von Jürgen Elsässer*
In Abwandlung eines Bonmots könnte man sagen: Die Schweizer sind von der Venus, und die Resteuropäer sind vom Mars. Venus, der Planet der Liebe. Das bringt mich zu der Anekdote einer Schweizer Juristin, die sagte, wir in der Schweiz, wir haben auch Konflikte. Und dann erinnerte sie an den letzten grossen Konflikt, nämlich den Sonderbundskrieg achtzehnhundertirgendetwas mit hundert Toten. Ja also, denkt ein Resteuropäer wie ich, was ist das für eine schöne Welt, diese Schweiz! Auf diesen Stern möchte man gerne übersiedeln.
Partyhauptstadt Berlin
Ich kann jetzt nicht aus der Schweiz berichten, sondern ich berichte aus dem Imperium. Vielleicht nicht gerade aus dem Herzen der Bestie, wie Che Guevara gesagt hat, sondern eher aus dem Enddarm des Imperiums, nämlich aus Berlin, der Partyhauptstadt Europas, wie unser regierender Bürgermeister sagt, der für die Stadt gerne wirbt mit dem Slogan «arm, aber sexy». Dieses Berlin ist tatsächlich eines der grossen Laboratorien der neuen Weltordnung, wo das hergestellt wird, was man mit Mühe als den neuen Menschen bezeichnen könnte. Denn was in Berlin live zu besichtigen ist, ist das Kollabieren der Gesellschaft und der Verlust von Menschlichkeit in der Gesellschaft. Demgegenüber ist die Schweiz eine intakte Gesellschaft mit gegenseitigem Respekt und mit Gefühlen und mit Begegnungen auf Augenhöhe. Berlin aber ist ein Sumpf, in dem die Menschlichkeit versinkt. Dass sich das in Berlin so entwickelte, hat auch historische Ursachen. Berlin ist als Stadt viel zu schnell gewachsen. Andere Hauptstädte in Europa haben Jahrhunderte zum Wachsen gehabt. Berlin wurde von der Bismarckzeit in das imperialistische Zeitalter geschleudert, und ist dann in kürzester Zeit zur Hauptstadt des nazistischen Schreckens geworden, und all das hat natürlich eine bestimmte Mentalität ausgebildet, schon lange vor Beginn der neuen Weltordnung. Sie kennen vielleicht den Witz, er stammt noch aus diesen früheren Zeiten: ein Berliner in Wien. Ein Berliner in Wien sucht das Riesenrad und fragt auf der Strasse einen Einheimischen ziemlich barsch und ohne Anrede: «Wo ist denn hier der Prater?» Der Wiener entgegnet: «Geh schauns’, könnens’ net a bisserl höflicher sein?» Und der Berliner sagt: «Lieber verloof ick mir!» Also das ist die Berliner Mentalität, schon von alters her. Die freundlichsten, höflichsten Leute in Berlin sind die Türken, vielleicht nicht alle, aber zumindest wenn man in türkische Geschäfte geht. Aber der normale Berliner, die typische Berliner Schnauze macht einfach alles nieder, im Mund ist ein Maschinengewehr. Und diese vorgefundene ruppige Mentalität, die schon immer da war, kommt jetzt in den massenpsychologischen Sog der neuen Weltordnung. Und dieser Sog ist die Hyper-Individualisierung. Partyhauptstadt des Kontinents. In Berlin wird ja nicht mehr gearbeitet. In Berlin gibt’s keine Industrie mehr. Die Haupteinnahmequelle von Berlin ist die Partyindustrie. Das heisst, über Easy-Jet und ähnliche Vereinigungen fliegt die vergnügungssüchtige Jugend aus Spanien oder auch aus Griechenland für eine Nacht oder ein Wochenende nach Berlin ein und feiert durch die Clubs durch und hinterlässt eine Spur der Verwüstung in der Stadt. Das ist eine der Haupteinnahmequellen von Berlin. Die ganze Ideologie, die die Stadt prägt, ist die Fetischisierung des entfesselten