Donnerstag, 19. Februar 2009

Wenn Frauen lügen

Fall Paula Oliveira

Protokolle einer Irreführung
Der fingierte «Skinhead-Überfall» auf eine vermeintlich schwangere Brasilianerin war absichtsvoll geplant. Die Plattform Swissinfo spielte eine unrühmliche Rolle. Das falsche Opfer hatte durchaus handfeste Motive: Es winkten fette Genugtuungssummen.

Von Alex Baur

Die schreckliche Nachricht wurde am 11. Februar von der brasilianischen News-Kette O Globo in Umlauf gebracht und schlug in Brasilien ein wie eine Bombe: Drei Rechtsextreme hatten zwei Tage zuvor in Zürich die brasilianische Anwältin Paula Oliveira, 26, auf offener Strasse überfallen und mit zahllosen Schnittwunden verletzt; als Folge der Misshandlung soll die junge Brasilianerin, die im dritten Monat schwanger gewesen sei, auf der Toilette im Bahnhof Stettbach Zwillinge verloren haben. Gemäss den Fotos, welche den Bericht illustrierten, hatten die Täter dem Opfer die Buchstaben SVP auf den Leib geritzt. Wie O Globo berichtete, steckt hinter diesen Buchstaben die grösste Partei der Schweiz, die jüngst auf aggressiven Plakaten mit Raben «gegen Immigranten» Stimmung gemacht habe.


Das Raben-Motiv der SVP war tags darauf auch in der portugiesischen Ausgabe der Internetplattform Swissinfo zu betrachten, welche die Nachricht als erstes internationales Medium prominent aufnahm. Swissinfo ist eine «Unternehmenseinheit der SRG», wird von der Eidgenossenschaft finanziert und hat «die Aufgabe, den Bekanntheitsgrad der Schweiz im Ausland zu steigern».
In einem ersten, in der Zwischenzeit von der offiziösen Plattform wieder entfernten Artikel stellte der Brasilien-Spezialist Alexander Thoele die Schweizer Medien an den Pranger, welche die xenophobe Attacke mutwillig verschweigen würden. «Wenn es um Verbrechen geht, in die Brasilianer oder andere Ausländer involviert sind, berichten die Medien hier immer», zitierte er die brasilianische Generalkonsulin Vitoria Cleaver. Thoele stellt den Krimi so dar, als gäbe es nicht den geringsten Zweifel. Insgesamt wird der Eindruck einer SVP-dominierten, latent fremdenfeindlichen Schweiz vermittelt, deren Behörden nur unwillig gegen rechtsextreme Täter vorgingen. Die Polizei habe das Opfer sogar eingeschüchtert: «Wenn du lügst, kommst du ins Gefängnis.»
Am gleichen Abend fand in Zürich die erste einlässliche Einvernahme von Paula Oliveira bei der Stadtpolizei Zürich statt. Die junge Anwältin erzählte ausführlich, wie sie sich am Montag nach 19 Uhr in der Gegend des Bahnhofs Stettbach verirrt habe. Auf offener Strasse sei sie unverhofft von drei kahlgeschorenen Unbekannten angefallen worden. Einer der Täter sei durch ein grosses Hakenkreuz auf dem Hinterkopf aufgefallen. Die Männer hätten ihr sofort alle Kleider vom Leib gerissen. Während zwei Kerle sie festhielten, habe der dritte ihr (im Stehen) mit einem Messer die Wunden zugefügt. Nach der Tat, die etwa fünf Minuten dauerte, habe sie sich instinktiv in eine Toilette beim Bahnhof eingeschlossen, wo es zur Fehlgeburt gekommen sei. Per SMS habe sie um 19.20 Uhr ihren Schweizer Freund zu Hilfe gerufen, der wenige Minuten später vor Ort war und die Polizei alarmierte.
Nach der dreistündigen Einvernahme fragte die Brasilianerin die Polizisten, wie sie sich gegenüber den Medien zu verhalten habe. Diese baten sie, vorläufig keine Angaben zu machen, weil dadurch die Fahndung behindert werden könnte. Im Rückblick erscheint die Frage des vermeintlichen Opfers geradezu höhnisch: Zu diesem Zeitpunkt war in den brasilianischen Medien nämlich bereits eine gewaltige Kampagne am Rollen – mit Bildern und Informationen, die von Paula Oliveira oder aus ihrem engsten Umfeld stammen mussten.
Oliveiras Vater, der als hoher Regierungsbeamter über beste Beziehungen verfügt, schien der Ratschlag aus Zürich jedenfalls kaum zu beeindrucken. In den folgenden Tagen berichtete er auf allen Kanälen über das schreckliche Schicksal seiner Tochter in der fernen Schweiz und über das Wesen der SVP. Auch Generalkonsulin Cleaver, die bei allen Polizeieinvernahmen dabei war, gab gerne Auskunft. Nun schaltete sich auch Staatspräsident Lula ein und forderte die Schweiz zum Handeln auf. Tags darauf verurteilte Geraldo Lyria Rocha die «barbarische Aggression» und verwahrte sich weitsichtig gegen allfällige «Versuche der Polizei», dem Opfer ein Selbstverschulden anzuhängen.



