Mit gezinkten Karten
Wie immer, wenn es um die Beziehungen zur EU geht, droht der Untergang der Schweiz. Die Befürworter der Personenfreizügigkeit setzen nicht auf Argumente – sie ziehen es vor, zu verwedeln, zu verschweigen und zu übertreiben.
Von Markus Somm
Anzeige Von einem «existenziellen Riesenproblem» sprach Andreas Bitterlin vom Universitätsspital Basel und blickte pechschwarz in die Kamera des Schweizer Fernsehens. «Mir gefällt es hier, ich möchte nicht mehr gehen», sorgte sich Belinda Stern, eine Krankenschwester aus Berlin, nachdem sie einer Patientin den Blutdruck abgenommen hatte, als ob sie zeigen müsste, wie sehr sie sich bemühte. Jörg Naundorf, ein Pfleger aus der ehemaligen DDR, machte sich Gedanken, ob er wohl in der Heimat noch eine Stelle fände: «Die finanzielle Bezahlung wäre deutlich schlechter.» Auch er sah traurig aus: ein sympathischer junger Mann mit zwei Ohrringen und einem Nasenring, der mit weichem sächsischem Akzent sprach. «Würde die Personenfreizügigkeit abgeschafft», donnerte eine Stimme im Off, «müsste ihre Stelle durch inländisches Personal ersetzt werden. Dieses ist aber schwer zu finden.» Der Beitrag in der Nachrichtensendung «10 vor 10» endete finster: «Ohne Personenfreizügigkeit müssten wohl viele Spitäler in der Schweiz schliessen.»
Ungewöhnlich harsches Urteil
Diese Woche kam Achille Casanova (CVP), der Ombudsmann des Schweizer Fernsehens, zum Schluss, dass es sich hier um «gravierende Fehlinformationen» handelte. Auf Betreiben von SVP-Nationalrat Theophil Pfister (SG) hatte sich der ehemalige Bundesratssprecher mit der Sendung befassen müssen, die im vergangenen Oktober ausgestrahlt worden war. Für Casanova, der zu leisen Tönen neigt, ist das ein ungewöhnlich harsches Urteil. Was vielleicht damit zu tun hat, dass der Lapsus des gebührenfinanzierten Fernsehens kein Einzelfall, sondern symptomatisch ist für die Kampagne der Befürworter der Weiterführung und Ausdehnung der Personenfreizügigkeit auf Rumänien und Bulgarien. Der Pro-Kampagne hatten sich offensichtlich auch ein paar Journalisten des Schweizer Fernsehens angeschlossen. Schon am Tag danach korrigierte das Fernsehen die Fehlleistung und entschuldigte sich.
Tatsächlich war fast nur der sächsische Akzent richtig in dem rund vier Minuten langen Beitrag. Würde die Schweizer Stimmbevölkerung am kommenden 8. Februar die Vorlage ablehnen und würde die Schweiz die Personenfreizügigkeit wirklich kündigen, müsste kein einziger EU-Bürger seine Stelle in der Schweiz aufgeben. Deren Aufenthaltsbewilligung bliebe gültig und würde sich automatisch verlängern, sofern sie ihr Arbeitgeber weiterhin beschäftigen wollte. Doch sind das nur akademische Debatten. Es ist unwahrscheinlich, dass die Schweizerinnen und Schweizer im Februar die Personenfreizügigkeit verwerfen. Schweizer Pragmatismus dürfte sie davon abhalten. Was man einmal unterschrieben hat, löst man nicht mehr auf.
Umso mehr erstaunt die Nervosität der Befürworter, die sich öffentlich zanken, ob ihre Plakate mit den entlaubten oder mit Äpfeln behangenen Bäumchen irgendeine Wirkung haben. Liebhaber naiver Malerei erreichen sie vielleicht. Economiesuisse, der Spitzenverband der Wirtschaft, wirbt seit Jahren damit. Offenbar fällt dem Verband mit der grossen Kriegskasse nichts Neues mehr ein. Man hat Abstimmungen über den sogenannten «bilateralen Weg» schon so oft gewonnen.