Individuums. Dagegen wird jede Form von Kollektivität oder Mitmenschlichkeit der Verachtung preisgegeben. Es beginnt bei der Familie. Familie ist eine Zwangsanstalt, Familie ist «out». Familie ist die Keimzelle des Faschismus. Es geht weiter über die Vereine, die Schützenvereine, da wird der Amoklauf ausgebrütet. Stammtische sind sowieso faschistoide Männerbündeleien. Die Kirche und die Religion: ganz schlimm, natürlich Hexenverfolgung, Inquisition, das weiss man ja. Und Nation oder Volk? Da gilt: Nation, Nationalismus, Faschismus, das ist eine Gleichung, die kann auch der Pisa-Gebildete in Berlin schnell aufzählen. Alle diese Formen von Kollektivität werden verächtlich gemacht oder unter Faschismusverdacht gestellt. Auf dieser Folie erstrahlt dann das Individuum, das sich in jeder Form selbst verwirklichen muss. Der Fluchtpunkt dieser Entwicklung ist, dass der Einzelne als Atom isoliert dem totalen Markt gegenübersteht. Weil alle Formen von Vergesellschaftung oder von Vergemeinschaftung kaputt sind. Und als Partner des isolierten Individuums bleibt nur noch der Computer, das Internet. Von dort beziehst du Unterhaltung, von dort beziehst du Sexualität, von dort beziehst du Information. Und auf der andern Seite des Bildschirms ist Big Brother und gibt dir alles, was du brauchst.
Huxleys «Schöne neue Welt»
Diese Entwicklung hat ganz gut dargestellt, schon vor siebzig oder achtzig Jahren, glaube ich, Aldous Huxley in dem Buch «Schöne neue Welt». Und das habe ich wiederum in meinem eigenen Buch «Nationalstaat und Globalisierung» verwendet und eingeordnet. Darin schrieb ich über Huxleys «Schöne neue Welt»: «Die neue Ordnung brachte den Frieden. Abschaffung des Parlamentarismus und der Demokratie, Einführung der genetischen Menschenzucht, Triebnormierung durch Schlafhypnose, Luxus und Wohlstand für die herrschenden Alphas und Betas, Vollbeschäftigung und Zufriedenheit für die schuftenden Deltas und Epsilons, freie Sexualität, gefühlsechte Filme und tröstendes Soma-Ecstasy für alle. Wer alt wird, stirbt den sanften Tod durch Euthanasie.» Huxley wörtlich: «Die Welt ist jetzt im Gleichgewicht. Die Menschen sind glücklich. Sie kriegen, was sie begehren, und begehren nichts, was sie nicht kriegen können. Es geht ihnen gut. Sie sind geborgen, immer gesund, haben keine Angst vor dem Tod. Leidenschaft und Alter sind diesen Glücklichen unbekannt. Sie sind nicht mehr mit Müttern und Vätern behaftet, haben weder Weib noch Kind noch Geliebte, für die sie die heftigen Gefühle hegen könnten. Und ihre ganze Normung ist so, dass sie sich kaum anders benehmen können, als sie sollen.»Soweit die «Schöne neue Welt» in der Vorausschau von Aldous Huxley. Wie es dazu kam, zu dieser «Schönen neuen Welt»? Die Welt wurde vorher durch eine heftige Weltwirtschaftskrise erschüttert, mit Terroranschlägen durch Milzbranderreger und einem nachfolgenden neunjährigen Krieg. Huxley schreibt: «Der Neunjährige Krieg, der grosse Wirtschaftszusammenbruch, es gab nur die Wahl zwischen Weltaufsicht und Vernichtung. Der Liberalismus war durch Milzbrandterror umgebracht.» Das heisst: In Huxleys Anti-Utopie ist die Weltaufsicht, also die Weltregierung, die Vorstufe zu dieser allgemeinen Menschennormierung. Und diese Weltaufsicht, diese Weltregierung bedeutet natürlich die vorherige Zerstörung der Nationalstaaten und Republiken. Das ist ein ganz