Ultraschall im Hotelzimmer

An jenem Freitag, dem 13., fand die nächste Einvernahme bei der Stadtpolizei Zürich statt. Paula Oliveira erzählte freimütig von zwei Fehlgeburten, die sie bereits früher erlitten habe. Um die Weihnachtszeit sei sie erneut schwanger geworden, Anfang Januar habe sie in der Migros einen Test gekauft, der positiv ausgefallen sei. Eine mit ihr befreundete brasilianische Ärztin habe in der Folge in einem Zürcher Hotel, an dessen Name sie sich nicht erinnern könne, ambulant eine Ultraschalluntersuchung vorgenommen und dabei ihre Zwillinge fotografiert. Die Aufnahmen habe sie leider nicht mehr zur Hand, auch die Telefonnummer der Ärztin blieb unauffindbar.


Unter den freundlichen, aber beharrlichen Fragen einer Zürcher Polizistin verwickelt sich Oliveira nun zusehends in Widersprüche. Um 10 Uhr 15 trifft der medizinische Befund des Universitätsspitals Zürich ein, den ihr eine Polizistin gemäss Protokoll «schonend beizubringen versucht»: Die gynäkologische Expertise hat zweifelsfrei ergeben, dass Oliveira in jüngster Zeit nicht schwanger gewesen war. Die folgende halbe Stunde, bei der viele Tränen flossen, ist nur lückenhaft protokolliert. Gegen 11 Uhr legt die Brasilianerin ein eindeutiges Geständnis ab, das sie in mehreren Versionen wiederholt und schliesslich mit ihrer (kindlich anmutenden) Unterschrift bestätigt: Ihre ganze Geschichte war erstunken und erlogen – es gab in ihrem Leben weder Skinheads noch Zwillinge.
Über ihre Motive konnte oder mochte Paula Oliveira nichts sagen: «Da müssen Sie den Psychiater fragen.» Die SVP, so erklärte sie mehrmals, sei ihr «nur von den Plakaten her» bekannt. Mittäter gebe es keine. Die sorgsam angebrachten Ritzwunden, die Gerichtsexperten mühelos als Selbstverletzung identifizierten, hatte sie sich auf dem Klo in Stettbach zugefügt – mit einem Küchenmesser von Ikea, das sie am Morgen vor der Tat eingepackt hatte. Somit scheint klar: Die Tat war nicht spontan erfolgt, sondern Stunden, wenn nicht Tage zuvor geplant worden. Welche Rolle Paulas Freund dabei spielte, ist unklar – er ist mittlerweile untergetaucht.



Fiktiver Gatte im Flugzeug gestorben

Bislang hielten die Zürcher Behörden das klare Geständnis der Brasilianerin geheim. Man beschränkte sich darauf, die kriminalistischen Befunde (keine Schwangerschaft, Selbstverletzung) bekanntzumachen. Offenbar soll die peinliche Geschichte möglichst schnell vergessen gehen. Die Schweizer Medien, die den Fall ohnehin verschlafen hatten, spielten gerne mit. «Es gibt keinen Fall Stettbach», titelte der Tages-Anzeiger am Samstag.