Umso mehr irritiert der Umstand, wie häufig die Befürworter übertreiben oder die Dinge falsch darstellen, wie sehr sie, die den Gegnern vorwerfen, eine Angstkampagne zu führen, selbst mit Angst arbeiten. «Bei einem Nein», schreibt Economiesuisse in ihrem Argumentarium im Internet, «entfallen sämtliche Verträge der Bilateralen I. Sechs Monate nach der Abstimmung treten sie ausser Kraft. Die Schweiz stünde politisch vor einem Scherbenhaufen. Für die Schweizer Wirtschaft wäre das ein grosser Schaden. Es müsste mit einer Abwanderung von Unternehmen und mit Arbeitsplatzverlusten gerechnet werden.» Hier stimmt vielleicht die Aussage über den Scherbenhaufen, ansonsten wird im Indikativ behauptet, was bestenfalls informierte Prognose, schlimmstenfalls blinde Spekulation ist.
Bisher gibt es keine wissenschaftliche Studie über Erfolg oder Misserfolg der Bilateralen Verträge. Ob der einzigartige Aufschwung, den die Schweizer Wirtschaft bis vor kurzem erlebt hatte, mit diesen Verträgen zu tun hat, ist offen. Womöglich haben die Verträge geholfen, entscheidender war mit Sicherheit die robuste Verfassung der Weltwirtschaft, überall in Europa, aber vor allem auch in Asien und Amerika. Um klare Aussagen zu machen, hat die Schweiz noch viel zu wenig Erfahrungen mit diesen neuen Verträgen gesammelt.
Mythos Einsamkeit
Das gilt insbesondere für die Personenfreizügigkeit, welche die Befürworter inzwischen zum wirtschaftspolitischen Allerweltsmittel stilisieren: «Das Seco führt ein Drittel des Wachstums zwischen 2004 und 2007 auf die Personenfreizügigkeit zurück», schreibt Economiesuisse und erweckt den Eindruck, es handle sich um Fakten, während es bloss Schätzungen sind, die auf Modellrechnungen beruhen. Gewiss, sie könnten zutreffen. Ohne Frage ist die Personenfreizügigkeit eine gute Sache: Für die Arbeitgeber wächst das Angebot an Arbeitskräften, das reduziert die Löhne, erhöht die Flexibilität und verbessert die Qualität der Belegschaft, weil für jede Stelle unter viel mehr Bewerbern der fähigste ausgewählt werden kann. Manche Spezialisten findet man kaum mehr in der Schweiz. Ökonomisch macht das Sinn. Aus einer liberalen Sicht ist die Personenfreizügigkeit sowieso zu begrüssen; wobei man sich bloss fragt, warum sich die Schweiz nur auf die EU beschränkt. Warum öffnen wir unseren Arbeitsmarkt nicht auch gegenüber anderen, mitunter interessanteren Ländern wie Singapur oder Israel?
Doch soll man nicht so tun, als wäre die Schweiz vor den bilateralen Verträgen ein Land gewesen, das verloren im wirtschaftlichen Ozean getrieben hätte. Auch früher waren wir auf gute Ingenieure und Techniker, Handwerker und Kellner oder Arbeiter angewiesen – und die Schweizer Wirtschaft konnte sie rekrutieren. Mit den fast höchsten Löhnen der Welt war das keine Hexerei.
Eine Studie der Nationalbank hat unlängst den Nutzen der Personenfreizügigkeit untersucht. Das Ergebnis ist ambivalent. «Dank der Personalfreizügigkeit waren die Unternehmen im Konjunkturaufschwung der letzten Jahre in vergleichsweise geringem Mass mit Personalengpässen konfrontiert», schreibt der Autor Peter Stalder. Das habe das Wirtschaftswachstum gefördert. Der Forscher geht von 0,9 Prozent mehr Wachstum aus. «Die Kehrseite der Medaille besteht darin, dass die Arbeitslosenquote in den letzten zwei Jahren trotz sehr starkem Beschäftigungszuwachs nur um je rund 0,5 Prozentpunkte zurückging. Von 1998 bis 2000 fiel die Arbeitslosigkeit wesentlich stärker, obwohl der Beschäftigungszuwachs schwächer war. Der Hauptgrund für den nun vergleichsweise bescheidenen Rückgang der Arbeitslosigkeit liegt im verstärkten Ausländerzustrom.»
Erst seit Juni 2007 besteht mit den alten EU-Staaten (EU-15) die volle Personenfreizügigkeit, das heisst, jegliche Kontingente und Einschränkungen fielen weg. Die schweizerischen Erfahrungen sind denkbar kurz – und rosig, weil sie während einer bemerkenswerten Hochkonjunktur gemacht werden konnten. Die kommende Rezession wird zeigen, wie sich die Personenfreizügigkeit auf die Arbeitslosigkeit und die Löhne auswirken wird. Und erst dann wird es möglich sein, eine Art «Vollkostenrechnung» durchzuführen.