wichtiger Punkt, wenn wir über die Zerstörung von Mitmenschlichkeit, von Formen der Gemeinschaftlichkeit oder Vergesellschaftung reden: Hauptangriffspunkt der Protagonisten der neuen Weltordnung ist der Nationalstaat, weil der Nationalstaat den institutionellen Rahmen für die kleineren Formen von Mitmenschlichkeit bietet. Der Nationalstaat schützt die Familie, fördert die Ehe und die Familie. Der Nationalstaat sorgt dafür, dass es Volksbildung gibt, dass die Schüler aus allen Klassen und Schichten gemeinsam wenigstens einige Jahre unterrichtet werden, dass die Sprache gepflegt wird, dass eine bestimmte Form von Sexualität gefördert wird. So fördert der Nationalstaat eine Entwicklung, in der der Mensch nicht allein ist, sondern wo wir uns im Austausch, und nur so entstehen ja menschliche Fähigkeiten und menschliche Emotionen, entwickeln können. Aber dieser Nationalstaat ist gefährdet auf der ganzen Welt, vor allem seit dem 11. September 2001, seit ein Terroranschlag wie bei Huxley – nicht durch Milzbrand, aber durch andere terroristische Mittel – die Welt erschüttert hat. Und wir haben jetzt die Weltwirtschaftskrise, und wir haben jetzt die Diskussion, ob man nicht diese ganzen kleinen Republiken mit ihren ganzen Nationalismen und Atavismen abschaffen müsste, abschaffen zugunsten einer Beaufsichtigung, die die Grossen in «Good Gouvernance» anstelle von uns Bürgern ausüben.
Fugger, Tod und Teufel
Der Motor dieser Entwicklung ist das internationale Finanzkapital. Wenn ich heute mit Leuten diskutiere, und wenn ich sage, ich befürchte, dass sich in der Europäischen Union eine Art «viertes Reich» herausbildet, und die Leute schütteln ungläubig den Kopf und sagen: «Du denkst doch nicht, dass so etwas wie das ‹Dritte Reich› wiederkommt»? – Dann antworte ich: «Ich denke bei diesem Begriff ‹viertes Reich› gar nicht an das ‹dritte Reich›, sondern an das erste, das mittelalterliche Deutsche Reich. »Was wir im Augenblick erleben, ist ein Rückfall ins Mittelalter. Das ursprüngliche deutsche Reich, das sogenannte «Heilige Römische Reich», war nicht wie bei den Nazis eine gleichgeschaltete zentralisierte Macht, innerhalb derer vom Atlantik bis zum Ural die SS geherrscht hat. So war es im «Dritten Reich». Im Unterschied dazu war das erste Reich, das «Heilige Römische Reich», ein ganz amorphes Gebilde, es reichte von der Ostsee bis runter nach Sizilien, in seinen Hochphasen jedenfalls, war aber keineswegs vereinheitlicht, es gab keine gemeinsame Hauptstadt. Man kann auch nicht von einem Reich «Deutscher Nation» sprechen, denn eigentlich war es ein Vielvölkerstaat, es war im Grunde zerrissen zwischen verschiedenen Stämmen, die verschiedene Sprachen gesprochen haben, verschiedene Dynastien, und im Innern haben die Machtverhältnisse und die Frontverläufe ständig fluktuiert. Das erste Reich hat am Anfang nicht so schlecht funktioniert. Also zehntes, elftes, zwölftes, vielleicht noch dreizehntes Jahrhundert gab es eine gewisse Fortentwicklung, und man spricht sogar vom goldenen Mittelalter. Aber diese Struktur kommt in die Krise etwa fünfzehntes, sechzehntes Jahrhundert mit dem Aufkommen des Finanzkapitals. Da gerät alles ausser Kontrolle. Das Finanzkapital im «Heiligen Römischen Reich» zentriert sich rund um den Konzern der Fugger. Die Fugger, ursprünglich aus Augsburg, ursprünglich Textilmanufaktur, Textilhändler, Textilproduzenten, schaffen