Die Medien in Brasilien reagierten zum Teil mit Selbstkritik. Die Zeitschrift Epoca wusste zu berichten, Paula Oliveira sei im Kollegenkreis schon früher als Lügnerin aufgefallen. So habe sie einmal einen (fiktiven) Gatten bei einem (realen) Flugzeugabsturz sterben lassen, um Mitleid zu erregen. Die vermeintlichen Ultraschallbilder von ihren Zwillingen, die sie vor ihrer Tat im Freundeskreis herumgeschickt hatte, soll die Anwältin per Google im Internet aufgestöbert und heruntergeladen haben.
Für andere Journalisten ist der Fall aber noch lange nicht geklärt. Zu Letzteren zählt auch die Lateinamerika-Ausgabe der quasi-amtlichen Swissinfo in spanischer und portugiesischer Sprache. Die Plattform begnügte sich vorweg damit, ihre Geschichte in leicht abgeschwächter Form neu zu editieren und den Titel «Schwangere Brasilianerin in Zürich durch Skinheads überfallen» mit einem Fragezeichen zu versehen. Am Montag (16. Februar) verfasste Korrespondent Thoele einen zweiten, ironisierenden Bericht über Schweizer Zeitungen, die den Überfall voller «Schadenfreude» («ein Begriff, der schwierig auf Portugiesisch zu übersetzen ist») in Frage stellten.
In einem dritten Artikel verbreitet Swissinfo gleichentags vorerst die klare Falschmeldung in portugiesischer Sprache, wonach gemäss Angaben der Zürcher Polizei lediglich der Überfall «umstritten» sei, jedoch nicht der Abort. Endlich würden sich nun auch die Schweizer Medien des Falles annehmen.
Die Weltwoche lud Swissinfo-Chefredaktor Christophe Giovannini am Dienstag (telefonisch und schriftlich) zu einer Stellungnahme ein. Die Anfrage blieb bis Redaktionsschluss unbeantwortet. Immerhin war in der Folge plötzlich auch bei Swissinfo in portugiesischer Sprache nachzulesen, dass die «Zweifel» an Oliveiras Version offizieller Natur sind.
Unwidersprochen verbreitet Swissinfo in Lateinamerika nach wie vor die Behauptungen, die SVP habe mit ihren Schäfchen- und Raben-Plakaten die rassistische Grundstimmung vorbereitet, in der fremdenfeindliche Übergriffe stattfinden könnten. Als Kronzeugen werden Amnesty International sowie Doris Angst von der Eidgenössischen Kommission gegen Rassismus zitiert: «Die Radikalisierung der politischen Debatte während des Abstimmungskampfes stimuliert und legitimiert solche Gewalttaten.»
Allgemein scheint man sich auf den Konsens geeinigt zu haben, dass Paula Oliveira auf jeden Fall ein Opfer ist – wenn nicht von Neonazis, dann von ihrer eigenen Psyche. Gegen diese Hypothese spricht allerdings, dass die Brasilianerin gemäss eigenen Angaben ihre Tat lange geplant hatte. Aufhorchen lassen auch ihre Hinweise auf die «SVP-Plakate», die sie bereits in ihrer ersten Aussage machte. Wie kommt die in politischen Fragen angeblich unbedarfte Immigrantin darauf, die Insignien der SVP, die auf den «Raben-Plakaten» nur beiläufig angeführt sind, in den Mittelpunkt ihrer Inszenierung zu rücken?



50 000 bis 100 000 Franken Opferhilfe

Wie polizeiinterne Kreise vermuten, ist ein Motiv für ein vorsätzliches Handeln durchaus denkbar: Opfer von Gewalttaten erhalten in der Schweiz Genugtuungs- und Schadenersatzzahlungen aus der Staatskasse. Wäre Paula Oliveira mit ihrer Geschichte durchgekommen, hätte sie in Anbetracht der politischen Implikationen für den Verlust von zwei Kindern und den damit verbundenen schweren psychischen Schaden ohne weiteres 50 000 bis 100 000 Franken beanspruchen können. Als Anwältin dürfte Paula Oliveira diese Besonderheit der Schweizer Rechtspflege bekannt sein.


Das Risiko war für sie auf jeden Fall gering. Opfer werden hierzulande kaum hinterfragt, selbst wenn sie sich als Täter entpuppen. Wer wider besseres Wissen eine vermeintliche Straftat zur Anzeige bringt, wird gemäss Artikel 304 StGB zwar «mit Gefängnis bis zu drei Jahren» bestraft. Theoretisch. In der Praxis drücken die Strafverfolger bei der Anwendung des Paragrafen oft beide Augen zu.
Ein aktuelles Beispiel dafür liefert der eidgenössische Untersuchungsrichter Ernst Roduner, der Drohbriefe gegen sich selber verfasste. Monatelang verschleppte die Bundesanwaltschaft die Eröffnung eines Verfahrens, bis sie den Fall als «geringfügig» nach Zürich abschob. Dass mit einer Falschanzeige Unschuldige verleumdet oder auch mal zu Unrecht verurteilt werden könnten, wird billigend in Kauf genommen.

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