Denn bei aller Sympathie für die Personenfreizügigkeit: Verbunden mit einem gutausgebauten Sozialstaat, kann sie rasch zu hohen ökonomischen Kosten führen. Die Krise wird dies erweisen, verlässliche Zahlen dürfte die Schweiz erst in Jahren zu Gesicht bekommen. Aus betriebswirtschaftlicher Sicht mag sich die Personenfreizügigkeit dann zwar immer noch lohnen, aus volkswirtschaftlicher Sicht aber womöglich nicht mehr. Über diese Risiken wird nicht offen gesprochen. Stattdessen werden die Konsequenzen verwedelt: «Auch gibt es keine Hinweise auf einen zunehmenden Missbrauch der Sozialwerke», schreibt Economiesuisse. «Erstens gilt die Personenfreizügigkeit nur für EU-Bürger, die eine Arbeitsstelle nachweisen oder finanziell unabhängig sind. Für Arbeitslose und Sozialhilfeempfänger gilt sie nicht. Arbeitslose dürfen zwar für drei Monate einreisen mit der Möglichkeit einer dreimonatigen Verlängerung. Einen Anspruch auf Arbeitslosengelder oder Sozialhilfeleistungen haben sie aber nicht. Ersteres haben Arbeitslose nur, wenn sie zuvor die minimalen Anforderungen erfüllt haben (Schweiz: Beiträge ein Jahr bezahlt).» Was ist hier alles nur halb richtig?
Wäre ein gültiger Arbeitsvertrag eine dermassen gute Garantie, dass ein Einwanderer nie auf dem Sozialamt landet, könnte die Schweiz bedenkenlos auch mit Russland oder Afrika die Personenfreizügigkeit einführen. Zudem fragt man sich, wie die Schweizer Behörden überprüfen, ob ein eingereister Arbeitsloser nach sechs Monaten das Land wirklich wieder verlassen hat. Mit dem Beitritt zum Schengener Abkommen hat die Schweiz ihre Grenzkontrollen abgeschafft.
Risiko Sozialstaat
Der entscheidende Punkt ist aber nicht der mögliche Missbrauch, sondern der legitime Gebrauch der Sozialversicherungen. Economiesuisse verschweigt, dass die Schweiz mit der EU ihre Sozialversicherungen «koordiniert» hat, was als Errungenschaft gilt. Die Folge ist, dass zum Beispiel Beiträge, die ein deutscher Arbeitnehmer an die deutsche Arbeitslosenversicherung bezahlt hat, hier angerechnet werden. Ein deutscher Arbeiter muss nicht mindestens ein Jahr lang Beiträge an die schweizerische Arbeitslosenversicherung geleistet haben, um daraus Leistungen zu erhalten, sondern bloss einen Tag. Wenn er zuvor in seiner Heimat innerhalb von zwei Jahren 364 Tage lang erwerbstätig gewesen ist und ihm daher Beiträge vom Lohn abgezogen worden sind, hat er in der Schweiz schon nach einem einzigen Tag Anspruch auf Arbeitslosengeld. Das gilt für alle EU-Bürger.
Nun ist das ein Extremfall, aber den wenigsten Stimmbürgern dürfte bewusst sein, dass jeder Einwanderer praktisch von Beginn weg an unsere Sozialwerke angeschlossen wird. Wer invalid wird, muss neuerdings drei Jahre in die IV einbezahlt haben, um eine Rente zu erhalten. Einwanderer aus der EU müssen bloss ein Jahr Beiträge an die IV abgeführt haben, wenn sie zwei Jahre zuvor in ihrer Heimat ähnliche Zahlungen geleistet haben.
Die Personenfreizügigkeit wird die schweizerischen Sozialversicherungen wahrscheinlich belasten. Die Frage ist bloss, um wie viel. Vielleicht können wir uns das leisten, falls sie das Wirtschaftswachstum so ankurbelt, wie das alle hoffen. Besser wäre es, gleichzeitig den Sozialstaat zurückzufahren. Merkwürdig ist, dass die Linke vor dieser Entwicklung keine Angst zu haben scheint.
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