es mit Hilfe der Handelsgrossmacht Venedig und mit guten Beziehungen zum Vatikan, zu einem Finanztrust aufzusteigen. Der erste Schritt war die Kolonisierung Tirols, die Okkupation der Tiroler Bodenschätze, Edelmetalle, und dann geht’s weiter Richtung Ungarn. Und diese Bodenschätze werden von den Fuggern genützt, um ein Münzmonopol zu errichten und um Währungspolitik zu machen und um auf dieser Grundlage die deutschen Kaiser zu kreditieren. Die Kaiser in dieser Zeit, vor allem Maximilian I. und Karl V., kamen ins Amt ausschliesslich durch die milliardenschwere Unterstützung aus dem Hause Fugger. Die Fugger haben sich die Kaiser gekauft. Und dann beginnt die Expansion des Deutschen Reiches, das damals von den Habsburgern regiert wird, Richtung Spanien. Und es entsteht über Heiratspolitik die Linie Habsburg–Spanien. Und der Kreditbedarf oder der Rückzahlungsbedarf der Kredite an die Fugger zwingt die Kaiser dazu, auf den andern Kontinent zu gehen, nach Südamerika. Das ist dann der Moment, in dem der deutsche Kaiser sagt: «In meinem Reich wird die Sonne niemals untergehen.» In der Folge beginnt eines der schrecklichsten Kapitel der Menschheit, nämlich die Ausplünderung Lateinamerikas. Verantwortlich für die Blutsäuferei sind die Spanier, hören wir immer. Aber dahinter stehen die Fugger. Denn die Spanier müssen das Geld besorgen für die habsburgischen Kaiser, damit die habsburgischen Kaiser die Fugger auszahlen können. Das heisst, die Triebfeder dieser Expansion ist die Machtergreifung des Finanzkapitals im damaligen Römischen Reich.
Piraten und Eidgenossen
Letzten Endes gehen auch die Glaubensspaltung und die Glaubenskriege auf diese Entwicklung zurück. Denn was löst denn die Glaubensspaltung aus, was ist denn der Impuls für Luther? Es gab vorher schon andere Reformatoren, die weniger Erfolg hatten. Aber was Luther die Anhänger in Scharen zugetrieben hat, war die Empörung der kleinen Leute über die Ablasspraxis: Der vom Papst gesandte Tetzel zog durch die Städte und verkaufte Ablassbriefe, durch die die Leute sich von ihren Sünden sozusagen für die Ewigkeit freikaufen konnten, indem sie Geld gaben für den Papst. Aber wer hat es organisiert? Das war die Investment-Bank Fugger. Das war die geniale Geschäftsidee der Fugger. Und diese Geschäftsidee hat das Land, das Reich in Aufruhr versetzt. Und hat zu den Religionskriegen mit beigetragen. Zurück zur Ausplünderung Südamerikas, zum Abschlachten der Inkas und Azteken: Das erbeutete Gold wurde nach Spanien gebracht. Dann greift aber ein neuer Rivale in das Spiel ein, die aufsteigende Seemacht England. Die Engländer überfallen nämlich die spanischen Corvetten voller Gold. Wir sehen heute in den Kinos Filme wie «Piraten der Karibik» mit Johnny Depp und denken, das sind Abenteuergeschichten mit wilden Gesellen. Diese Piraten waren jedoch keine Kleinkriminellen, sondern es waren Instrumente englischer Grossmachtpolitik. Sir Francis Drake, der Pirat Ihrer Majestät, hat im Auftrag der Krone und ohne Wissen des britischen Parlaments spanische Schiffe überfallen. Das Gold, das eigentlich die Fugger haben wollten, landete auf diese Weise schliesslich in England, in London. In diesem Prozess bricht das spanische Weltreich zusammen, und es bricht das Imperium der Fugger zusammen, und es beginnt der Aufstieg der neuen Weltmacht England, später