde sprechen wohl doch eindeutig für pharmakogene Einflüsse und gegen morbogene Entwicklungen.« (1981, S. 52f., 64)
Müller resümierte:

»Depressive Syndrome nach der Remission der Psychose und unter neuroleptischer Behandlung sind nicht selten, sondern treten etwa bei zwei Dritteln der Patienten auf, teilweise auch noch häufiger, besonders wenn parenteral Depot-Neuroleptika gegeben werden. Ohne neuroleptische Behandlung finden sich hingegen nach vollständiger Remission diese depressiven Verstimmungen nur ausnahmsweise.« (S. 72)
Müllers – eigentlich – unübersehbare und unüberhörbare Aussagen werden von einer Vielzahl von Kollegen gestützt (Lehmann 1996, S. 57 – 87, 109 – 115). Hier einige Beispiele: Raymond Battegay und Annemarie Gehring (1968) von der Unianstalt Basel warnten nach einem Vergleich von Behandlungsverläufen der vor- und nachneuroleptischen Ära:

»Im Verlauf der letzten Jahre wurde verschiedentlich auch eine Verschiebung des schizophrenen Symptomenbildes nach einem depressiven Syndrom hin beschrieben. Mehr und mehr zeigen die Schizophrenien einen bland-depressiv-apathischen Verlauf. Es wurde offenbar, dass unter Neuroleptica oft gerade das entsteht, was mit ihrer Hilfe hätte vermieden werden sollen und als Defekt bezeichnet wird.« (S. 107f.)
Walter Pöldinger und S. Siebern von der Anstalt Wil/Schweiz schrieben:

»Es ist nicht ungewöhnlich, dass medikamentenverursachte Depressionen durch ein häufiges Vorkommen von suizidaler Ideation gekennzeichnet sind.« (1983, S. 131)
1976 teilte Hans-Joachim Haase von der Psychiatrischen Anstalt Landeck mit, die Anzahl lebensgefährdender depressiver Erscheinungen nach Anstaltsbehandlung mit Psychopharmaka habe sich seit Einführung der Neuroleptika mindestens verzehnfacht. Die Steigerung der Suizidrate sei »alarmierend und besorgniserregend«, so Bärbel Armbruster von der Unianstalt Bonn 1986 im ›Nervenarzt‹ – ohne allerdings die Betroffenen und ihre Angehörigen oder gar die Öffentlichkeit zu alarmieren.

Über die Entwicklung in Finnland, Norwegen und Schweden informierte 1977 Rolf Hessö von der Unianstalt Oslo; es scheine klar zu sein,

»... dass der Anstieg sowohl der absoluten Suizidzahlen als auch der relativen im Jahre 1955 begann. Dies war das Jahr, in dem Neuroleptika in den skandinavischen psychiatrischen Krankenhäusern eingeführt wurden.« (S. 122)
Jiri Modestin schrieb 1982 über seinen Arbeitsplatz, die Unianstalt Bern, sowie die benachbarte Psychiatrische Anstalt Münsingen:

»Unsere Resultate zeigen eine dramatische Zunahme der Suizidhäufigkeit unter den in der PUK Bern sowie auch PK Münsingen hospitalisierten Patienten in den letzten Jahren.« (S. 258)
Berichte über Depressionen und Suizidalität aus erster Hand

In dem 1998 erschienenen Buch »Psychopharmaka absetzen« beschrieb Regina Bellion aus Bremen ihren psychischen Zustand unter gemeindenaher Behandlung:

»Entlassung aus der Klinik. Auf nicht absehbare Zeit soll ich Neuroleptika einnehmen, sagt mir der Klinikarzt, an eine andere Therapieform sei überhaupt nicht zu denken, ich solle ja nichts ausprobieren.
Allein zu Hause. Dreimal täglich zähle ich meine Haldol?Tropfen ab. Sonst tue ich nicht viel. Ich sitze auf meinem Stuhl und starre in Richtung Fenster. Ich nehme nicht wahr, was draußen vor sich geht. Es fällt mir schwer, mich zu bewegen. Immerhin schaffe ich es täglich, aus dem Bett aufzustehen. Ich merke nicht, dass die Wohnung verdreckt. Es kommt mir nicht in den Sinn, dass ich kochen sollte. Ich wasche mich nicht. Ich frage mich nicht einmal, ob ich stinke. Meine Verelendung schreitet fort – ich bemerke es nicht.
Hinter meiner neuroleptischen Mauer vegetiere ich vor mich hin und bin ausgesperrt aus der Welt und aus dem Leben. Die reale Welt ist weiter von mir weg als Pluto von der Sonne. Meine eigene heimliche Welt ist auch weg – diese letzte Zuflucht habe ich mir mit Haldol zerstört.
Dies ist nicht mein Leben. Dies bin nicht ich. Genauso gut könnte ich tot sein. Eine Idee nimmt allmählich Form an: Bevor es Winter wird, werde ich mich erhängen.
Vorher will ich ausprobieren, ob mein Leben ohne Haldol anders wird. Ich reduziere die Tropfen. Weniger und weniger nehme ich davon ein, bis ich bei Null ankomme.
Nach einem Monat bin ich clean. Da merke ich, wie verwahrlost ich bin. Ich wasche mir die Haare, beziehe das Bett, mache die Wohnung sauber. Ich bereite eine warme Mahlzeit. Das macht mir sogar Vergnügen. Ich kann wieder denken.« (Bellion 1998, S. 311f)
Ähnliche Erfahrungen schilderte eine ebenfalls in Bremen lebende Betroffene, der man eine Kombination aus Haldol und dem Antidepressivum Aponal verordnet und die unter dem Einfluss der psychiatrischen Psychopharmaka – zum Glück ohne Erfolg – versucht hatte, ihrem Leiden durch Suizid ein Ende zu setzen:

»Wieder entlassen, hockte ich stundenlang in meiner Küche vorm Wasserhahn, durstig, aber unfähig, einen Becher Wasser zu nehmen oder das hart gewordene Brot zu beißen. Der Supermarkt war nur wenige Schritte entfernt, ich schaffte es nicht aufzustehen und wünschte mir nur, einfach tot zu sein, um endlich Ruhe zu haben. Mit Gott hatte ich gebrochen wegen dieser Erkrankung. Ich sah sie als Bestrafung an für zwei dunkle Punkte in meinem Leben. Das Schlimmste aber war der Teufelskreis des ewig wiederkehrenden psychotischen Denkens. Ich versuchte immer wieder, wenigstens ein paar Sekunden etwas anderes zu denken – es gelang nicht. Die Gedanken drehten immer wieder ihre sattsam bekannten gleichen Runden, Hunderte Male am Tag, mal im Zeitlupentempo, um dann immer schneller werdend das Gehirn zu malträtieren. Genau das war für mich die Hölle und das teuflische Spiel. Ich fühlte mich verdammt, von Gott auf immer verlassen, es gab keine Erlösung. Ich konnte nichts tun, als diesen fiesen Film liegend zu ertragen. Ich wusste, ich muss wieder glauben lernen, aber es ging nicht, und so versuchte ich, das Leben zu beenden.« (Marmotte 1998, S. 114)
Suizidale Auswirkungen haben auch atypische Neuroleptika, wie der Bericht der Österreicherin Ursula Fröhlich in »Schöne neue Psychiatrie« zeigt:

»Seit Beginn der Leponex-Einnahme habe ich keine Lust mehr auf Sex, keine Lust an der Bewegung und keine Freude am Leben. Ein Leben ohne Freude ist jedoch ärger als der Tod. Alles, war mir geblieben ist, ist das Fernsehen, wo ich seit sieben Jahren anderen zusehe, wie sie leben. Ich bin zwar biologisch noch am Leben, doch meine Sinne sind schon längst tot, alles, was mir früher Freude gemacht hat, kann ich nicht mehr machen. Mein Leben existiert eigentlich gar nicht mehr, ich komme mir so leer und so unbedeutend vor. Am schlimmsten ist es am Morgen. Jeden Tag nehme ich mir vor, am nächsten Tag mit einem gesunden Leben zu beginnen, die Medikamente wegzuschmeißen, viele Vitamine und Fruchtsäfte zu trinken und mit einer täglichen Fitnessroutine zu beginnen. Durch die Neuroleptika entsteht ein Gefühl, als ob es mir gelingen würde, am nächsten Tag mit einem ganz anderen, einem neuen Leben zu beginnen. Wenn ich dann aber in der Früh aufwache, bin ich wie zerschlagen und komme vor 9 Uhr nie aus dem Bett, meine Depressionen sind so arg, dass ich jeden Tag an Selbstmord denke.« (zit.n. Lehmann 1996, S. 70f.)
Psychiatern ging es bei ihren Selbstversuchen im Prinzip nicht anders. 1954 und 1955 veröffentlichten Hans Heimann und Peter Nikolaus Witt (1955) von der Unianstalt Bern ihre an Radnetzspinnen und Kontrollpersonen 1080 sowie in drei Selbstversuchen und neun weiteren Experimenten an ebenso vielen Psychiatern und Pharmakologen gewonnenen Erfahrungen mit einer einmaligen Einnahme von Largactil, dem Neuroleptika-Prototyp Chlorpromazin. Sehr deutlich wurde das unter Largactil ausgeprägte Gefühl der Minderwertig- und Leistungsunfähigkeit, strukturelles Bestandteil der neuroleptikabedingten Parkinsonpsyche, an den folgenden Auszügen:

»›Ich fühlte mich regelrecht körperlich und seelisch krank. Auf einmal erschien mir meine ganze Situation hoffnungslos und schwierig. Vor allem war die Tatsache quälend, dass man überhaupt so elend und preisgegeben sein kann, so leer und überflüssig, weder von Wünschen noch anderem erfüllt‹ ... (Nach Abschluss der Beobachtung): ›Riesengroß wuchsen vor mir die Aufgaben des Lebens auf: Nachtessen, in das andere Gebäude gehen, zurückkommen – und das alles zu Fuß. Damit erreichte der Zustand sein Maximum an unangenehmem Empfinden: Das Erlebnis eines ganz passiven Existierens bei klarer Kenntnis der sonstigen Möglichkeiten‹ ...« (S. 113)
Suizidregister als Vorbeugemaßnahme

In Deutschland forderte der Bundesverband Psychiatrie-Erfahrener e.V. im Februar 2000 von der Bundesministerin für Gesundheit die Einführung eines Suizidregisters unter besonderer Berücksichtigung von beteiligten Psychopharmaka/Elektroschocks, vorangegangener Fixierung und anderen Formen vorangegangener psychiatrischer Zwangsmaßnahmen (Lehmann 2001, S. 46). Das Fehlen einer flächendeckenden Registrierung von Suiziden in Zusammenhang mit psychiatrischen Behandlungsmaßnahmen sei ein großer Missstand; solche Daten seien eine elementare Voraussetzung für die Ursachenforschung sowie eine wichtige Basis für die Vorbeuge- und Früherkennungsarbeit. Eine staatenübergreifende Meldepflicht für Psychiatrie- und Psychopharmaka-assoziierte Suizide könnte dafür sorgen, dass Vorsorgemaßnahmen möglich und endlich verlässliche Studien durchgeführt werden, die den Zusammenhang insbesondere zwischen Psychopharmakawirkungen und Suizidalität weiter erforschen. Nicht nur Neuroleptika, wie dargelegt, sondern auch Antidepressiva (Healy 2001; Lehmann 1996, S. 194ff) und Elektroschocks (Frank 1990) sind sehr sorgfältig zu beobachten.

Berichte von Betroffenen, die durch eine traumatisierende Behandlung mit Psychopharmaka, Elektro- und Insulinschocks zur Suizidalität geradezu getrieben werden (siehe z.B. Kempker 2000), dürfen nicht weiter ignoriert werden. Instanzen, die Kenntnis von diesem Zusammenhang haben und untätig bleiben, trifft eine Mitschuld an psychopharmakabedingten Suiziden. Insbesondere Mediziner und Angehörige müssen über das Risiko psychopharmakogener Depression und Suizidalität informiert werden. Und die Betroffenen natürlich ebenso, damit sie eine wohlabgewogene und informierte Entscheidung über die Einnahme oder Nichteinnahme eines angebotenen Psychopharmakons treffen und gegebenenfalls weniger riskante Maßnahmen gegen ihre Depression treffen können.

