von Aurel Schmidt
Eine Aussage ist nur verständlich, wenn sie auf den Kopf gestellt werden kann. Man könnte sich also vorstellen, dass die Hamas erklärt: "Uns geht die Geduld aus" und auf die fortgesetzten israelischen Angriffe auf Gaza mit Vergeltungsschlägen reagiert. Der Verteidigungsminister der Hamas würde zu Protokoll geben: "Das war erst der Anfang." Trotz internationalen Drucks würde die Hamas sich weigern, die Kriegshandlungen einzustellen. Und der wie gewöhnlich schlecht informierte Bush würde sagen: "Ich kann die Hamas verstehen, dass sie sich verteidigt. Die Palästinenser haben das Recht, in einem eigenen Staat mit gesicherten Grenzen zu leben."
Die Welt würde anders aussehen. Aber die Umkehrung ergibt in diesem Fall keinen Sinn, weil nach allgemeiner Auffassung die demokratisch gewählte Hamas als terroristische Organisation gilt und es Israel ist, das sich gegen sie verteidigt. Trotzdem bleibt die Frage bestehen, was Ursache und was Wirkung ist. Was für die einen "Verteidigung unserer Existenz" ist, bedeutet für die andere Seite Terrorismus.
Es ist deshalb gut, die Chronologie noch einmal in Erinnerung zu rufen. Am 29. Dezember 1947 wurde in der UNO die Resolution 181 (II) angenommen und das britische Mandatsgebiet zu 56 Prozent der jüdischen Seite und zu 44 Prozent der arabischen Seite zugesprochen. Am 14. Mai 1948 rief David Ben Gurion den Staat Israel aus.
Schon 1947 hatten die in Palästina ansässigen Juden aber begonnen, die Palästinenser zu vertreiben, zu töten und zu enteignen. Bis 1949 waren 800'000 Palästinenser (nach dem israelischen Historiker Ilan Pappe, der von "ethnischer Säuberung" spricht) betroffen beziehungsweise 700'000 oder 750'000 (nach der Literaturwissenschafterin Judith Butler). Es war die Hälfte der ehemaligen palästinensischen Bevölkerung im früheren Mandatsgebiet. Für die Palästinenser war das die "Nakba", die Katastrophe. (Siehe auch Eric Rouleau, "Der Mythos vom kleinen David", "Le Monde diplomatique", Mai 2008.) Durch die israelische Grenzmauer östlich der Grünen Linie sind noch einmal 95'000 Palästinenser betroffen und von ihren Besitzungen abgeschnitten worden. Die israelischen Massaker von Shabra und Shatila bis Dschenin sind den Palästinensern immer noch in Erinnerung.
Seit 1947 wehren sich die Palästinenser gegen das an ihnen verübte Unrecht. Dass sie es beharrlich tun und sich nicht einfach damit abfinden, stempelt sie zu Terroristen.
Der französische Präsident Sarkozy hat festgestellt, es gebe im Nahost-Konflikt keine militärische Lösung. Das ist nicht falsch. Aber Verhandlungen haben seit den Gesprächen in Oslo 1993 auch zu keiner Lösung geführt.
Bis zum Beweis des Gegenteils behaupte ich, dass Israel an Verhandlungen über einen autonomen, funktionierenden Palästinenserstaat nicht interessiert ist. Die sogenannten Friedensverhandlungen sind eine Hinhaltetaktik. Unterdessen kann die israelische Besiedlung von Westjordanien weitergehen und die Realisierung eines Gross-Israel in den biblischen Grenzen (Erez Israel) fortgesetzt werden. Heute leben 200'000 israelische Siedler in den von Israel völkerrechtswidrig besetzten palästinensischen Gebieten. Dass sie sich je zurückziehen werden, ist unwahrscheinlich, wenn man bedenkt, dass die Zwangsräumung eines einzigen Hauses in Hebron zu einer einwöchigen Auseinandersetzung zwischen Siedlern und der israelischen Polizei führt. Das Besiedlungsproblem schafft Verhältnisse, die jeden Tag weniger umkehrbar sind und macht die Radikalisierung der Palästinenser verständlich.
Wir leben in einer Zeit, in der die Goliathe gegen die Davide siegen. Das ist die Erfahrung, die die Palästinenser machen müssen, aber auch die Kurden in der Türkei, die Georgier im Verhältnis zu Russland und die Tibeter unter der Herrschaft Chinas. Nicht zu vergessen die willkürlichen Gefangenen in Guantanamo.
Nicht, dass ich besondere Sympathien für die Gottesstaatler der Hamas aufbrächte, die sich nicht anders auf den Koran berufen wie die israelischen Kolonisten in Westjordanien auf die Bibel. Aber im Zweifelsfall wird es zum kategorischen Imperativ, für die bedrängte Minderheit Partei zu ergreifen.
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