Grossbritannien. Das erste, was diese neue Macht macht, mit ihrem Kapital, ihrem gekaperten Gold, ist eine Ausdehnung des Geschäftsbereichs: Es werden mehr Schiffe ausgerüstet, und dann wird das Business auf eine neue Grundlage gestellt, nicht mehr so primitiv wie bei den Spaniern, vielmehr wird eingestiegen in den Sklavenhandel. Sklaven in grosser Zahl werden in Afrika eingekauft, auf Schiffe verschleppt und nach Südamerika gebracht in die Kolonien – zum Wohle Englands und mit riesigen Profiten. Und in dieser Zeit, da wir den Widerspruch haben, einerseits die Habsburger plus die Spanier plus den Vatikan, die katholischen Mächte, und andererseits die neue aufsteigende Macht England beziehungsweise Grossbritannien, in dieser Zeit finden die schrecklichsten Kriege in Europa statt, nämlich die Religionskriege. Der 30jährige Krieg in Deutschland, der ein Drittel der Bevölkerung auslöscht; die Kriege, die in England die anglikanischen Könige gegen die katholischen Schotten und Iren führen; die ewigen Feldzüge in Frankreich. Das alles waren, nur oberflächlich betrachtet, Religionskriege, dahinter steckten jedoch die rivalisierenden Kräfte des Finanzkapitals. In dieser blutigen Zeit, da aus dem goldenen Mittelalter das schwarze Mittelalter wird, in dieser Zeit erkämpft die Eidgenossenschaft ihre Selbständigkeit und begründet eine demokratische Republik. Das ist ein historischer Schritt. Und was wir im Augenblick erleben, ist der Versuch, diesen historischen Schritt rückgängig zu machen. Ein Rückfall ins Mittelalter, um den ganzen Kontinent wieder der Macht des Finanzkapitals, das imperial strukturiert ist, zu unterwerfen. Das Besondere an der damaligen Zeit besteht darin, dass das deutsche Reich insgesamt auseinanderfällt, denn die Schweiz ist nicht die einzige Sezession, auch die Niederlande, die unter spanisch-habsburgischer Herrschaft stehen, werden selbständig. Aber die spanischen Niederlande werden selbständig und stürzen sich dann gleich selbst in den Imperialismus. Nur der Schweiz gelingt es, den Feudalismus abzuschütteln, ohne gleich selbst kolonialistisch oder imperialistisch zu werden. Das ist eine so einzigartige Entwicklung, dass sie noch viel stärker gewürdigt werden müsste.
Die Monsterbanken
Das Resultat dieser Geschichte – Fugger, Karl V., Südamerikas Gold, Sir Francis Drake – ist: Das Gold der Inkas und Azteken ist in London, und auf der Grundlage dieses Goldes gründet sich in London die Bank of England. Dies ist der Prototyp eines sehr gefährlichen Bankentyps, den es noch heute gibt, nämlich einer Nationalbank, die Privatleuten gehört, die aber als Staatsbank fungiert und dem Staat Geld leiht. Das heisst, der Staat muss immer zu dieser Bank of England, zu dieser Privatbank, gehen und sich Geld leihen und steht dann immer in der Kreide bei diesen Privatleuten, die diese Privatbank mit dem schönen Namen Bank of England besitzen. Genau nach demselben Muster – nominell Nationalbank, faktisch aber Privatbank – wurde am Vorabend des Ersten Weltkrieges die US-Notenbank Federal Reserve gegründet. Und diese beiden, Bank of England und Fed, sind bis heute die Institutionen, die sich eines ganzen monetären Systems bemächtigt haben und auf dieser Grundlage in der Lage sind, Geld ohne Kontrolle zu erzeugen und zu verleihen. Ich könnte jetzt stundenlang einen Vortrag halten über die Entwicklung des Finanzkapitals. Aber man schreibt ja auch Bücher.