Die Tatsache, dass sich psychiatrische Autopsiestudien retrospektiv mit Diagnosen und den zugrunde liegenden psychischen Zuständen befassen (siehe zum Beispiel Hell 2005, S. 20), nicht aber mit der jeweils konkreten Behandlung zum Zeitpunkt des Suizides, sagt alles über die Unwilligkeit von Psychiatern, sich im Rahmen von Suizidprophylaxe-Überlegungen kritisch mit den (möglichen) Folgen der eigener Tätigkeit auseinanderzusetzen. Eine psychiatrische Argumentation, es gebe eine Vielzahl von möglichen Ursachen bei Suiziden, also sei eine - von niemandem auch nur im Ansatz behauptete - Unikausalität auszuschließen, mag für uninformierte Menschen erstmal plausibel klingen. Ein vergleichbares Krebsregister wäre mit demselben Argument ebenfalls abzulehnen, man denke an durchsichtige Argumentationsstränge hinsichtlich Datenerhebungen über gehäufte Leukämiefälle nahe Atomkraftwerken oder die Argumentation mit nichtspezifischen Einzelfällen bei Missbildungen zu Beginn der Contergan-Ära. Welcher Verursacher von gesundheitlichen Schäden gibt schon gerne seine eigene Beteiligung zu?

Nachtrag: Fortgesetzte Diskriminierung von Psychiatriebetroffenen

Im Consensus-Papier der Konferenz »Ausgewogene Förderung von psychischer Gesundheit und psychiatrischer Betreuung« der WHO und Europäischer Kommission im April 1999 in Brüssel (WHO 1999) war die Einbeziehung von Psychiatriebetroffenen in die Psychiatriepolitik beschlossen worden:

»Gemeinsame Ziele und Strategien zur Verbesserung psychiatrischer Vorsorge und Behandlung schließen (...) die Entwicklung innovativer und umfassender, insbesondere psychiatrischer Psychiatriepolitik ein in Konsultation mit allen Beteiligten, einschließlich den Betroffenen und dem Pflegepersonal, und unter Berücksichtigung der Beiträge von Nichtergierungsorganisationen und Bürgerhelfern.« (WHO 1999, S. 9)
Auch zur Konferenz »Bewältigung von stress- und depressionsassoziierten Problemen in Europa« (Oktober 2001 in Brüssel), wiederum von der WHO und Europäischen Kommission veranstaltet, wurde ein Vertreter des Europäischen Netzwerks von Psychiatriebetroffenen eingeladen.

Statt seine Teilnahme aktiv einzubeziehen, um Politikern und Professionellen am Erfahrungsschatz und Wissen Psychiatriebetroffener teilhaben zu lassen, hielt man es nicht für nötig, ihm einen gleichberechtigten Plenumsbeitrag anzubieten. Statt dessen wurde ihm vom mitveranstaltenden Belgischen Sozial- und Gesundheitsministerium beschieden, »eine aktive Rolle in der Diskussion in Arbeitsgruppen« (Leen Meulenbergs).

Dies ist eine überkommene Rollenzuweisung für die Vertreter von Psychiatriebetroffenen, die eine aktive Rolle als Experten bei sie selbst zutiefst betreffenden Kongressen spielen sollten. Sie ist als diskriminierend und gegen den Geist der Gleichberechtigung gerichtet zurückzuweisen.

Literatur

Armbruster, Bärbel: »Suizide während der stationären psychiatrischen Behandlung«, in: Nervenarzt 57 (1986), S. 511-516

Ayd, Frank J.: »The depot fluphenazines«, in: American Journal of Psychiatry 132 (1975), S. 491-500

Battegay, Raymond / Gehring, Annemarie: »Vergleichende Untersuchungen an Schizophrenen der präneuroleptischen und der postneuroleptischen Ära«, in: Pharmakopsychiatrie Neuro-Psychopharmakologie 1 (1968), S. 107-122