** Deswegen will ich nur das Ende der Geschichte erzählen. Das Ende der Geschichte sehen wir nach dem 11. September 2001, als die Federal Reserve dazu übergegangen ist, die Geldmenge ins Gigantische aufzublähen. Sie hat in den USA nach dem 11. September 2001 bis zum Jahr 2005 mehr zusätzliche Dollars in Umlauf gebracht, als während der gesamten amerikanischen Wirtschaftsgeschichte in den 200 Jahren zuvor. Nur bis zum Jahr 2005 – dann wurde die Veröffentlichung der Geldmengenentwicklung durch die Bush-Regierung gestoppt. In den letzten 15 Monaten, so nicht offizielle Berechnungen, stiegen in den USA die Schulden von Privathaushalten, Firmen, Privatbanken plus Staat – also die Gesamtschulden aller Wirtschaftszweige – von ungefähr 50 Billionen auf 60 Billionen US-Dollar. Und wenn ich Billionen sage, meine ich nicht «billions», sondern ich meine Billionen in unserem Sprachgebrauch. Also, wir haben eine amerikanische Gesamtverschuldung von 60 Billionen Dollar, davon sind allein 10 Billionen Dollar in den letzten 15 Monaten dazugekommen. 60 Billionen Dollar sind 60 000 Milliarden Dollar. Diese Schulden wurden beglichen mit Papiergeld oder elektronischem Geld ohne jedes stoffliche Äquivalent, geschaffen von diesen Privatbanken-Monstern. Eigentlich ist die Geldvermehrung so inflationär, dass man sich wundern muss, dass dieses Geld, der Dollar, überhaupt noch von irgend jemand als Zahlungsmittel akzeptiert wird. Was verrückt scheint, hat einen plausiblen Grund: Die US-Regierung kann, anders als die Regierung jedes anderen Schuldnerstaates, den Dollar-Anlegern versprechen, jedermann jederzeit und an jedem Ort mit militärischer Gewalt zu zwingen, die an sich wertlosen Dollar-nominierten Papierschnipsel in Waren einzutauschen. Dass sie ein Land wie Irak, wo die zweitgrössten Ölvorkommen weltweit vermutet werden, unter ihre Kontrolle bekam, verschaffte ihr an den internationalen Kreditmärkten Bonität. Je instabiler umgekehrt die Lage in Bagdad wird, um so nervöser reagieren die Dollar-Gläubiger. Je tiefer die USA in die roten Zahlen versinken und je offensichtlicher der Papiergeld-Schwindel wird, um so verzweifelter müssen die USA versuchen, ihre ökonomischen Nachteile durch militärische Erfolge wettzumachen. Und um so mehr wächst die Tendenz, die Nationalstaaten, die es noch gibt und die intakt sind, wie etwa die Schweiz, aufzubrechen, um dort die letzten Ressourcen herauszusaugen und in diesen Schuldenkreislauf zu schleudern, um dort die Löcher zu stopfen. Das heisst, je defizitärer dieser Kreislauf wird, je gieriger das Finanzkapital agiert, desto stärker wird die Tendenz zum Krieg und um so mehr müssen wir einen Rückfall ins Mittelalter befürchten.
•* Vortrag, gehalten am Kongress «Mut zur Ethik» mit dem Thema «Volkssouveränität oder Imperialmismus – Was ist wahre Demokratie?», 4.−6. September 2009 in Feldkirch/Vorarlberg** Der Vortrag ist durch die aktuellen Bücher des Referenten inspiriert: Jürgen Elsässer (Hrsg.), «Gegen Finanzdiktatur. Die Volksinitiative − Grundsätze, Konzepte, Ziele» (Verlag Kai Homilius, Juli 2009)
Jürgen Elsässer, «Nationalstaat und Globalisierung» (Verlag Manuscriptum, April 2009)
Donnerstag, 8. Oktober 2009
Vom Heiligen Römischen Reich zur "schönen neuen Weltordnung"
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