Bellion, Regina: »Nach dem Absetzen fangen die Schwierigkeiten erst an«, in: Peter Lehmann (Hg.): »Psychopharmaka absetzen – Erfolgreiches Absetzen von Neuroleptika, Antidepressiva, Lithium, Carbamazepin und Tranquilizern«, Berlin 1998, S. 310-323

Benkert, Otto / Hippius, Hanns: »Psychiatrische Pharmakotherapie«, 3. Auflage, Berlin / Heidelberg / New York 1980

De Alarcon, R. / Carney, M.W.P.: »Severe depressive mood changes following slow-release intramuscular fluphenazine injection«, in: British Medical Journal, 1969, S. 564-567

Finzen, Asmus: »Der Patientensuizid«, Bonn 1988

Frank, Leonard R.: »Elektroschock«, in: Peter Lehmann: »Schöne neue Psychiatrie«, Band 1: »Wie Chemie und Strom auf Geist und Psyche wirken«, Berlin 1996, S. 287-319

Fünfgeld, Ernst Walter: »Psychopathologie und Klinik des Parkinsonismus vor und nach stereotaktischen Operationen«, Berlin / Heidelberg / New York 1967

Haase, Hans-Joachim: »Pharmakotherapie bei Schizophrenien«, in: ders. (Hg.): »Die Behandlung der Psychosen des schizophrenen und manisch-depressiven Formenkreises«, Stuttgart / New York 1976, S. 93 – 120

Healy, David: »The SSRI suicides«, in: Craig Newnes, Guy Holmes, Cailzie Dunn (Hg.): »This is madness too: Critical perspectives on mental health services«, Ross-on-Wye 2001, S. 59-69

Heimann, Hans / Witt, Peter Nikolaus: »Die Wirkung einer einmaligen Largactilgabe bei Gesunden«, in: Monatsschrift für Psychiatrie und Neurologie, Band 129 (1955), S. 104-123

Hell, Daniel: "Was tun, um Suizide zu vermeiden und zu verhindern?" Interview in: Psychiatrie, Psychiatrie & Neurologie 4/2005, S. 20-21; Retrieved February 27, 2008, from www.tellmed.ch/include_php/previewdoc.php?file_id=2060

Hessö, Rolf: »Suicide in Norwegian, Finnish, and Swedish hospitals«, in: Archiv für Psychiatrie und Nervenkrankheiten 224 (1977), S. 119 – 127

Kempker, Kerstin: »Mitgift – Notizen vom Verschwinden«, Berlin 2000

Lehmann, Peter: »Schöne neue Psychiatrie«, Band 1: »Wie Chemie und Strom auf Geist und Psyche wirken«, Berlin 1996

Lehmann, Peter: »Grußwort des Bundesverbandes Psychiatrie-Erfahrener«, in: Aktion Psychisch Kranke (Hg.): »25 Jahre Psychiatrie-Enquete«, Band 1, Bonn 2001, S. 44 – 47

Lenz, Fritz: "Menschliche Auslese und Rassenhygiene", München: J. F. Lehmanns Verlag, 2., vermehrte und verbesserte Auflage 1923, S. 23

Marmotte, Iris: »Die Blaue Karawane, unterwegs...«, in: Peter Lehmann (Hg.): »Psychopharmaka absetzen – Erfolgreiches Absetzen von Neuroleptika, Antidepressiva, Lithium, Carbamazepin und Tranquilizern«, Berlin 1998, S. 112 – 130

Modestin, Jiri: »Suizid in der psychiatrischen Institution«, in: Nervenarzt 53 (1982), S. 254 – 261

Müller, Peter: »Depressive Syndrome im Verlauf schizophrener Psychosen«, Stuttgart 1981

Pöldinger, Walter / Sieberns, S.: »Depression-inducing and antidepressive effects of neuroleptics«, in: Neuropsychobiology 10 (1983), S. 131 – 136

Von Ditfurth, Hoimar: »Anwendungsmöglichkeiten des Megaphens in der psychiatrischen Klinik und Forschung«, in: Nervenarzt 26 (1955), S. 54 – 59

World Health Organization / European Commission: »Balancing mental health promotion and mental health care: a joint World Health Organization / European Commission meeting«, Broschüre MNH/NAM/99.2, Brüssel 1999; siehe www.enusp.org/documents/consensus.htm




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